Es geht hier um ein Gemeinschaftsprojekt des britischen Analytikers Simon Harvey, der dafür die theore-tischen Grundlagen entwickelt hat,1 des türkischen Videofilmers Ergin Cavusoglu, der sich als Künstler mit der Praxis des Schmuggelns befasst hat2, und von mit selbst, die ich als Akademikerin und Kuratorin tätig bin. Es handelt sich dabei um eine Arbeit, die wir zur Zeit gemeinsam mit vielen anderen in Angriff nehmen. Unser Ziel ist es, unsere Arbeit so zu verstehen, dass sie ganz neue Themen entwickelt, die für unsere Welt heute wichtig sind. Es handelt sich darum, einzusehen und zu verstehen, dass weder traditionelle Themenstellungen noch erschöpfte Denk- und Arbeitsformen mehr ausreichen, um die komplexe Wirklichkeit, in der wir leben, zu erfassen und ihr gerecht zu werden.
Der Begriff des „Schmuggelns“ umfasst weit mehr als abenteuerliche Manöver oder Schachzüge. Er spiegelt die Suche nach einer intellektuellen und kulturellen Praxis, die Konjunktionen hinter sich Konjunktionen, in denen wir gerne „Kunst und Politik“, „Theorie und Praxis“, „Analyse und Aktion“ zusammen denken und miteinander verbinden. In dieser Handhabung suchen wir die Beziehungen zwischen den beiden Begriffen als eine einzige zu erfahren. Als Einheit, die nicht weiter in Ihre unterschiedlichen und unabhängigen Komponenten zerlegt werden kann. Die Konzeption einer „verkörperten Kritikalität“ (embodied criticality) hat viel damit zu tun, dass es meiner Meinung nach ganz wichtig ist, einen Wandel einzuleiten und von der Kritik (critique) zur Kritikalität (criticality) überzugehen. Das wäre eine Veränderung, von der ich denke, dass sie für die zeitgenössische Kulturpraxis ganz wesentlich ist.
Kurz gesagt geht es dabei darum, ein Denkmodell zu überwinden, in dessen Vorstellung sich hinter manifesten Kulturphänomenen latente Werte und Ziele verbergen, die durch endlose Prozeduren des Enthüllens und Auslegens sichtbar gemacht werden müssen. Durch -literarische und andere Texte, durch Bilder und andere Formen künstlerischer Praxis versucht die Kritische Analyse (Critical Analysis), verborgene Bedingungen, uneingestandene Begierden und Machtverhältnisse in kulturellen Phänomenen aufzudecken. Dazu bedient sie sich strukturalistischer, poststrukturalistischer und postpoststrukturalistischer Methoden und Werkzeuge, von denen es ja sehr viele gibt. Mit ihrer Hilfe ist es uns gelungen, die verborgenen Bedeutungen kultureller Strömungen und die offenen oder geheimen Zwecke, denen sie dienen, zu enthüllen und zu enträtseln, zu exponieren und kenntlich zu machen. Aber es gibt hier ein Problem, weil dabei von der Annahme ausgegangen wird, Bedeutung sei den Dingen immanent, sie sei stets da und warte nur darauf, enthüllt zu werden.
Kritikalität
In dem Maße, in dem wir zunehmend mit dem performativen Charakter von Kultur befasst sind und mit Bedeutungen, die sich im Verhältnis zu Ereignissen entfalten, müssen wir uns von Vorstellungen eines immanenten Sinns verabschieden, den man erforschen, ausstellen und deutlich machen kann. Eine Zeit lang sind wir von der Annahme ausgegangen, eine Lehre, die an die Oberfläche bringt, was auf dem Grunde manifester Phänomene verborgen ist, und ein Lernen, das die Dinge auf diese Weise durchschaut, wäre alles, was wir bräuchten. Das, so dachten wir, würde die Naivität unserer Studenten besiegen helfen. Es würde ihnen helfen, mit ihren naturwüchsigen Vorurteilen fertig zu werden, und am Ende wären sie dann „kritisch“, wie wir das in der Terminologie einer konventionellen Pädagogik nannten. Natürlich ist es wichtig, zu einem kritischen Urteil befähigt zu werden. Der kritische Verstand operiert mit Zeichen und Symbolen. Aber er weckt nicht die Intuition der Menschen. Er bringt sie nicht zur Kritikalität, die sich mit ihrem Untersuchungsgegenstand identifiziert, anstatt ihn nur zu analysieren (to produce criticality through inhabiting a problem rather than analysing it). Das gilt für jede Erziehung, ob sie nun eher praktisch oder theoretisch ausgerichtet ist. Es gilt auch für das Erleben von Kunst und von anderen Kulturphänomenen. Bei unserem Wechsel von der Kritik zur Kritikalität mussten wir uns nicht nur vor den extremen Verkürzungen hüten, die sich aus der „Kontextualisierung“ des Werks ergeben, und vor falschen Verkürzungen, die durch seine Isolierung in Gattungen und Disziplinen entstehen, sondern wir hatten auch auf Folgendes zu achten:
– Sinn wird nie durch Vereinzelung oder isolierende Prozesse gewonnen, sondern eher durch ein komplexes Netz von Querverbindungen.
