Interview im Dezember 2014, Universität der Künste, Berlin
GK: Du bist Professor für Texttheorie und Textgestaltung an der UdK in Berlin. Wie kann ich mir Deine Arbeit vorstellen – was machst Du?
StP: Zu allererst würde ich mal sagen, ich bin so etwas wie ein Gegenwartsbeobachter. Oder ein Kulturwissenschaftler, der für Gegenwart zuständig ist. Wenn man so wie ich aus den Geisteswissenschaften kommt, dann stellt man irgendwann fest, dass es dort so gut wie keine brauchbaren Methoden zur Gegenwartsbeobachtung gibt. Für die Beschäftigung mit der Vergangenheit ist viel da. Doch sobald es weiter in die Gegenwart geht, wird es schwierig. Man muss ausweichen in die Soziologie, die Psychologie, die Ethnologie. Wenn man sich mit Gegenwart beschäftigt, kommt dann aber noch hinzu, dass sie unglaublich schnell ist. Das heißt, wir können uns bei der Beobachtung von Gegenwart immer weniger auf das verlassen, was wir schon wissen. Interessanterweise können wir uns nicht mal auf das verlassen, was es jetzt schon gibt. Unter Umständen verwandelt es sich total oder verschwindet. Wenn man die Gegenwart beobachtet, mit der wir zu tun haben, macht es deshalb Sinn, im experimentellen Modus zu arbeiten und Sachen auszuprobieren. Das nenne ich jetzt mal ganz frech „experimentelle Kulturwissenschaft“ – die natürlich selbst wiederum ein Experiment ist.
GK: Und was hat das mit Texttheorie und Textgestaltung zu tun?
Wenn wir probeweise davon ausgehen, dass Kultur eine Form von Verknüpfung von Zeichen ist und ein Bedeutungssystem, das sich aus Zeichen ergibt, dann lässt sie sich als Text lesen. Besser noch: als hyperdimensionale Textur, an der an allen Ecken und Enden und Knotenpunkten geschrieben, gelesen, interpretiert und weitergeschrieben wird. Und damit bekommt das, was ich mache, eine ganz andere Bedeutung. In dem Studiengang, in dem ich arbeite, ist ja die Beschäftigung mit Text lange Zeit so verstanden worden, dass man den Studierenden einfach nur beibringt, gute Gebrauchstexte zu schreiben. Oder man hat mit ihnen ab und zu mal das gemacht, was man gemeinhin Kreatives Schreiben nennt. Da sollten die sich dann „auch mal“, wie es dann immer heißt, „selbst ausdrücken“. Aber das ist old school und in jeder Hinsicht bedenklich. Erst wenn man das Schreiben, Lesen und Interpretieren als Kulturtechniken versteht, und erst wenn man Kultur so beobachtet, dass sie unter bestimmten Bedingungen auf bestimmte Weisen geschrieben, gelesen, interpretiert, umgeschrieben und weitergeschrieben wird, dann geht es nicht darum „auch mal“ kreativ zu sein oder Formate zu bedienen. Dann geht es darum, über die Auseinandersetzung mit Texten Kultur zu verstehen. Und dann geht es darum, Kultur herzustellen. Und es geht darum, sich und andere dabei zu beobachten, wie man Kultur herstellt. Da wird es dann ja plötzlich interessant. Vor allem wenn man das nun mit der Idee einer experimentellen Kulturwissenschaft verkoppelt. Dann können wir nämlich das Herstellen von Texten, auch von eigenen Texten1 als eine bedingte und bestimmte kulturelle Praxis verstehen, mit der man durch sich hindurch mit Kultur experimentiert. Das alles mache ich mit meinem Assistenten Karl Flender. Und vor allem mit dem Kollegen Thomas Düllo, der diese große Wende schon vor Jahren in unserem Studiengang eingeleitet hat und dessen großer Begriff ja „Einschreibung“ ist. Ich empfehle in diesem Zusammenhang unbedingt die Lektüre von „Cultural Hacking“2, ein Buch, das Düllo mit Franz Liebl, einem anderen geschätzten Kollegen von der UdK, geschrieben hat.
