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Art Teaching als kritische Praxis

Sabine Gebhardt Fink, Jean-Pierre Grüter, Alexandra D´Incau, Peter Spillmann / 2014

Fragen nach Öffentlichkeit, politischer Relevanz und dem Umgang mit kultureller Differenz verbindet der Studiengang Master of Arts in Fine Arts Luzern programmatisch in seinen integrierten Schwerpunkten Art in Public Spheres und Art Teaching. Warum sollte dies sinnvoll sein? Was sind die konkreten Probleme, die daraus resultieren? Und was ist daran zukunftstauglich im Sinne von „What’s Next“?
Der Begriff „Public Spheres“ übersetzt in unserem Verständnis „Öffentlichkeit“ in Anlehnung an Jürgen Habermas (1962/1990). Habermas beschreibt folgende Effekte der Verschiebung von der Vorstellung einer „modernen“ Öffentlichkeit als gesellschaftliches Ganzes hin zu aktuellen Teilöffentlichkeiten:
„Die sozialstaatlichen Massendemokratien dürfen sich, ihrem normativen Selbstverständnis zufolge, nur solange in einer Kontinuität mit den Grundsätzen des liberalen Rechtsstaates sehen, wie sie das Gebot einer politisch fundierten Öffentlichkeit ernst nehmen. Dann muss aber gezeigt werden, […], dass das von Organisationen mediatisierte Publikum, durch diese hindurch, einen kritischen Prozess öffentlicher Kommunikation in Gang setzt.“1
Dieser kritische Prozess in einer nachmodernen und ausserhalb bürgerlicher Parameter situierten öffentlichen Kommunikation muss – aus unserer Sicht – aktuell auch von künstlerisch-kunstdidaktischen Praxen geleistet werden. Und zwar insbesondere von Praxen, welche politisch-ästhetische Strukturen und soziale Codierungen verstehbar und als Mechanismen begreifbar machen.2 Der Fokus derartiger Vorgehensweisen liegt auf Partizipation an und selbstermächtigtem Nutzungsverhalten in Institutionen und Staatsapparaten – also auf Strategien der Aneignung teil-öffentlicher Zonen und Abweichungen von hegemonialen Wissensdiskursen.
Wenn wir weiter davon ausgehen, dass „Public Sphere“ in der Realität des marktgesteuerten Wirtschafts- und des machtgesteuerten Verwaltungssystems kein „gesellschaftliches Ganzes“ mehr bedeutet, muss eine kunst-didaktische Ausbildung, die sich als kritische Praxis versteht, versuchen, kolonialisierende Übergriffe der Systemimperative auf lebensweltliche Bereiche „einzudämmen.“ 3

Was ist sinnvoll am „Learning from artistic practice“?
Nach diesem Grundsatz bilden die im Laufe der letzten Jahrzehnte im Bereich von Public Art von Künstler_in-nen erprobten Strategien einen wichtigen Ausgangspunkt der Kunstdidaktik, indem sie den bürgerlichen Öffentlichkeitsbegriff radikal in Frage stellen. Public Art formuliert weiter eine Skepsis gegenüber traditionellen Strukturen von Museen und Kunstmarkt. Ein weiterer Ausgangspunkt von Public Art ist ein politisches Engagement, das für viele Künstler_innen neben den traditionellen ästhetisch formalen Fragen, inhaltliche Anliegen und gesellschaftliche Themen ins Zentrum ihrer Praxis rücken. „Queer Reading“, Post-Colonial Studies und feministische Kunstpraxen stellen nur einige von vielen Strategien dar, die sich Künstler_in-nen anbieten. Störungen und Provokationen richten sich aktuell nicht gegen ein Kunstestablishment, sondern gegen das indifferente Bewusstsein einer „breiten Öffentlichkeit“ und gegen rechtspopulistische Strömungen.
Aktuell befassen sich künstlerische Positionen im -öffentlichen Raum mit institutionellen Machtverhältnissen, sozialen Strukturen und gesellschaftlichen -Repräsentationssystemen. In zahlreichen künstlerischen und künstlerisch-aktivistischen Projekten spielen deshalb Fragen der Vermittlung (wer wird wie adressiert?) und der Darstellung (welche Formen der -Repräsentation sind angemessen?) eine Schlüsselrolle.
Bezogen auf unsere Ausbildung bedeutet das, dass wir kunstpädagogische Positionen in Auseinandersetzung mit Positionen wie der „Ästhetischen Forschung“ nach Helga Kämpf-Jansen4 entwickeln. Interdiszipli-näres Denken, experimentelles Vorgehen, die Verflechtung von -Alltagserfahrungen mit Kunst und Wissenschaft zeigt -ästhetische Handlungsfelder und Methoden der Meinungs- und Willensbildung auf, die einer plu-ralistischen, multikulturellen Gesellschaft gerecht -werden.