– Teilnehmer, seien sie nun ein Publikum, Studenten oder Forscher, generieren Sinn nie einfach dadurch, dass sie ihre Subjektivität auf Werke projizieren, um sie so zu Ende zu denken. Sondern Sinn wird durch Beziehungen zu anderen begründet durch die Zeitlichkeit eines Ausstellungsereignisses oder einer Klasse, einer Demonstration, eines Displays.
– Akademiekurse, Kunstwerke, Themenausstellungen, Politpublikationen und andere Foren, die sich der Kulturarbeit widmen, haben keine unmittelbare Bedeutung, aber sie fungieren als Möglichkeitsfelder für ein unterschiedliches Publikum bei unterschiedlichen -kulturellen Bedingungen und extrem unterschiedlichen Temperamenten, um zu Sinn und Bedeutung zu kommen.
– Und schließlich: bei einem reflektierten Wechsel von der analytischen hin zur performativen Funktion von Beobachtung und Teilhabe sind wir uns darüber einig, dass Bedeutung nicht „ausgelegt“ wird, sondern dass sie „stattfindet“.
Letzteres belegt nicht nur beispielhaft die Dynamik, mit der wir Kunstwerke in Ausstellungen und im öffentlichen Raum ansehen, mit ihnen kommunizieren und von ihnen lernen, sondern darin spiegelt sich auch die unterschiedliche Art und Weise, in der wir in den letzten Jahren mit Theorie und Kritik umgehen. Mir scheint, wir sind in relativ kurzer Zeit von einem Kritizismus zur Kritik und dann zu dem, was ich gegenwärtig als Kritikalität bezeichne, geschritten. Das heißt, wir haben uns von einem Kritizismus, in dem es darum geht, Fehler zu finden und ein Urteil nach einem bestimmten Bewertungskanon zu fällen, hinbewegt zu einer Kritik, die tiefer liegende Bedeutungen und Voraussetzungen entdeckt und aufdeckt und auf Plausibilität und Logik hin prüft und untersucht. Am Ende sind wir weiter geschritten zu einer Kritikalität, wo der Kritiker von unsicherem Boden aus agiert und sich mit seinem Untersuchungsgegenstand solidarisiert, indem er sich zu einem Teil von ihm macht. Damit will ich sagen, dass die Kritikalität, auch wenn sie auf der Kritik aufbaut, Kultur in einer ganz anderen Weise wahrnimmt als die analytische Kritik; und natürlich auch anders wahrnimmt als eine Kritik, der nur daran gelegen ist, Fehler herauszustreichen, Auslassungen kenntlich zu machen und Schuld zuzuweisen.
Nur – was kommt nach der kritischen Analyse der Kultur?
Was nach der endlosen Auflistung verborgener Strukturen, unsichtbarer Kräfte und zahlloser Verletzungen, die uns schon so lange beschäftigen und Gegenstand unserer Untersuchungen sind?
Was nach den Prozessen des Markierens und Exponierens all derer, die das System ein- oder ausschließt?
Was nach den großen, Sinn stiftenden Erzählungen, den geltenden Vermessungen des kulturellen Erbes und der kulturellen Ordnung?
