Ein Künstler wird genauso wenig wie etwa ein Fußballspieler von sich behaupten, den Weltfrieden retten zu können, auch wenn Kultur und Sport beide eine große integrative Kraft in der Gesellschaft ausüben. Wie kann Kunst positiv wirken und welche Bedingungen sind hierfür nötig? Ein Kurator sucht in Afghanistan und Eritrea nach Antworten.
„Ist Kunst eine aktive Kraft, die weltweit politisch wirksam ist, die Konflikte mäßigt und friedlichen Beziehungen förderlich ist?“ Mit dieser Frage begann ein Artikel der „Neuen Zürcher Zeitung“ am 7. Juli 2012, der sich mit dem Teilprojekt der Documenta 13 in Afghanistan auseinandersetzte. Für das alle fünf Jahre stattfindende Kunstereignis in Kassel wurde ein ergänzender Schwerpunkt auf die afghanische Hauptstadt Kabul gesetzt, wo neben einer Ausstellung auch Symposien und Workshops stattfanden. Wir sind geneigt, die Frage des „NZZ“-Autors nach dem integrativen und befriedenden Potenzial der Kunst zu bejahen, denn wir möchten, dass die Kunst die Sprache der Freiheit spricht, und das sogar global.
In Deutschland wissen wir, wie bedeutsam die Kunst in der Aufarbeitung der eigenen Geschichte war. Die Auseinandersetzung mit unserer Avantgarde und mit der US-Nachkriegskunst auf internationalen Veranstaltungen wie der Biennale von Venedig und der Documenta Kassel war Teil der zivilgesellschaftlichen, bürgerlichen Transformation der faschistischen Vergangenheit in Deutschland.
Der Autor des Zeitungsartikels beantwortet seine rhetorische Frage hingegen ambivalent: Generell will er zwar der Kunst ihre positive Kraft nicht absprechen, im konkreten Fall des Documenta-Beitrags in Kabul jedoch hält er – und da ist er nicht alleine – den von der Documenta postulierten Anspruch für verfehlt, da die Kunstprojekte in Afghanistan selbst keine „nachhaltige“ Wirkung in der Bevölkerung erzielten. Zum anderen diene der Brückenschlag nach Kabul mehr der „Imagepflege“ für die Veranstaltung.
Angesichts solch kritischer Beleuchtung des Afghanistan-Projekts werden folgende grundsätzliche Fragen aufgeworfen:
Wie finden wir zu einer für alle Beteiligten verständlichen Definition eines Projekts in Konfliktregionen, in dem Kooperationen mit Künstlern gewollt sind? Wie erreichen wir einen Konsens für die unterschiedlichen Erwartungshaltungen sowohl zwischen den Kooperationspartnern als auch bei Dritten? Und schließlich: Was gilt es zu beachten, um für alle Beteiligten klare Zielsetzungen zu formulieren?
Eines ist auf jeden Fall klar: Bevor der Kunst eine mögliche Rolle innerhalb eines gesellschaftspolitischen Konflikts zugedacht wird, ist zu beachten, dass jeder politische Konflikt seine singuläre Entstehungsgeschichte mit einem spezifischen Verlauf hat. Der Begriff „Konflikt“ selbst ist unterschiedlich deutbar, er ist zwar negativ besetzt, kann aber gleichzeitig auf positive Wandlungsprozesse innerhalb einer Gesellschaft verweisen.
Konfliktpotenzial gibt es überall, auch in sogenannten freiheitlich-westlichen Ländern. Wenn wir über Entwicklungsprogramme für andere Nationen oder Regionen sprechen, sollten wir zunächst reflektieren, ob wir „unseren“ Forderungen selbst gerecht werden können.
Gleichermaßen gilt es, den Begriff „Kunst“ zu klären, um einen Gesprächskonsens herzustellen. Selbst wenn wir uns hier „nur“ auf die bildende Kunst konzentrieren wollen, ist es unverzichtbar, den historischen, räumlichen und kulturellen Bezug eines Werkes zu kennen. Ob wir von den Buddha-Statuen von Bamiyan in Afghanistan sprechen, von einem barocken Wandbehang in einem französischen Schloss oder einer Leinwand des deutschen Künstlers Gerhard Richter: Der gewählte Terminus „Kunst“ ist immer derselbe. Auch wenn die Welt enger zusammengerückt ist – woran die Kunst kein Zutun hatte, sondern die kommunikationstechnologischen Errungenschaften und die physische Mobilität –, spielt der eigene kulturelle Bezugsrahmen für die Produktion, aber auch für die Rezeption von Kunst eine große Rolle.