Welche Probleme generiert diese Form der Kunstdidaktik?
Die in der Ausbildung entwickelten Unterrichtsprojekte sprengen häufig die fachlichen, räumlichen und zeitlichen Grenzen und Strukturen der Schulen. Denn die institutionellen Voraussetzungen innerhalb des Bildungssystems Schule sind in mehrerer Hinsicht restriktiv, insofern Lehrpläne grundsätzlich auf die Vermittlung von Techniken, Verfahren, Materialerfahrungen und Allgemeinwissen im Feld des Bildnerischen Gestaltens zielen. Diese Regulierungen stehen in engem Zusammenhang mit dem üblichen Zeitgefäss – der „Doppellektion“ – und erzeugen Konflikte zu Unterrichtsprojekten, bei denen aktuelle künstlerische Methoden der Partizipation, Selbstermächtigung und der kritischen Reflektion institutioneller Bedingungen einfliessen sollen, um die institutionellen Rahmenbedingungen und den Bildungsbegriff zu befragen.‘
Im Frühling 2013 realisierte Julie-Anne Gardo an der Kantonsschule Sarnen ein Unterrichtsprojekt mit einer vierten Klasse des Langzeitgymnasiums als Master–Abschlussprojekt.5 Thematisch ging es um das 1890 -erbaute Schulgebäude (Neurenaissance), welches architektonisch und historisch einen bestimmten bürgerlichen Bildungsbegriff illustriert. Es ist ein Ort, an dem die SuS sehr viel Zeit verbringen und der von vielen -Alltagserfahrungen geprägt ist.
Die Auseinandersetzung mit dem Gebäude, dessen -aktuellen Nutzungen im Format der Zeichnung, ein -Medium das Julie-Anne Gardo für ihre eigene künstlerische Tätigkeit einsetzt, führte dazu, dass Bildungsbegriffe und ihre Entwicklungen thematisierbar wurden. Die Arbeit mit historischem Hintergrundwissen führte bei den SuS auch zu einem differenzierteren Blick auf die vielen baulichen Details, die in unterschiedlichen Stilen die Veränderung aufzeigten – und auch veränderte Bildungsprinzipien repräsentieren. Daraus ent-wickelten sie ihre Eingriffe.
Das Medium Zeichnung diente als Mittel der Beobachtung, der Recherche, der visuellen Aneignung und differenzierten Auseinandersetzung mit den Formen der -bestehenden Architektur und schliesslich zum Entwerfen der Interventionen. Das Projekt sprengte in verschiedener Hinsicht den Rahmen konventioneller Unterrichts-projekte: Die SuS standen von Anfang an in einem zum grössten Teil selbstgesteuerten Prozess, während dessen die Art und Weise, wie Zeichnung eingesetzt wurde, die Themenfokussierung, der Entwurf von möglichen Eingriffen, die Wahl und die Umsetzung der Interventionen selbst bestimmt und als gestalterischer Prozess erlebt wurden. So wird der Kunstunterricht zu einer Methode kunstpädagogischen Handelns, die im Spannungsfeld von aktuellen künstlerischen Strategien, Alltagserfahrungen, wissenschaftlichen Methoden und Selbstreflexion liegt. Obwohl die Arbeiten während einer Vernissage einer breiteren Öffentlichkeit gezeigt wurden und für eine bestimmte Dauer im Schulhaus blieben, legte Julie-Anne Gardo grossen Wert darauf, den Werkcharakter der Arbeit nicht überzubewerten. Die Kunst-Lehrenden erleben sich gerade in partizipativen Projekten immer wieder auch als „Nicht-Expert_in-nen“ – aber kann und darf man im Schulunterricht (auch) scheitern, und (wie) kann die Lehrperson zu Selbst-ermächtigung ermutigen?