Was nach der Feier neuer, minoritärer Gruppenidentitäten und was nach der emphatischen Anerkennung der Leiden anderer als Leistung an und für sich? Was mich an „Kritikalität“ interessiert (und mir ist klar, dass dies ein unpräziser und nicht gänzlich zufrieden stellender Begriff ist nicht zuletzt, weil er bereits durch verschiedene Bedeutungen besetzt ist, an denen ich überhaupt kein Interesse habe – nur im Augenblick steht mir kein besserer zur Verfügung), ist, dass sie die Analysierenden und die Analysierten in einer unzerstörbaren Allianz zusammenbringt. In dem, was ich „Kritikalität“ nenne, ist es nicht möglich, außerhalb des untersuchten Problems zu stehen und es als interesselosen Gegenstand des Studiums zu objektivieren. Im Rahmen einer Kritikalität kann uns sehr wohl klar sein, dass wir uns mit theoretischem Wissen armieren. Dass wir über äußerst raffinierte Analyseinstrumente verfügen. Aber gleichwohl durchleben wir die Bedingungen auch, die wir analysieren, und müssen mit ihnen fertig werden. Deshalb beschreibt die Kritikalität ein Stadium der Dualität. Wir nehmen an beiden Polen teil: Wir sind machtvoll und machtlos, wissend und unwissend zugleich. So verschiebt sich Hannah Arendts Verständnis vom „Mitleidenden“ um eine wichtige Bedeutungsnuance. Es scheint, die Kritikalität ist in sich selbst ein Modus der Verkörperung, ein Stadium, aus dem wir nicht herauskommen und zu dem wir keine kritische Distanz gewinnen und das sich mit unserem Wissen und unserer Erfahrung in nicht-komplementärer Weise verbindet. Anders als die „Weisheit“, wo wir, wie es aussieht, aus unserer Erfahrung lernen, stürzt uns die Kritikalität in ein Stadium tiefer Frustration, weil unser ganzes Wissen und all unsere Einsichten wenig vermögen, um die Bedingungen zu erleichtern, die wir hier durchleben. Daher könnten Sie mich zu Recht fragen, was das Ganze dann soll? Nun, ich würde Ihnen antworten, der Sinn jeder Form von kritischer oder theoretischer Betätigung zielt nie in erster Linie auf die Lösung des Problems, sondern stets auf ein geschärftes Bewusstsein der betrachteten Situation. Und so ist der Sinn von Kritikalität auch nicht primär das Finden einer Antwort, sondern eher eine andere Form der Durchdringung (inhabitation). Philosophisch könnten wir von Ontologie sprechen, die dafür eintritt, „die Dinge zu durchleben“. Das hat im Gegensatz dazu, dass man sie nur ausspricht, den, statt nur ein Urteil darüber abzugeben, eine große, verändernde Kraft. So lange diese Tätigkeit dauert, also während der Durchdringungsphase, verändern wir uns möglicherweise auch. Aber das tun wir nur, weil wir in dem Problem stehen und es miterleben. Weil wir ein Teil von ihm werden, statt nur ein Urteil darüber abzugeben. Darauf versuche ich mit dem Begriff der „verkörperten Kritikalität“ hinzuweisen.
Aber nun gibt es ein aktuelles Projekt, das einen Kurator verlangt, und es gibt den Versuch, dieses Projekt als eine „verkörperte Kritikalität“ zu realisieren. Warum benutze ich in Hinsicht auf die kuratorische -Tätigkeit den Begriff des „Schmuggelns“? Ganz einfach, weil er sich gut verträgt mit vielen wichtigen Fragen und Themen, die uns im Augenblick bewegen. Ganz offensichtlich muss er im europäischen Kontext nicht erläutert werden. Es genügt, wenn wir daran denken, dass wir uns mit Migration beschäftigen. Mit den legalen und illegalen Menschenbewegungen, mit ihren ungeheuren politischen Folgen, den Feindseligkeiten, Ängsten, politischen Schachzügen, falschen Ökonomien und so weiter. Denken wir an die Ereignisse in London und Paris während der letzten Jahre, an den Wahnsinn der Seelensuche, an Verdrängung und an die sozialpolitischen Verwerfungen und ihre gesetzlichen Folgen! Wenn wir an all das denken, müssen wir uns eingestehen, dass die Migration der Menschen zu weit größeren Veränderungen geführt hat als die Demografie uns glauben machen möchte. Und sie führt zu einer ebenso notwendigen wie gänzlich unerbetenen Neubetrachtung (manchmal auch Negation) von Freiheits-, Eigentums- und Bürgerrechten.