Somit ist das, was in Europa als Kunst bezeichnet wird, für jemanden mit einem anderen kulturellen Hintergrund womöglich unvereinbar mit dem eigenen Kunstbegriff. Das betrifft vor allem Strategien, die aus der westlichen Kulturgeschichte heraus entstanden sind und sich in diesen Traditionen entfalten konnten: etwa konzeptuell ausgerichtete Kunst, Performance oder auch Kunst im öffentlichen Raum. Statt auf die Produktion von Objekten legen viele Künstler heute ihren Schwerpunkt auf prozessuale, dialogische oder performative Strukturen, die sich nicht oder nur partiell physisch manifestieren. Selbst hierzulande bedarf es oftmals einer „Übersetzungsarbeit“, um solche erweiterten Kunstbegriffe öffentlich zu vermitteln. Umso naiver wäre es, auf ein Verständnis für derartige künstlerische Formate im Rahmen einer Entwicklungszusammenarbeit zum Beispiel in Eritrea am Horn von Afrika zu hoffen.
Noch größer sind die terminologischen Herausforderungen, wenn es sich um transdisziplinäre Projekte handelt, in denen Künstler nebst Fachleuten anderer Disziplinen eingebunden sind. Die Vielschichtigkeit künstlerischer Strategien und spezifisch geprägte kulturelle Verständnisse müssen im interkulturellen Diskurs immer respektiert werden. Dabei sollte selbstverständlich sein, dass keiner der Partner eine allgemeingültige Deutungshoheit für sich beansprucht. Die Herausforderung einer konsensfähigen Sprachregelung geht Hand in Hand mit der Definition eigener Erwartungshaltungen und der Formulierung eigener Ziele.
Kunst als Tochter der Freiheit
Es verlangt eine tiefgehende Recherche, wenn wir beurteilen wollen, welche Formen des kulturellen Austauschs, des künstlerischen Dialogs, der finanziellen oder fachlichen Unterstützung in einem anderen Land tatsächlich sinnvoll sind. Wie definiert sich „Sinn“ in diesem Kontext? Der inzwischen etwas ver- und oft missbrauchte Modebegriff der „Nachhaltigkeit“ lässt sich auf die Kunst selbst – im Gegensatz zum Kunstmarkt – nicht anwenden. Nachhaltigkeit ist kein Kriterium für Kunst, was zumindest mit Blick auf die mittlere und neuere Kunstgeschichte paradox erscheint, da die klassischen Kunstwerke mit einem Ewigkeitsanspruch entstanden sind. Eine Ausnahme bilden hier die Kunst am Bau und die permanente Kunst im öffentlichen Raum, die spezifische Orte physisch und intellektuell dauerhaft prägen können sollten.
Die Fähigkeit der Kunst, kreative Denk-Freiräume über fachliche, kulturelle oder soziale Grenzen hinweg zu öffnen, ohne dass sich klare Zielvorgaben damit verknüpfen – wie sie die Politik und Ökonomie einfordern –, ist ein zu verteidigendes Gut.
Das in unserem Diskurs vielfach angeführte Diktum des Literaten Friedrich Schiller, Kunst sei „die Tochter der Freiheit“, wird gerne genommen, um unseren moralischen Anspruch deutlich zu machen. Dort, wo Kunst frei von existentieller und materieller Not, frei von politischen, gesellschaftlichen und religiösen Repressalien entstehen, dort wo sich der Geist also frei entfalten kann, sind nicht nur die idealen Bedingungen für das Entstehen von Kunst vorhanden. Dort kann sie darüber hinaus in der Vielfalt ihrer Ausprägung Symbol einer freiheitlichen Gesellschaft und Entwicklung sein.
Das mag die Motivation für die Documenta-Verantwortlichen gewesen sein, einen Programmschwerpunkt auf Afghanistan zu legen. Das Problem bei einem Projektvorhaben wie diesem mag gewesen sein, die unterschiedlichen interdisziplinären und kulturellen Erwartungen zusammenzubringen. Worin unterschieden sich die individuellen Interessen der beteiligten Künstler, Kuratoren, Wissenschaftler von den übergeordneten politischen? Selbstverständlich unterstreicht das Projekt auch gegenüber der deutschen und allgemein westlichen Öffentlichkeit das politische (und militärische) Engagement am Hindukusch, denn positive Berichterstattung schafft den innenpolitischen Rückhalt und stützt das allgemeine Verständnis auch bei uns.