Was sind unsere darauf aufbauenden Zukunfts-visionen?
Die Auseinandersetzung zu möglichen Wechselwirkungen zwischen lokalen Ausstellungsinstitutionen, zeitgenössischer Kunsttheorie sowie Kunstpädagogik, eigener Praxis und Vorlieben von Gymnasiallehrer_innen analysierten Bernadett Settele und Alexandra D’Incau in ihrer Pilotstudie „Kunst im Lehrerzimmer – die Kunst und das Schulzimmer“ exemplarisch. Sie fragten: Was verraten materielle, visuelle Manifestationen in den Schulräumen des Bildnerischen Gestaltens über implizite Kunstbegriffe von BG-Lehrer_innen und (wie) nehmen sie Einfluss auf ihre fachdidaktischen Ansätze/Handlungen? Wie entwickeln sich die Kunstbegriffe von Lehrpersonen in und an der Schulpraxis weiter? Wie zeigt sich das häufig implizit bleibende Referenzsystem? Schulhausflure und Zeichensäle sind halböffentliche Orte, an denen Vermittlung stattfindet, die bis in die Gesellschaft hineinreicht. In und durch diese Räume und ihre Gestaltung wird das Kunst- und Kulturverständnis derjenigen, die in ihnen lernen, geprägt. Vermittelt über die Kunsthochschulen, über Museen und Ausstellungsinstitutionen tragen materielle und visuelle Aspekte sowie die persönlichen Auffassungen und Vorlieben der Lehrperson massgeblich zum Lernen und Tradieren von Kunst als Teil der Kultur bei. Dabei entstand ein Bildarchiv mit Übersichten, Zooms, Lehrer- vs. Schülerperspektive (Blickrichtung). In den Fokus rücken die Schulzimmer als Gesamtes, Bilder, Objekte, Poster, Werke von Schülerinnen und Schülern, didaktisches Anschauungsmaterial, Kritzeleien, Vitrinen mit Sammel- und Studienobjekten etc. Im Sinne der Kulturanalyse wurden „[…] Praktiken des Sehens, des Interpretierens, des Deutens oder auch des Zu-Verstehen-Gebens, der Gesten, der Rahmungen des Zeigens und Sehens in den Mittelpunkt“6 der Forschung gestellt. Biografisch-narrative (und in einem zweiten Schritt fotogestützte Interviews) mit Lehrpersonen ergänzten die Methodik. Dies in Fortschreibung von Unterrichtserfahrungen wie bei Julie-Anne Gardos Praktikum, mit dem Fokus, zukünftig der Handlungspraxis den notwendigen Reflexionsrahmen zur Seite stellen zu können.
Unser Ziel besteht in einer umfassenden Untersuchung, die Fragen der aktuellen Kunstpädagogik basierend auf einer Public Art Practice mit Gestaltungs- und Raum(planungs)fragen sowie der gesellschaftlichen Kontextualisierung der erforschten Phänomene verschränkt.
Die Auseinandersetzung mit Fragestellungen der „künstlerisch informierten“ Fachdidaktik trägt hoffentlich dazu bei, Lehrende und Lernende auf blinde Flecken innerhalb der Kunst und ihrer Pädagogik im Unterricht Bildnerisches Gestalten an Maturitätsschulen zu sensibilisieren und konstruktiv zur Disposition zu stellen. Unsere Lehrpraxis sowie die Umsetzungen der SuS fordert heraus, das Territorium und Refugium immer wieder neu unter die Lupe zu nehmen und Handlungsfelder neu abzustecken; dies erfordert kollektive Aktionen, konkrete Anwesende sowie partizipierende und mitbestimmende TeilnehmerInnen.7 Forschungsprojekte in diese Richtung (transkulturelle Pädagogik, interdisziplinäre Unterrichtsprojekte) sind in Bearbeitung.