Vor diesem Hintergrund scheint mir das „Schmuggeln“ ein außergewöhnlich wirkmächtiges Modell zu sein. Der Schmuggler weiß die Spuren zu finden, welche die Wissenden und Besitzenden, die Exponierten und Parteiischen hinterlassen. Ein Modell, um den Wegen des Wissens, der Materialien, der Sichtbarkeit und der Parteinahme nachzuspüren. Den Spuren all jener dynamischen Aktionen, die für die Konzeption neuer kultureller Praktiken wichtig sind. Darüber hinaus möchte ich untersuchen – und dies ist mir gleichermaßen wichtig –, ob das Schmuggeln mit all seinen notwendigen „Schattenspielen“ eine aktive politische Rolle des „in-der-Welt-Seins“ übernehmen kann, wie Merleau-Ponty das genannt hat? Ob das Schmuggeln ein Modus sein kann für Künstler, Kuratoren und für Kritikalität?
Im Zentrum des „Schmuggelns“ steht ganz offensichtlich die Schmuggelware in ihrer Materialität und Faktizität. Und eine der Fragen, die wir stellen müssen, ist, wie sich unsere kritische Subjektivität zur Schmuggelware verhält und was für neue Formen kritischer -Ermächtigung daraus hervorgehen? Außerdem wollen wir fragen, ob Schmuggeln die Kommunikation befördert und wir daraus eine neue Theorie der Mobilität schöpfen und gestalten können. Eine Theorie, die das Schmuggeln stärker in Nähe zum Begriff der „Feldforschung“ (field work) rückt. Das heißt, hin zu Arbeitsfeldern (work of fields), nicht zur Arbeit auf den Feldern (work in fields). Es ist ein Begriff, den wir gegenwärtig zum Selbst-Verständnis unserer Praxis verwenden.
Wir haben nun schon eine ganze Zeit lang unterschieden zwischen dem „Kuratieren“ (curating), also der Praxis, eine Ausstellung einzurichten, mit den verschiedenen professionellen Kompetenzen, die das erfordert, und dem „Kuratorischen“ (curatorial), also der Möglichkeit, dieser Tätigkeit durch bestimmte Bedingungen und Freiheiten einen gewissen Rahmen zu geben. Im Bereich des „Kuratorischen“ sehen wir verschiedene Prinzipien wirksam werden, die man nicht unbedingt mit dem Ausstellen von Kunstwerken in Verbindung bringt. Prinzipien der Wissensproduktion, des Aktivismus, kultureller Zirkulationen und Übersetzungen, die wiederum beginnen, andere Formen zu gestalten und zu bestimmen, in denen die Kunst sich dann wieder engagieren kann. In gewisser Hinsicht meint das „Kuratorische“ ein kritisches Denken, das indes nicht vorwärts drängt, um sich zu materialisieren oder zu konkretisieren. Das uns aber erlaubt, bei den wichtigen Fragen zu bleiben, bis diese uns in eine Richtung weisen, die wir sonst nicht gesehen hätten.
Ich versuche gerade, mich wegzubewegen von jeder Intention, Illustration oder Exemplifizierung. Das ist eine Bewegung, die keine guten – oder auch weniger guten – Ideen liefern will, garniert mit vielen, ausführlichen Beispielen. Denn die konventionelle kuratorische Arbeit die sich an dieser Strategie ausrichtet, wiederholt ganz schlicht schon existierende Gegenstände. Ob es sich dabei nun um „Konzeptuelle Kunst 1966–1978“, das „Phantasma des Urbanen“ oder den „Späten Rem-brandt“ handelt oder was sonst noch an formalen oder sozial-historischen Themen vorformatiert und gebrauchsfertig in Umlauf war und ist. Darüber hinaus gibt es dann noch einige höchst performative Ausstellungen. Sie haben einen sehr spezifischen Ehrgeiz und setzen ihre Gegenstände in Welten, die sie selbst gern bewohnen würden. Zum Beispiel solche, wie ich sie in Osteuropa gesehen habe. Das Ergebnis sind dann Ausstellungen wie „Vilnius/New York“ oder „Budapest/New York“ oder woanders dann auch „Tokio/Paris“. Ihr Zustandekommen verdankt sich der Sehnsucht, eine für bewundernswert oder erstrebenswert erachtete Welt zu betreten und auf Zeit zu bewohnen. Obwohl diese Ausstellungen allem Anschein nach recht banal sind, finde ich sie doch interessanter als die standardisierten Schauen, denn sie verweisen auf eine unaussprechliche Sehnsucht. Und was Menschen ersehnen, ist allemal interessanter, als was sie bewusst und wissentlich konsumieren.
Sich in Richtung auf das „Kuratorische“ hin zu bewegen ist eine Möglichkeit, seine Arbeit von allen „Fesseln“ zu befreien, von allen Kategorien und Praktiken, die ihre Möglichkeit und Fähigkeit beschränken, das zu erforschen, was wir noch nicht kennen oder was bisher noch kein Thema in der Welt war.