Die Frage wäre also weniger, ob die Documenta hier PR in eigener Sache betrieb, sondern vielmehr, ob sie sich und mit ihr die afghanischen Künstler hat instrumentalisieren lassen. Hierzu sei der afghanische Künstler Aman Mojaddedi zitiert, der einer der Kuratoren der Ausstellung in Kabul war: „In den vergangenen drei Jahren gab es einen großen internationalen Ansturm, was die Unterstützung und Finanzierung von Aktivitäten im Bereich Kunst und Kultur als Teil einer Propaganda und gesteuerter Informationskampagnen angeht. Die Vereinigten Staaten, Großbritannien, Frankreich und andere Länder haben viel Geld in solche Aktivitäten investiert, um einen Eindruck von Afghanistan in einem stetig besseren Zustand zu schaffen. Dies geschieht nicht zuletzt, um den Abzug des internationalen Militärs zu rechtfertigen“.
An diesem Punkt wird die Diskrepanz zwischen der individuellen Erwartungshaltung der beteiligten Künstler und Kuratoren und der politischen Mentoren, die zudem über die Mittelvergabe bestimmten, deutlich. Die Chefkuratorin der Documenta, die Spanierin Chus Martínez, jedenfalls betonte, dass sie sich rein von künstlerischen Ideen habe leiten lassen.
Und die Erwartungen des „NZZ“-Kritikers? Er unterstellt, die Kunst müsse den Anspruch an sich selbst stellen, die Welt retten zu wollen, und urteilt, dass die „Documenta in Kabul der süßen Illusion erliegt, eine westlich geprägte Kunst könne Werkzeug des Nation Building werden, Geburtshelfer der Zivilgesellschaft in archaischen, kriegsgeplagten Weltregionen.“
Hierin offenbart sich eine gewisse Gefahr, dass die Rolle der Künstler überschätzt wird. Ein Künstler wird genauso wenig wie etwa ein Fußballspieler von sich behaupten, den Weltfrieden retten zu können, auch wenn Kultur und Sport beide eine große integrative Kraft in der Gesellschaft ausüben. Auch Daniel Barenboims Anspruch bei der Gründung seines West-Eastern Divan Orchestra, das sich aus israelischen und palästinensischen Musikern zusammensetzt, wird es nicht gewesen sein, hiermit das Nahost-Problem zu lösen. Dennoch ist es eine phantastische Idee, die den einzelnen Musikern ein produktives Miteinander ermöglicht, und gleichzeitig hat das Zusammenspiel einen hohen Symbolwert, der über die Grenzen hinweg wahrgenommen und diskutiert wird.
Während Afghanistan seit etlichen Jahren im Fokus der Weltöffentlichkeit steht und ein politischer Wille existiert, das Land zu befrieden, sowie eigennützige und uneigennützige Interessen der westlichen Welt, die mehr oder weniger offen dargelegt werden, unterscheidet sich die Lage in anderen Weltregionen völlig.
Am Beispiel Eritreas etwa zeigt sich, wie kompliziert ein Engagement in einem Land ist, wo die bilateralen Beziehungen auf politischer und wirtschaftlicher Ebene auf ein Minimum reduziert sind. Wo für die Entwicklungszusammenarbeit die politische Rückendeckung und damit auch die logistische und finanzielle Unterstützung vollkommen fehlt. Dort, wo es zwar eine deutsche oder andere europäische Botschaft gibt, aber keine Kulturinstitute, wie etwa das Goethe-Institut in Kabul, bleibt das humanitäre und kulturelle Engagement den NGOs überlassen.
Mit der Vision, bereits bestehende Projekte in den Bereichen Medizin und Wasserversorgung kulturell zu untermauern, schlossen sich deutsche Vereine und Stiftungen vor rund einem Jahr zusammen, um sich als spartenübergreifendes Netzwerk in Eritrea zu engagieren. Das Projekt „My Eritrea“ wurde von der Initiative Pilotraum01 e. V. in Zusammenarbeit mit der Wasserstiftung WINTA-Era und der NGO Human-Plus ins Leben gerufen.
Der Ansatz der Zusammenarbeit mit nationalen und regionalen Autoritäten in einem der ärmsten Länder der Welt ist insofern bemerkenswert, als dass er Kunst als integralen Bestandteil der Aktivitäten mit einbezieht. Ziel ist es, die soziale Infrastruktur und kulturelle Identität des jungen Landes zu stärken, das 1993 nach 30-jährigem Kampf von Äthiopien unabhängig wurde.
