In der Krise wird gerne das Reale beschworen, das vermeintlich Feste und Solide, Anker im Strudel des medialen Wandels, Insel im reißenden Strom der Virtualisierung. So imaginiert Thomas Assheuer gegen Ende seines ZEIT-Essays zum »Tod des Autors« (Nr. 19/12) die chinesischen Arbeitssklaven in den Fabrikhöllen von Apple und Co. als Realität hinter dem Schein der Gadgets, und er deutet an, dass auch der westeuropäische Kreative, »Subjekt als Fleisch und Blut«, noch ein »zweites Leben«, »eine Existenz in der analogen und leibhaftigen Wirklichkeit« führe. Sobald er nur das Netz verlasse, »den täuschenden Schein des Egalitären und die Gleichheit der User«, betrete er das Reale.
Dort, im Realen, wähnt sich offenbar auch jene Gruppe von UrheberInnen, die mit einem Aufruf gegen den »Diebstahl geistigen Eigentums« für eine Verschärfung des Urheberrechts als »historischer Errungenschaft bürgerlicher Freiheit« eintritt – vor allem mit Blick auf Digitalisierung und Internet. Während der kurze Aufruftext in Sachen Urheberrecht erstaunlich im Unklaren bleibt, ist der Hinweis auf die bürgerliche Freiheit prägnant und aussagekräftig. Denn hier sieht sich eine Gruppe in ihrer Freiheit bedroht, einer Freiheit, die in der bürgerlichen Gesellschaft traditionell einer kleinen Zahl »geistig« Arbeitender zugestanden wurde. Diese Freiheit ist in der Tat infrage gestellt, aber nicht durch eine Krise des Urheberrechts oder gar durch eine unübersehbare Masse räuberischer KonsumentInnen, sondern weil das Kognitive, die Produktion von Wissen zur zentralen Ressource des Kapitalismus der Gegenwart geworden ist.
Was sich in Thomas Assheuers Analogieführung zwischen chinesischen Arbeitssklaven und Kreativen andeutet, sind zunächst neue Ungleichheiten der Arbeitsteilung im kognitiven Kapitalismus. Die Domäne des Kognitiven ist heute nicht mehr nur die privilegierte Erfahrung eines Häufleins von »Geistigen« – immaterielle, affektive und künstlerische Arbeit rückt vielmehr ins Zentrum der Verwertung und Ausbeutung. Während die Drecksarbeit und ihre Fabriken zunehmend in die Peripherien ausgelagert werden, setzt sich auch in den globalen Metropolen die Prekarisierung von Wissens- und Kulturarbeit durch. In den diffusen Fabriken des Wissens schuften die Kreativen, ihr Intellekt wird zerstreut und zugleich zur Kooperation angeregt. In diesem Setting gerinnen Kreativität und Wissen zur Ware, die wie materielle Waren gefertigt, fabriziert und gehandelt wird.
Gleichzeitig entzieht sich die Wissensproduktion immer wieder der Warenform. Denn das Wissen durchquert uns, Individuen wie Kollektive. Geist als Eigentum ist die Erfindung einer Epoche, die das Urheber-Individuum in der Logik des bürgerlichen Subjekts als Lichtgestalt der Freiheit konstruiert hat. Heute, im kognitiven Kapitalismus, entsteht Wissen in der Kooperation. Außerhalb ihrer entsteht es nicht. Allerdings herrschen in diesem neuen Kapitalismus Verhältnisse, die an die Frühphase der industriellen Revolution erinnern: Der Ansturm der Kreativen auf die Wissensfabriken, zu denen unsere Metropolen geworden sind, erlaubt es, sie gegeneinander auszuspielen, ihre Löhne zu senken und ihnen überhöhte Lebenskosten im urbanen Raum aufzubürden.
Die Armutsfalle ist höchst real. Aber davon steht im Aufruf kein Wort. Vielmehr klingt im moralisierenden Insistieren der Urheber eine verzweifelte Pose der Spaltung durch: »Wir sind die Urheber« – und nicht ihr! Hier sorgt sich eine Gruppe um ihre soziale Position als AutorInnen, denen das Publikum stumm zu Füßen sitzt. Doch das Publikum ist schon lange aufgestanden.
In der neuesten Ausgabe der Wiener Zeitschrift Kulturrisse mit dem schönen Titelthema »Urheberrecht für alle« fragt sich Elisabeth Mayerhofer: »Warum prügeln Künstler_innen auf ihr potenzielles Publikum ein, anstatt die Verwerter_innen dazu zu bringen, ihre Inhalte in einer zeitgemäßen Form anzubieten?« Aus der anachronistischen Grenzziehung vonseiten des Wir der Urheber spricht die Empörung darüber, dass der Abstand zwischen Autor und Publikum kleiner geworden ist und dass sich eine Vielzahl neuer Rollen und Betätigungsfelder aufgetan hat, in der nicht mehr so einfach zwischen (hochwertiger) geistig-produktiver Arbeit und (niedrigwertiger) materiell-produktiver Arbeit unterschieden werden kann.