Seit einigen Jahren habe ich mich mit Geografien und Territorien beschäftigt, mit Grenzen und Bewegungen, wobei ich stets Jacques Derridas Überzeugung im Kopf hatte, dass Grenzen, ob sie nun eng oder weit gefasst sind, nichts Anderes darstellen als die Grenzen des Möglichen. Daher – und das war für meine Zwecke vielleicht am wichtigsten – habe ich versucht, mir klar zu machen, was das „Unbegrenzte“ sein könnte: ein unbegrenzter Raum, ein unbegrenztes Handeln, ein unbegrenztes Wissen. Wenn ich versuche, diese Themen in Zusammenhang mit dem Kuratorischen zu denken, dann würde ich gerne den Begriff des „Schmuggelns“ als Modell und Gegenstand kuratorischen Denkens und Handelns einführen. Einerseits erlaubt mir das, dynamische Verbindungen herzustellen zwischen Kuratieren, kritischem Denken und aktuellen Problemen, die neu auftauchen, und der Möglichkeit, mit ihnen umzugehen. Auf der anderen Seite geht es dabei auch um ein aktuelles Projekt, das – wie schon gesagt – eine Gruppe von uns im Augenblick entwickelt: der Theoretiker Simon Harvey, der Künstler Ergin Cavusoglu, ich und Mitglieder eines neuen Programms am Goldsmiths College, das „Research Architecture“ heißt. Wir hoffen von diesem Projekt, dass es auch ein Ausstellungsprojekt wird. Im Augenblick sprechen wir vom „Schmuggeln“ in zweierlei Hinsicht: als Gegenstand unseres Projektes und methodologisch als modus operandi. Wir versuchen nicht, das „Schmuggeln“ durch verschiedene Kunstwerke zu illustrieren, sondern es als Strategie ins Spiel zu bringen. Eine Strategie, die uns erlaubt, unsere Überlegungen zu globalen Austauschprozessen, kultureller Differenz, Übersetzungen, Legitimitäten, sicheren Wohnverhältnissen, Sichtbarkeit und abweichenden Identitäten vorzustellen und damit hoffentlich auch das „Schmuggeln“ als neues Thema in die Welt zu bringen.
Nach welchen Prinzipien funktioniert das „Schmuggeln“, wie wir es verstehen? Zuerst einmal ist es eine Form heimlichen Transfers. Ein klammheimlicher Transfer von einem Bereich in einen anderen. Die Passage der Schmuggelware von einem zum anderen Ort ist nicht sanktioniert; sie folgt keinem erkennbaren Protokoll. Das Schmuggeln ist so prekär, wie das Prekäre für viele Facetten unseres gegenwärtigen Lebens charakteristisch ist.
Das Schmuggeln ist im Prinzip Bewegung. Eine fließend sich ausbreitende Bewegung, die Grenzen ignoriert. Innerhalb dieser Bewegung bleibt die Identität der Subjekte im Dunkeln. Sie sind nicht sichtbar, nicht identifizierbar. Sie operieren ganz wie Ideen und Vorstellungen, die Räume in illegitimer Weise besetzen. Ideen, die dort, wo sie sind, nicht wirklich zu Hause sind. Sie sind nicht aufgehoben in einer Wissensstruktur, sondern treiben und blühen zwischen den Dingen, ohne in einer legitimen Umgebung zur Ruhe zu kommen. Die Linie, an der entlang das Schmuggeln verläuft, zeichnet nicht alte Grenzlinien nach, sondern gleitet um sie herum. Es stellt sie performativ in Frage, zerstört sie, ohne dass sich dieser Akt als Konflikt darstellt. In Ergin Cavusoglus Videoinstallation „Downward Straights“ (2004) gleitet ein großes, schwarzes Boot mitten in der Nacht die Wasser des Bosporus’ herunter. Die hellen Lichter von -Istanbul im Hintergrund betonen noch seine Schwärze. Das Boot ist ein Schmuggelschiff, eines von vielen, die auf ihre Chance warten. Sie kommt, wenn die Pilotboote nicht fahren, welche die Dickschiffe normalerweise durch den Kanal leiten, der das Schwarze Meer und das Marmarameer miteinander verbindet. Anstatt unter Führung eines gelernten Piloten navigieren diese Boote mit Hilfe eines freien und gemeinschaftlich betriebenen Radiokanals. Über ihn warnen sie sich vor den vielen Hindernissen, die im Dunkeln auf sie warten. Es ist völlig überraschend, Schmuggeln in dieser Form als ein Gemeinschaftsprojekt zu erleben, denn normalerweise kennen wir es als Unternehmung rebellischer Individuen. Was mich indes an dieser Art des Schmuggelns im Besonderen interessiert, ist, dass dabei keine Linie übertreten wird, keine „Grenze“ im klassischen Sinne. Sondern das Schmuggeln schafft eine Parallelwirtschaft zu einer Wirtschaft, deren Strukturen es immer wieder übertritt, um sich wohnlich darin einzurichten. Dabei werden die Grenzlinien in einen bewohnbaren Raum konvertiert, den auch ein anderer in Besitz nehmen könnte, der dort entlang schifft, bis wieder der Augenblick kommt, die Seiten zu wechseln.
