thesen:
– wir haben keinen begriff „kunst“, der von der ganzen gesellschaft geteilt wird.
– „freie kunst“ soll sich heute in „freie kreativität“ verwandeln, die „von allen gemacht wird, nicht von einem“ (postulat von lautréamont, 1870).
– freie kreativität „von allen“ muss angeregt werden.
– „kunst“ soll sich heute zu einem spezialisierten beruf umformen, der der gesellschaftlichen forschung dient; sie soll eine erweiterte anthropologie, eine menschenforschung darstellen, die sich mit dem ganzen menschen befasst.
– die resultate dieser forschung nenne ich „kunstforschung“.
– die kunstforschung bedingt ein spezialstudium, das nicht alle auf sich nehmen und das etliche jahre andauert; sie ist elitär, d. h. nicht für jeden zugänglich, wie jede wissenschaftliche forschung in diesem system; sie hat sich vor dem dienst an den machthabenden zu hüten.
– kreativ ist bloss, was allen nützt.
– kunst-forschung bedingt eine methodik, die ihr eigen ist; sie kann sich nicht der naturwissenschaftlichen methodik bedienen, sich jedoch von ihr anregen lassen.
– diese methodik ist in den nächsten jahrzehnten zu erarbeiten.
– das studium der kunst-forschung setzt, analog dem studium der psychologie, eine zeit der selbsterfahrung voraus; parallel dazu muss ein prozess der kritischen gesellschaftserfahrung vonstatten gehen.
– die widersprüche zwischen individuum und gesellschaft müssen in dieser zeit erkannt und ausgesprochen werden; ein kritisches verständnis dieser widersprüche muss erarbeitet werden.
– der prozess der selbsterfahrung ist die grundlage jeder forscherischen sicherheit, der, parallel zur eigentlichen forschungsarbeit, als lernvorgang permanent geübt werden muss; gruppenerfahrung ist in diesem prozess notwendig, psychotherapie vielleicht empfehlenswert.
– selbsterfahrung kann nur in einem klima der freiheit geschehen; sie hat mit anti-angst, spiel, nicht mit ritual, zu tun.
– ein solches klima herzustellen, ist aufgabe jeder schule, die sich mit zukünftiger kunstforschung befasst; die f+f versucht, diese bedingungen zu erfüllen.
– wenn es der f+f nicht gelingt, kunst-forschung im eigentlichen sinne zu betreiben, so liegt es an mangelnden erfahrungen und an widerständen, die im moment gesellschaftlich dieser forschung entgegenstehen.
– der kampf um anerkennung der gesellschaftlichen nützlichkeit einer kunst-forschung kann lange dauern; er mag verglichen werden mit dem kampf, den die psychologie vor rund hundert jahren ausfechten musste, um schliesslich als wissenschaft anerkannt zu werden.
Serge Stauffer legte seine Thesen im Herbst 1976 der Broschüre zur Ausstellung der damaligen F+F Schule für experimentelle Gestaltung Zürich (heute F+F Schule für Kunst und Mediendesign) im Kunsthaus Zürich bei, woraus sie hier entnommen sind. 31 Merkblätter zu „kunst als forschung“ verfasste er danach 1976/77 für den Unterricht an der F+F. Bis Ende 1977 ergänzte Stauffer den Text und publizierte ihn 1981 in Genie gibt’s – Die siebziger Jahre an der F&F Schule für experimentelle Gestaltung (hg. von Gerhard Johann Lischka und Hansjörg Mattmüller, Frankfurt am Main: Betzel Verlag, 1981, S. 61–93). Zur Einführung schrieb er: diese „thesen“ […] mögen als grundlage dienen für eine detaillierte untersuchung des themas „kunst als forschung“, die nachzuweisen versucht, in welchem ausmass diese „forschung“ bereits seit jahrzehnten existiert, bloss als solche nicht offen deklariert wurde. diese erste untersuchung mag deshalb fehler enthalten – sie ist eine vorstufe zu kommenden genaueren untersuchungen, die getan werden müssen, um die „kunst“ aus dem ghetto des neuheits-betonten, copyright-süchtigen, narzisstischen, sich-selbst-ausdrückenden, der-gesellschaft-in-kunst-am-bau-dienenden zustandes zu befreien, die gesellschaft vom druck des „kunst-als-könnens“ zu lösen, die kreativität von jedem anzuregen, unbelastet, ob es „kunst“ ist oder nicht. (S. 61)
Zusammen mit verschiedenen anderen Texten von Serge Stauffer wurde dieser Aufsatz in Serge Stauffer: Kunst als Forschung – Essays, Gespräche, Übersetzungen, Studien (Hg. Helmhaus Zürich, Zürich: Scheidegger & Spiess, 2013) wieder publiziert. Die Ausstellung im Helmhaus Zürich wurde von Michael Hiltbrunner kuratiert.
Textnachweis: Archiv Serge und Doris Stauffer, Graphische Sammlung der Schweizerischen Nationalbibliothek, Bern. Der Abdruck des Textes geschieht mit freundlicher Genehmigung der Erben von Serge Stauffer.
[Dieser Text findet sich im Reader Nr. 1 auf S. 546.]