GK: In „Die nächste Literatur. Anmerkungen zum Twittern“ beschreibst Du auf ganz emphatische Weise das Twittern. Du sagst aber zugleich, dass man dabei nicht stehen bleiben kann, weil es ja darum geht, etwas Nächstes herzustellen. Deshalb muss ich jetzt erstmal fragen: Twitterst Du noch oder bist Du schon bei dem, was dieses Nächste sein könnte?
Tatsächlich ändert sich mein Verhältnis zu Twitter dauernd. Für mich ist das interessant zu beobachten, dass es mit mir selbst etwas macht. Twitter ist total schnell. Und ich mag es sehr, weil es meine eigene Produktion unproblematischer gemacht hat. Ich habe Twitter immer als Raum benutzt, in dem ich Sachen ausprobieren kann. Facebook natürlich auch. Oder Instagram. Das kann ich gar nicht hoch genug einschätzen, wie das meine Kreativität und Produktivität verändert hat. Und das Nachdenken darüber. Und die Möglichkeit, dieses Nachdenken unmittelbar wieder in die Praxis einzuspeisen. Diese Praxis geht ja aber nicht in Twitter auf. Ich habe ja einige Projekte laufen, kleine Sachen und große Sachen. Und natürlich ist viel davon mit Experimenten verbunden, die jenseits von Twitter anders funktionieren.
TM: Würdest Du das Twittern als ein Element Deiner Lehre begreifen? Hat das mit der hochschulischen Lehre zu tun?
Ursprünglich hatte ich ja mal die Idee, dass ich Facebook und Twitter als Ort nutze, an dem ich andere Leute dabei zugucken lassen kann, was ich in meiner Werkstatt mache – also als Kulturwissenschaftler, als Autor, als Leser, als Vortragender, als Gegenwartsbeobachter. Es hat aber eine andere Richtung genommen. Es hat längst viel mehr mit Performance und Inszenierung zu tun. Wenn ich mir vorne auf die Schuhe „du darfst“ und „nicht schlafen“ draufschreibe, das fotografiere und dann mit der Behauptung twittere3, dass ich die Schuhe immer anziehe, wenn ich auf Konferenzen gehe, dann stimmt das natürlich nicht. Es ist ein Witz. Der hat viel mit dem zu tun, was ich von Konferenzen halte. Es hat also viel mit meinem Universitätsalltag zu tun. Es ironisiert damit das, was ich tue. Zugleich bietet es einen lustigen Konferenzwitz an, der gefavt und retweetet wird. Der eigentliche Witz aber ist: Ich ziehe die Schuhe jetzt wirklich immer zu Konferenzen an. Sozusagen zur Verdopplung des Witzes … Na gut, so lustig ist es nicht, wenn ich es auch noch erkläre. Ich jedenfalls lache viel über meine eigenen Sachen. Das ist mit einer der wichtigsten Gründe, warum ich twittere.
Im ursprünglichen Sinne hat das scheinbar gar nichts mehr mit meiner Lehre zu tun. Ich lasse ja nun nicht wirklich in meine Werkstatt gucken und andere bei dem zuschauen, was ich da mache. Es ist eben nur inszeniert. Darin liegt dann aber genau der Punkt, an dem es sich auf andere, für mich viel interessantere Weise mit meiner Arbeit verbindet. Ich zeige nämlich doch etwas. Und zwar führe ich das Prinzip der Inszenierung vor. Ich spiele etwas. Und man sieht, dass ich spiele. Es ist klar, dass ich nach dem Stiefel-Tweet in der nächsten Meldung ohne Probleme behaupten kann, dass ich „immer“ barfuß zu Konferenzen gehe, weil ich lernen will, über Scherben zu gehen, ohne den Schmerz zu spüren. Okay, kurz gesagt: Ich kann über die Inszenierung Sachen ausprobieren. Ich kann experimentieren. Und ich kann mir beim Experimentieren zuschauen lassen. Es ist dann vielleicht so etwas wie experimentelle Kulturwissenschaft in ihrer kleinsten Form. Twittern ist die kleinste Übung.
GK: In Deinem Text sprichst Du von Twitter als Werkstatt. Was ist das für Dich? Ist es ein Ort, an dem man Inszenierungen herstellt?