Der Bedarf an Grundversorgung mit Wasser und Lebensmitteln, an ärztlicher Versorgung, die eklatanten hygienischen Mängel, die prekäre politische Situation und der schwelende Grenzkonflikt zu Äthiopien lassen die Integration von Kunst in das Programm zunächst fragwürdig erscheinen. Welchen Nutzen sollte Kunst erbringen können, wenn es an Lebensnotwendigem fehlt?
Doch gibt es schon längst die Erkenntnis, dass importierte Entwicklungshilfe nur dann zu nachhaltigen Erfolgen führen kann, wenn sie an Traditionen, ethnischen Situationen, Sozialstrukturen und Kulturen sensibel angepasst ist. Anspruch der Initiative in Eritrea ist der gemeinsame Austausch auf Augenhöhe, nicht allein das Ergebnis ist von Bedeutung, sondern bereits der Weg dahin.
Künstlerische Prozesse spielen im Rahmen didaktischer Programme eine Rolle, etwa wenn den wartenden Familienangehörigen im Orotta-Krankenhaus in der Hauptstadt Asmara spielerisch und ästhetisch grundlegende Hygienerichtlinien vermittelt werden sollen. Entscheidend hierbei ist, dass zwar deutsche Künstler konzeptuell integriert sind und zu Beginn als Impulsgeber agieren, die einzelnen Projekte vor Ort jedoch von lokalen Künstlern in der heimischen Bild- und Formensprache umgesetzt werden sollen.
Ein langfristiges Ziel des Engagements jenseits der unmittelbaren humanitären Hilfe ist es, die Eritreer bei der Aufarbeitung und Bewahrung ihres kulturellen Erbes zu unterstützen.
Tatsächlich definiert sich das Land noch immer durch die hart erkämpfte Unabhängigkeit, was die vielfältige ursprüngliche Kultur in Vergessenheit zu bringen droht. Durch das langfristige Engagement – sei es in einzelnen Projekten, die sich der traditionellen Musik oder der Sammlung von volkstümlichen Geschichten und Märchen widmen, oder sei es in den organisatorischen Unterstützung etwa des Nationalarchivs – darf man mit gesundem Optimismus eine Untermauerung des notwendigen Demokratisierungsprozesses erwarten.
Doch eines gilt es zu beachten: Eine sinnvolle grenzübergreifende Kulturarbeit muss mit dem tiefgreifenden Verständnis für die lokale Kulturgeschichte beginnen. Hier können Kunst- und Kunstwissenschaften eine identitätsstiftende Funktion haben. Die Kulturwissenschaften in den europäischen Ländern sind aufgrund ihrer jahrhundertelangen Erfahrungen prädestiniert, im Rahmen von Kooperationen beim Aufbau von lokalen Institutionen mit organisatorischem und fachlichem Wissen zu helfen.
Hier spielen vor allem die nationalen und regionalen Archive eine Rolle, die mit der Bewahrung des kulturellen Erbes beauftragt sind. Gezielte Kooperationen zwischen europäischen Hochschulen, Museen, Stiftungen oder Vereinen mit im (Wieder-)Aufbau begriffenen Partnern in Krisenregionen sollten vermehrt angestrebt und gefördert werden.
Sinnvolle und effiziente Kulturarbeit bedarf auch eines offenen und transparenten Umgangs mit den Erwartungen und Zielen aller Partner, sie muss flexibel sein und kulturelle Unterschiede, die z. B. die Langfristigkeit von Projekten und damit Planungssicherheiten betreffen, mit einkalkulieren.
Kulturelles Engagement im Rahmen von Entwicklungsprozessen in Konfliktregionen wird immer ambivalent bleiben. Dennoch sollte es getragen sein von den Grundfähigkeiten, die Kunst für uns Menschen bedeutsam macht: unsere Sinne zu öffnen für das Andere, das Visionäre, den Geist zu mobilisieren und Neugierde zu wecken. Erst die Neugierde, die auf der Freiheit des Geistes basiert, ist die Grundlage für das Experiment, anderes zu wagen.
Wiederabdruck
Dieser Text erschien zuerst in: Kultur und Konflikt. Herausforderungen für Europas Außenpolitik, Kulturreport/ EUNIC-Jahrbuch 2012/2013, S. 170–175. Herausgeber: Institut für Auslandsbeziehungen e. V. (ifa), EUNIC und Robert Bosch Stiftung in Zusammenarbeit mit dem British Council, dem Französischen Ministerium für Auswärtige und Europäische Angelegenheiten sowie der Calouste Gulbenkian Stiftung.
[Dieser Text findet sich im Reader Nr. 1 auf S. 502.]