Als Ausstellungspraxis erlaubt diese Form des Schmuggelns, die stets aufs Neue die Grenzlinien ihres vermeintlichen Ausschlusses nachzeichnet, dem Kuratorischen, zum interdisziplinären Feld zu werden. Das geschieht ohne Bezug zu einer Meisterdisziplin (wie bei Kunstausstellungen, die durch Kontext- und anderes Material angereichert werden), sondern als Versammlung von Entitäten, die in ein dynamisches Verhältnis zueinander gebracht werden.
In dem Reader „Sarai 05“ – einer Buchreihe, die jährlich von der indischen Initiative Sarai herausgegeben wird – gibt es einen bemerkenswerten Beitrag von Lawrence Liang mit dem Titel „Porous Legalities and Avenues of Participation“3. Darin zitiert er einen langen Text von Raqs Media Collective, den Mitinitiatoren von Sarai, über die Rolle von Netzwerken und „Seepages“, die von Migranten, Hackern, Piraten, Ausländern und illegalen Siedlern bedient werden. Diese Menschen, so Raqs, reisen mit den historischen Netzwerken, von denen sie ein Teil sind, und zugleich sind sie in der Lage, das beeindruckende, ubiquitäre Insiderwissen der heutigen Welt zu nutzen. „Wie funktioniert dieses Netzwerk, und wie schleicht es sich in unser Bewusstsein? Wir denken darüber gerne in Begriffen von ‚Seepage‘ nach. Unter ‚Seepage‘ verstehen wir eine Aktion, bei der viele Strömungen aus fluidem Stoff eine stabile Struktur angreifen und sie leckschlagen. Sie greifen ihre Oberfläche genauso an wie ihren Kern. Bis die Struktur sich schließlich auflöst und am Ende zum Teil der Strömung wird. In allgemeinerem Sinn verstehen wir ‚Seepage‘ als Akt, bei dem durch die äußeren Poren einer Struktur in ihr Inneres gedrungen und so die Struktur als Ganze geschwächt wird. Anfangs bleibt der Prozess unsichtbar, dann allmählich wird die Form disfiguriert, wobei man sich als Betrachter ängstlich fragt, wie stark und haltbar die Struktur wohl sein wird.“3
Einer der interessantesten Aspekte des „Schmuggelns“ ist, dass es uns als Modell erlaubt, die Beziehungen neu zu überdenken zwischen dem, was man ganz klar sieht, dem, was man teilweise sieht, und dem Unsichtbaren. Wir denken hier beispielsweise an die Logik der Straßenmärkte, an das Chaos ihrer auf- und übereinander gestapelten Waren, die zum Teil ganz legal, zum Teil aber auch weniger legal erworben wurden. Waren, deren Reise zu ihrem aktuellen Aufenthaltsort nicht in offener und aufrichtiger Weise erzählt werden kann. In England spricht man in so einem Fall euphemistisch davon, dass „sie vom Lastwagen gefallen sind“, um in eleganter Weise ihre Quasi-Legalität zu bezeichnen. Aber wo sind sie heruntergefallen, wer hat ihnen den nötigen Stoß gegeben, und wer hat sie aufgelesen? Was den Begriff des „Schmuggelns“ so komplex macht, ist, dass der gesamte Bezug zu einem Ursprung erodiert ist. Und die Vorstellung einer Reise liegt nicht der Logik einer Reise, auf der Hindernisse, Grenzen, Wasserflächen überwunden werden, sondern man schleicht an diesen Grenzen entlang und wartet den günstigsten -Augenblick ab und die passende Lücke, um von einer zur anderen Seite zu wechseln.