Das alles hat nichts mit dem Tod des Autors zu tun, sondern mit seiner Vervielfältigung. Tot war der Autor ja nie, er hatte sich nur einige Zeit diskursiv in den Netzen der Relationalität verfangen, die ihn aber immer wieder produzieren, so wie jeder Autor diese Netze mitproduziert. Und nun zeigt er sich also wieder, und zwar in doppelter Gestalt: einerseits – kaum verdeckt – als Instrument der Kulturindustrie. Dieses Überbleibsel klassisch-fordistischer Industrie braucht die Figur der bedrohten bürgerlichen Kultur und den emphatischen Urheberbegriff des Schöpfers als ideologischen Überbau, unter dessen Schutz einige wenige Spezialisten Massenware für die stummen Endverbraucher produzieren. Kampagnen wie Acta haben den Vorzug der Deutlichkeit, insofern sie die asymmetrische Allianz zwischen verdeckten Verwertungsinteressen und Öffentlichkeit generierenden Künstlerpersönlichkeiten klar ans Licht bringen.
Zum anderen erscheint »der Autor« allerdings auch als Vielheit, in der er nicht verschwindet, aber auch keinen Anspruch auf »Werkherrschaft« mehr stellen kann und will. Vielmehr geht es um flexible, nach vielen Seiten offene Austauschprozesse, die nicht von den alten oder neuen Verwertungsindustrien eingehegt sind. Die Äußerungen dieser Vielheit, das sind nicht nur die künstlerischen Produktionen in Remixes, Samples und Assemblagen, das sind die Äußerungen der heutigen AutorInnen in einem weiteren Sinn, auch und noch immer im Sinne des Urheberrechts, das sind die Äußerungen jeder twitternden Piratin und jedes bloggenden Volksschülers.
Deshalb stellt sich auch das Problem der Abspaltung des Realen vom Medialen nicht mehr in derselben Weise. Im kognitiven Kapitalismus geht es weniger denn je um eine Trennung zwischen »virtueller« Medialität und »realer« Sozialität. Mit den Social Media und den neuesten Gadgets der Bewusstseinsindustrie hat diese maschinische Sozialität längst ein Stadium erreicht, das Mensch-Maschine-Verhältnisse nicht mehr als Beziehung der Unterordnung beschreibbar macht. Real ist gerade das Anhängen an den Maschinen, das Begehren nach ihnen, schließlich auch die Abhängigkeit von ihnen. Nur vor dem Hintergrund dieses heute unhintergehbar gewordenen wechselseitigen Verhältnisses zwischen Mensch und Maschine lassen sich Wege finden, nicht vollständig dienstbar zu werden. Da gibt es keine Realität hinter dem »Schein« der Gadgets, kein »zweites Leben in der analogen und leibhaftigen Wirklichkeit«, genauso wie es keine Flucht gibt in das second life der virtuellen Netze.
Den Austausch in den Zwischenräumen neuer Medien und Maschinen zu verhindern und zu kriminalisieren ist weder erfolgversprechend noch eine adäquate Antwort auf die gegenwärtigen Herausforderungen. Verstellt wird dadurch lediglich der Blick auf die eigentlichen Fragen: Wenn es stimmt, dass Wissen in der Kooperation entsteht, was sind die heutigen Bedingungen der Kooperation? Wie können wir verhindern, dass diese von Akteuren wie Google oder Facebook diktiert werden, die ihre ganz eigenen Monopolstrategien verfolgen? Wie können wir die existenzielle Absicherung von Wissens- und Kulturarbeit auf weitere Kreise ausdehnen? Wie können wir eine horizontale Kommunikation forcieren, in der nicht mehr ein Urheber am Anfang steht, sondern in der Mitte und durch die Mitte Serien der Autorschaft, Verdichtungen, Wendungen und neue Kombinationen entstehen? Wie können wir einen transversalen Intellekt erfinden, in dem die Zahl und die Vielfalt der »Geistigen« und ihrer Austauschprozesse immer weiter vervielfältigt werden?
Wiederabdruck
Dieser Text erschien am 18. Mai 2012 auf Zeit online unter http://www.zeit.de/2012/21/Replik-Urheberrecht [8.9.2013].
[Dieser Text findet sich im Reader Nr. 1 auf S. 545.]