„Werkstatt“ ist nur ein Hilfsbegriff. Grundsätzlich ist er gut und wirklich brauchbar. Er erinnert uns daran, das eigene Tun als Teil einer doing culture zu verstehen. Richard Sennett hat uns ja mit seinem Handwerk-Buch daran erinnert und gleich noch eine utopische Dimension drangehängt. Die Werkstatt wird damit zu dem Ort, an dem wir inmitten einer virtualisierten Welt durch die konkrete Auseinandersetzung mit den konkreten Dingen wieder zu uns selbst kommen. Aber man muss aufpassen, dass man diesen Begriff nicht zu stark verwendet. Er verführt dann zu der Überzeugung, dass die Werkstatt wirklich ein Ort ist, ein Raum, ein Zimmer, irgendwas mit Wänden und Türen und Fenstern. Und er verführt dazu, das Virtuelle allzu negativ zu besetzen. Ich würde deshalb vorschlagen, die Perspektive zu ändern. Werkstatt ist kein konkreter Ort, an dem man etwas tut. Die Werkstatt ist vielmehr der Ort, der sich durch das Tun herstellt. Die Werkstatt ist dort, wo ich etwas tue. Meine Werkstatt ist mein Aktivitätsmuster.
GK: Du hast mal von einer „Ökologie der Kreativität“ gesprochen. Meinst Du das, wenn Du von Aktivitätsmuster sprichst? Also meinst Du ein Netzwerk von Aktivitäten, dass man letztlich als System verstehen kann, dem man dann den Namen „Werkstatt“ gibt.
Ja, genau. Wenn man Leuten Schreiben beibringt oder ihr Schreiben weiterentwickelt, dann kommt man ja schnell darauf, dass es völlig sinnlos ist, mit so Programmen wie „In 100 Tagen zum Roman“ zu arbeiten. Es geht viel eher um den Aufbau und Ausbau, meinetwegen auch die Optimierung individueller Aktivitätsmuster. Da kommt man mit dem klassischen werkorientierten Kreativitätsverständnis nicht weiter. Da muss man über dynamische Vernetzungen nachdenken, zu denen das Notieren, das Skizzieren, das Lesen und die dauernde Beschäftigung mit Literatur und Kultur und noch viel, viel mehr gehört. Wenn ich wirklich schreiben will, ist das alles so miteinander verwoben, dass ich nicht einfach eine Sache herausziehen kann. Man hat diesen Fehler ja lange bei Kafka gemacht. Da wollte man immer nur fertige Werke sehen. Und wo es keine fertigen Werke gab, hat man so getan, als wären es welche und hat dann sogar noch daran rumgeschraubt, dass sie einigermaßen fertig aussahen. Die gesamte neuere Kafka-Forschung basiert nun aber im Wesentlichen auf der Einsicht, dass man es hier nicht mit Werken von Kafka, sondern mit einem Kafka’schen Aktivitätsmuster zu tun hat. Oder mit einem sehr komplexen dynamischen Ökosystem, in dem Tagebücher, Aufzeichnungshefte, Romane, Briefe, Gespräche und andere soziale Aktivitäten miteinander verschaltet sind. Wer etwas über Kafka erfahren will, muss diese Verschaltung rekonstruieren. Man muss verstehen, dass er sich bestimmte Pools baut und Verbindungen dazwischen baut, heikle Verbindungen, hochempfindliche Verbindungen, über die Energien vom einen Pool in den anderen geleitet werden können. Und man muss davon jetzt mal nur einen Schritt wegtreten, um sagen zu können: Dieser gesamte Zusammenhang ist Kafkas individuelle Werkstatt. Und es lassen sich Produktionszusammenhänge immer als solche individuellen Werkstätten verstehen, als komplex gewobene Ökosysteme. Und zu meiner Werkstatt gehört dann eben Twitter unbedingt dazu.
TM: Zu Beginn unseres Gesprächs hast Du eher wie ein Wissenschaftler gesprochen, eben hast Du für die Werkstatt plädiert. In der Werkstatt arbeitet der Künstler. Der Wissenschaftler arbeitet eher im Labor. Inwieweit verstehst Du Dich als Künstler und inwieweit als Wissenschaftler?