1.) Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Frankfurt/M. 1990, S. 33.
2.) Pierre Bourdieu, Practical Reason, On the Theory of Action. Stanford 1989, S. 3.
3.) Vgl. Habermas 1990, S. 35–36.
4.) Helga Kämpf-Jansen, Ästhetische Forschung: Wege durch Alltag, Kunst und Wissenschaft. Zu einem innovativen Konzept ästhetischer Bildung. Marburg 2012.
5.) Katalog Manöver Sarnen, Abschlussausstellung Master of Arts in Fine Arts, Hochschule Luzern, Design & Kunst, Luzern 2013.
6.) Sigrid Schade und Silke Wenk, Studien zur visuellen Kultur. Bielefeld 2011, S. 9.
7.) Vgl. Habermas 1990, S. 43.

[Dieser Text findet sich im Reader Nr. 2 auf S. 103.]

[Es sind keine weiteren Materialien zu diesem Beitrag hinterlegt.]

Sabine Gebhardt Fink

(*1966), Prof. Dr. phil., Studium der Kunstwissenschaft, Theaterwissenschaft, Philosophie und Neueren Deutschen Literaturwissenschaft an den Universitäten München und Basel. Professur und Leitung Master of Arts in Fine Arts – Art in Public Spheres & Art Teaching Hochschule Luzern – Design & Kunst, Kuratorin und Autorin für Gegenwartskunst. Arbeitsschwerpunkte im Themenfeld: Performance Art, Ausstellungsdisplays, Kunstvermittlung. Aktuelle Projekte in Kooperation u. a. http://www.xcult.org/C/performancechronik (2014) http://www.master-kunst-luzern.ch/2014/03/camp3

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Jean-Pierre Grüter

(*1960), Ausbildung zum Kunstpädagogen an der Hochschule Luzern Design & Kunst, Master of Arts in Fine Arts (Major Photography) am Royal College of Art in London. Derzeit Dozent für Fachdidaktik und Kunstpädagogik an der Hochschule Luzern Design & Kunst mit den Arbeitsschwerpunkten: Prozessorientierte Kunstdidaktik und Medienpädagogik, Dozent für Fotografie und digitale Bildbearbeitung an der Hochschule Luzern Design & Kunst, freischaffender Fotograf mit den Arbeitsschwerpunkten Sozialdokumentarische Studien, Landschaft und Architektur.

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Alexandra D´Incau

(*1980), MA Fine Arts, Major Art Teaching an der Hochschule Luzern Design & Kunst, Designerin FH, Vertiefung Fotografie an der HGKZ (ZHdK). Künstlerische Assistenz und wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Hochschule Luzern Design & Kunst. Arbeitsschwerpunkte in Forschung und Lehre: Kunstpädagogik, Vermittlung, Diversity, Transkultur, kritische Bildpraxis und Internet: http://sweet-hippers.blogspot.ch. Mitglied des Künstlerkollektivs Antipro. http://www.antipro.ch

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Peter Spillmann

(*1961), Studium der Kunst an der F+F Schule für experimentelle Gestaltung in Zürich. Freischaffender Künstler und Kurator, Dozent an der Hochschule Luzern – Design & Kunst im Master of Arts in Fine Arts / Art in Public Spheres. Arbeitsschwerpunkte in Forschung und Kulturproduktion: künstlerische Strategien der Raumerkundung und des Mappings, kulturelle Effekte von Globalisierung, postkoloniale Perspektiven. Aktuelle Projekte u. a. http://www.transculturalmodernism.org (2012) oder http://mapping.postkolonial.net (2013).

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