Auf einem Straßenmarkt liegen alle Waren nebeneinander. Während ihre Herkunft im Dunkeln bleibt – nur manchmal ahnt man, woher sie kommen –, liegen sie in einem großen Haufen und bilden untereinander neue Beziehungen aus. Was auf diesen Markt auf der Ladefläche aus Afghanistan kam, aus der Tiefe eines Koffers aus Bangladesch oder im Leib eines menschlichen Lastesels aus Kolumbien, tritt dort ein in eine neue Relation zueinander, die sich in national verorteten Kulturen oder den üblichen Warenströmen nie hätte ausbilden können. Als ich vor kurzem mit den Distributionsstrukturen der aktivistischen Publikation „Make World“ bekannt gemacht wurde, erkannte ich, dass ihre globale Verbreitung in den Koffern und Rucksäcken der Menschen, welche die Werte und Ziele dieser Bewegung teilen, der Logik und der außergewöhnlichen Effektivität des Schmuggelns folgt. In dem Maße, wie die Verbreitung von Schmuggelware herkömmliche Wertesysteme unterminiert, macht sie auch eine Vertrautheit mit dem Gesetz erforderlich. Man muss sich fragen, wie Schmuggelware im gesetzlichen System verankert ist und welche Fluchtmöglichkeiten es für sie gibt? Ja, im weiterem Sinne müssen wir uns auch die Frage stellen, ob das Gesetz nicht per definitionem mit dem Schmuggeln verbunden ist?.
In den vergangenen Jahren haben wir oft darüber -gesprochen, keine konflikthaften und binären Enga-gements mehr eingehen zu wollen. Wir wollten zum Beispiel keinen Streit mit der Kunstakademie im Namen einer progressiven oder revolutionären Praxis. Wir wollten auch keinen Streit mit dem Museum an-fangen über eine größere Zugänglichkeit und Öffnung (nicht zuletzt deshalb nicht, weil wir dem Populismus nicht das Wort reden möchten). Und wir wollten keine Zeit und Energie mit Kämpfen verschwenden, in denen gegeneinander steht, was „innerhalb“ einer Kunstinstitution sanktioniert ist und was ganz natürlich „außerhalb“ von ihr im öffentlichen Raum stattfindet. Wir haben uns stattdessen für eine Strategie des „Wegschauens“ (looking away)4 oder „Beiseiteschauens“ (looking aside) entschieden und für eine räumliche Appropriation, die uns erlaubt, mit dem fortzufahren, was wir tun oder denken müssen, ohne uns dem Zwang auszusetzen, ständig zu artikulieren, wogegen wir sind.
Theoretisch gesehen, sind wir vom Kritizismus über die Kritik zur Kritikalität vorgestoßen. Aktuell besetzen wir eine Position, in der wir tief verwurzelt und zugleich kritisch bewusst sind. Das „Schmuggeln“ vollzieht sich genau so, in illegitimem Bezug zu einem wichtigen Ereignis oder zur herrschenden Ökonomie, ohne den direkten Konflikt zu suchen und ohne direkte Kritik. In genau dieser Weise, durch eine solche Praxis, wird zweitklassiges Material plötzlich brisant. Stoffe wie die Telenovelas oder die Bollywood-Filme, die fern ihrer eigentlichen Kultur gezeigt werden, wo sie Iden-tifikationsmöglichkeiten und etwas Trost für die Verarmten dieser Welt oder über den Erdball Verstreuten bereit halten. Plötzlich stellen sie die großen Fragen. Fragen der Immigration, der Durchmischung von Kul-turen und danach,, wie eine Kultur eine andere infiltriert. In einigen Installationen von Mike Nelson, in seiner langen Passage, die er in raumähnlichen Environments aufstellt, entdecken wir unscheinbare Spuren des täglichen Lebens von Migranten in Megalopolen: ein Wandkalender aus der fernen Heimat, ein Gebetsteppich, ein Reiseutensil, eine Geldüberweisung oder ein Internetkontakt. Hinweise auf ein Taxiunternehmen oder auf andere Jobs, die eher für Migranten zugänglich sind und die sie so dringend benötigen. Spätestens da erkennen wir, dass es solche Spuren überall gibt. Dass unsere städtische Umwelt an jedem Tag voll von ihnen ist. Dass auch diejenigen, die nicht erst kürzlich als Migranten ins Land gekommen sind, die Zeichen der Entwurzelung erleben und lesen können. Gerade so gut, wie sie mit den ererbten Zeichenkodes ihrer Herkunft vertraut sind. Auch das ist ein Akt des Schmuggelns: eine gelebte, verkörperte Kritikalität, die sich außerhalb objektivierter Repräsentationsstrukturen vollzieht.