Also, über mich als Künstler zu sprechen, hat etwas Eigenartiges, finde ich. Genau so eigenartig klingt es für mich, wenn man von mir als Wissenschaftler spricht. Ich bin ja irgendetwas dazwischen. Aus der Perspektive von dem, was ich eben gesagt habe, könnte die Formel lauten: Ich experimentiere mit einer heiklen Verknüpfung. Ich bin übrigens jeden Tag immer wieder überrascht und wirklich total dankbar, dass man mit etwas derart Heiklem überhaupt so weit kommen kann. An der Universität Hildesheim, wo ich Juniorprofessor und dann Professor war, haben sie ja 1998 mit dem Studiengang „Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus“ ein wirklich verrücktes Experiment gestartet. Das war einmalig, was sich damals der Präsident Wolfgang-Uwe Friedrich und der Autor Hanns-Josef Ortheil vorgenommen haben: nämlich Schreibtheorie und Schreibpraxis zu verbinden und das ganze in einen Fachbereich einzubetten, der auf „Kulturwissenschaften und ästhetische Praxis“ ausgerichtet ist. Ich habe in Hildesheim vor allem von Ortheil und den Kollegen vom Theater, der Kunst und der Kulturpolitik und der Musik unglaublich viel gelernt. Weil die eben mit großer Souveränität darauf bestanden haben, zwei Bereiche zu verbinden, die an Universitäten so gut wie gar nicht zu verbinden sind. Vor allem Ortheil lebt das ja als Autor und gibt es sozusagen als Komplett-Ökosystem an die Studierenden weiter. Das ist schon groß. Jetzt an der Universität der Künste kann ich das richtig lustvoll ausleben, weil hier alles noch stärker auf Experiment angelegt ist und wir alle dauernd etwas ausprobieren können. Wir haben hier die Selbstverpflichtung, auf flirrende Weise Wissenschaft und ästhetische Praxis miteinander verbinden.
TM: Das finde ich eine interessante Formulierung: „Auf flirrende Weise verbinden“, weil das uns Kunstpädagogen prinzipiell so ähnlich geht. Wir sind weder Künstler, wenn man die Künstler fragt, noch sind wir Wissenschaftler, wenn man die richtigen Wissenschaftler fragt.
Ja, absolut. Es ist die Möglichkeit für ein Sowohl-als-auch. Das ist doch stark! Man muss sich nur ab und zu kneifen und sich daran erinnern, dass das toll ist. Manchmal fühlt man sich ja wie eine Mangelexistenz, die weder das eine noch das andere richtig macht. Vor allem die Hardcore-Kollegen, die streng in ihren Disziplinen arbeiten, neigen ja dazu, einem das vorzuwerfen. In der Kunstpädagogik ist das ja weit verbreitet. Übrigens mit Folgen für das Selbstbewusstsein des Faches. Ich wünsche mir ja immer Kunstpädagogen und -pädagoginnen, die ihr Sowohl-als-auch gegen alle Engstirnigkeiten stark machen und zeigen, wie produktiv das sein kann, wenn man beides flirrend verbindet.
GK: Du twitterst ab und zu Collagen, die Du machst, fotografierst und dann online stellst. Was ich daran interessant finde ist, dass es erst analog gebastelt wird und dann aber überführt wird in eine Form, die alle wieder weiter bearbeiten oder Bezug darauf nehmen können. Was meinst Du – ist das für Schule relevant?
Für die Schule ist die einzelne Collage als Werk vielleicht gar nicht so interessant. Vielleicht ist es eher die Figur, die ich vorführe. Man könnte, wenn man genau hinschaut, sehen, wie eine bestimmte Kompetenz vorgeführt wird. Ganz dick aufgetragen würde ich sagen: die Kompetenz des Nächsten. Die Bilder zeigen immer, dass sie ohne großen Aufwand gemacht sind und auch schnell wieder verschwinden. Es sind keine bleibenden Werke. Sie existieren nur als Foto und dann auch nur auf Twitter, wo sie noch mal flüchtiger werden. Ich zeige also, wie ich ständig mit Materialien und Medien umgehe, um die Sachen in Bewegung zu halten.
GK: Und was würden Schülerinnen und Schüler dabei lernen, wenn sie selbst die Sachen so in Bewegung halten?
Es hat wieder etwas mit dem Nächsten zu tun. Wenn man so arbeitet, ist ja nichts von vornherein fest gefügt. Man muss im Unterricht offene Experimentiersituationen bauen, in denen man Sachen in Bewegung hält. Das ist ja ein wesentliches Funktionsprinzip der Netzkultur, an dem man dann arbeitet. Dass man etwas ausprobiert. Und dann natürlich beim Ausprobieren auch beobachtet und sich Auskunft darüber gibt, was man da mit welchen Effekten macht.
Man hat in der Schule irgendwann entdeckt, dass man den Kindern beibringen muss, Nachrichten zu gucken. Dass sie verstehen müssen, wie Nachrichten gebaut werden. Und warum macht man das? Um ihnen klar zu machen, dass alles, was wir an Informationen bekommen, immer konstruiert und in seiner Konstruiertheit total folgenreich ist, indem es Wirklichkeit herstellt. Das sollte man jetzt auch auf Twitter und Facebook übertragen. Wenn man in den 70er Jahren begriffen hat, man sollte sich in der Schule dringend mit dem Fernsehen beschäftigen, warum sollte man dann 2014 nicht begreifen, dass man sich mit Facebook oder Twitter beschäftigen muss?
GK: Wir hatten uns in einem anderen Gespräch über Bourriauds Radikanten unterhalten, der „sagt, die entscheidende Frage der Moderne und ‚Altermoderne‘ sei nicht die nach dem ‚Woher?‘, sondern dem ‚Wohin?‘“. Ich habe mich gefragt, wie Dich dieser Text beeinflusst in Deiner Arbeit mit Bild, mit Texten und Texturen, wie Du es nennst.
Die Figur des Radikanten ist wirklich stark. Das alte Modell der Verwurzelung, des Tiefgehens, des Festkrallens in den Boden, das selbst noch in der Figur des Rhizoms4 steckt, hängt ja immer noch an der metaphysischen Idee von Wurzel und Baum. Auch wenn es kapillar oder vernetzt gedacht ist, bleibt es doch immer noch gefangen in der Idee von Eigentlichem und Uneigentlichem. Dagegen haben wir es jetzt bei den Radikanten, die Bourriaud anbietet, mit Pflanzen zu tun, die darauf angewiesen sind, dass sie etwas vorfinden. Sie brauchen etwas, das schon da ist und das sie benutzen können, um weiter zu wachsen. Ich würde sagen: Es sind uneigentliche Pflanzen des Nächsten. Das verbindet Bourriaud mit der Figur der Semionauten. Semionauten benehmen sich wie Radikanten. Aus der Perspektive einer experimentellen Gegenwartskulturwissenschaft bedeutet das, die Zeichen der Gegenwartskultur zu erkennen, zu beobachten und zu lesen und auch die Bedingungen der Interpretation und die Möglichkeiten des Weiterschreibens zu verstehen. Wenn wir es, wie ich vorhin gesagt habe, mit einer Gegenwart zu tun haben, die so schnell ist, dass sie dauernd nächste Zustände herstellt, so dass man eigentlich nur noch experimentell mit ihr umgehen kann, dann würde das mit Bourriaud heißen: Aus jedem Semiotiker, der die Zeichen von Kultur bei dieser Geschwindigkeit liest und interpretiert, muss so etwas werden wie ein Semionaut. Der Semionaut würde dann eben nicht nur lesen. Er würde auch dauernd etwas austesten.
TM: Ich verstehe. Zählt man das zusammen, also: Experimentelle Kulturwissenschaft, Wissenschaft plus ästhetische Praxis, Werkstatt und Ökologie der Kreativität, Semiotik und Semionautik – heißt das dann: Du bildest selbst Semionauten aus?
Ja, das klingt gut. Das mag ich. Gerade mache ich ein Seminar zu Roland Barthes: „Mythen des Alltags“5. Barthes liest die Populärkultur und nennt Zeichen, Superzeichen oder Bedeutungsverdichtungen, an denen er Mythen zeigen kann, denen die Gesellschaft aufsitzt. Wir fragen uns jetzt natürlich, was heute „Mythen des Alltags“ sein könnten. Das heißt: Wir treten ein in die Praxis des Beobachtens, des Lesens, des Interpretierens, des Schreibens. Und natürlich des Umschreibens von Kultur. Das Barthes’sche Projekt ist ja im Großen und Ganzen ein Kulturumschreibeprojekt. Ein anderes Beispiel ist die Vorlesung über Dilettantismus, die ich gerade halte. Ich gehe aus von der These, dass die Disziplinargesellschaft sich heute am nachdrücklichsten darin zeigt, dass wir uns alle professionalisieren müssen. Alles muss glatt sein. Der avantgardistische Dilettantismus unterläuft diese Zumutung, diese Nötigung, diesen Zwang. Und zwar mit Witz. Mit Verweigerung, Mit „Nein“ sagen, durchstreichen, schlecht machen, schlecht erfüllen und so weiter. Er nimmt Gegenwart als Material, irritiert sie, zerlegt sie und stellt sie auf skandalöse Weise anders her. Ich zeige den Studierenden verschiedene Projekte, in denen das passiert. Und biete den avantgardistischen Dilettantismus in der Vorlesung immer als konkrete Strategie für die eigene ästhetische Praxis an, weil er im Kern eine semionautische Praxis ist, die darauf basiert, dass man Vorgefundenes benutzt, um sich weiterzuentwickeln. Geniale Dilettanten sind immer auch Radikanten.
GK: Der Titel des Buchs, für das wir dieses Gespräch führen, heißt What’s Next? Art Education. What’s Next, Stephan Porombka?
Naja, wenn man sich so dezidiert mit der Figur des Nächsten beschäftigt, wie ich das so gern mache, dann können einen solche Nachfragen aushebeln. Denn wenn das Nächste auch nur das Nächste ist, dann ist es ja kein Nächstes mehr, sondern irgendwie dasselbe, nur anders. Das Nächste kann also gar nicht das Nächste sein. Muss es aber. Das ist dann allerdings eine Paradoxie, mit der ich gut leben kann. Mehr noch: Im Grunde ist sie, wie alle Paradoxien, im Kern produktiv, wenn man nur vermeidet, in den Modus der Verzweiflung zu wechseln. Mich lässt es jedenfalls nicht verzweifeln. Mich entspannt es. Ich kann einerseits die Sachen gut auf mich zukommen lassen und dabei immer denken, dass sie sicher nicht so sein werden, wie ich mir das vorstelle oder wie sie entsprechend von dem, was man bisher gemacht und herausgefunden hat, angeblich zu sein haben. Und ich kann andererseits mit dem Selbstbewusstsein arbeiten, dass ich mit den Sachen, die da auf mich zukommen, etwas machen kann. Und dass ich dieses Machen als ästhetische Praxis im Kontext der Gegenwartskultur beobachten kann. Und dass ich diese Beobachtungen wiederum in mein Machen so einspeisen kann, dass etwas Anderes als etwas Nächstes entsteht. Für mich ist das als Arbeitsgefühl und als Lebensgefühl sehr angenehm. Es ist natürlich überhaupt nicht spannungsfrei und nicht frei von Krisen, das ist ja klar. Aber es lässt mir Spielraum. Und es lässt den Sachen auch ihren Spielraum. Wahrscheinlich geht’s darum, diesen Spielraum offen zu halten und zu nutzen. Versteht man es so, dann heißt die Antwort auf die Frage, was denn das Nächste ist: Mal sehen! Es gibt ja das große Programm von Rilke, das er im Malte Laurids Brigge6 entfaltet: das „Sehen lernen“. Ich würde mal sagen: Bei der „Art Education“ müsste es heute um ein „Mal sehen lernen“ gehen. Also es käme darauf an, eine produktive, kreative Offenheit zu entwickeln, die darauf aus ist, auf lustvolle Weise – und das heißt dann immer auch auf kritische Weise! – etwas mit den Sachen zu machen, ohne sich und die Sachen endgültig festzulegen.
1.) http://txtudk.tumblr.com [22.12.2014]
2.) Thomas Düllo, Franz Liebl (Hg.), Cultural Hacking: Kunst des strategischen Handelns. New York u. a. 2004.
3.) https://twitter.com/stporombka/status/540423722243751936 [22.12.2014]
4.) Vgl. Gilles Deleuze, Félix Guattari, Kapitalismus und Schizophrenie. Tausend Plateaus. Berlin 1980.
5.) Roland Barthes, Mythen des Alltags. Frankfurt 1957.
6.) Rainer Maria Rilke, Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge. Leipzig 1910.
[Dieser Text findet sich im Reader Nr. 2 auf S. 249.]