Hier spricht Melek Ulagay, eine der Heldinnen aus Kutlug Atamans Videoinstallation „Women Who Wear Wigs“ (1999). Sie beschreibt die Zeit, als sie auf der Flucht vor der türkischen Polizei war. Die Polizei dachte, sie sei eine flüchtige Terroristin und nicht eine linke Sympathisantin und Kurierin, was sie in Wahrheit war. Ihre Flucht dauerte viele Jahre, und sie beschreibt sie gedankenvoll und selbstironisch. Auf der Flucht nutzte sie viele Verkleidungen und Tarnungen, die jedoch niemanden wirklich hinters Licht zu führen schienen:
Ich bin sehr überzeugt davon, wie eine Bäuerin auszusehen, aber ich glaube nicht, dass ich die Dorfbewohner täuschen kann. Später gingen wir dann nach Antep. Wir verstecken uns im Hause eines Schmugglers. Er betreibt die Schmuggelei zwischen der Türkei und Syrien. Wir gingen also zu seinem Haus. Ein Haus im Armenierviertel von Antep. Ein Haus mit einem Hof. Eigentlich handelte es sich dabei um den Annex einer alten Kirche; daher waren alle Wände mit Kreuzen bedeckt. Egal, nun sind wir also hier und trinken alle eine Tasse Kaffee. Der Schmuggler fragt: „Wie geht es euch?“, und er heißt jeden von uns einzeln willkommen, wie das in der Gegend hier Brauch ist. Dann schaut er mich an und sagt: „Schwester, du hast Dich verkleidet, nicht wahr?“ Ich bin schockiert. Ich meine, als Schmuggler könnte er mein Aussehen nicht besser erkannt und in Worte gefasst haben. Es war eine nette Art zu sagen: „Du bist keine Bäuerin.“ Was ich eigentlich sagen will, ist, wie sehr man sich auch anstrengt, wie jemand anderer auszusehen, die Menschen entdecken am Ende immer die wirkliche Person, die sich hinter der Maske verbirgt.
Was Melek Ulagays unglückliche Abenteurerinnen in die öffentliche Sphäre schmuggeln, sind keine Waren, subversiven Praktiken oder Ideologien, sondern Empathie, Identifikation und Verständnis für das große politische Potenzial, das sich hinter den kleinen Gesten einer ganz alltäglichen Höflichkeit verbirgt. Höfliche Schmuggler, mitempfindende Prostituierte, faszinierte Studenten, verständnisvolle Bauern sind die Protagonisten ihrer Erzählung. Sie werden Teil der Politik in einer Türkei im Umbruch, ohne dass sie auch nur einen einzigen politischen Standpunkt vertreten.
Denkt man sich das „Schmuggeln“ räumlich, so ist es reich an Möglichkeiten. Es hilft uns, aus unserem binären Denken auszubrechen, das zum Beispiel das Innere des musealen Raumes gegen das Äußere des öffentlichen Raumes stellt. Und auch im Lichte der angeblichen Heimlichtuerei des Schmuggelns steht es doch für einen Status von „Entgrenztheit“. In der Zusammenarbeit mit „Research Architecture“ planen wir ein Projekt, mit dem der Raum als Behältnis gestaltet wird. Ein Raum, der an Waren befördernde Container erinnert und der sich zugleich zur Welt hin öffnet. Wir wollen der Ausstellung einen dualen Rahmen geben, mit der partiellen Visibilität, die den Charakter des Schmuggelguts ausmacht, ob es sich dabei nun um Waren, Menschen, Ideen oder Konzepte handelt.
Das Schmuggeln bringt Subjekte, Objekte und Praktiken hervor, die in einem Reich des „Nicht-Taxierbaren“ existieren. Und damit meine ich viel mehr als nur, was dabei der offiziellen Besteuerung entgeht. Das „Nicht-Taxierbare“ ist eine Methode, bestehende Kategorien zu unterlaufen, so dass es ganz unmöglich wird, mit ihnen zu arbeiten. Es handelt sich hier nicht um Widerstand, sondern um verkörperte Kritikalität, die sich ihrem Gegenstand anverwandelt. In der Matrix von Brüchen und inneren Inkohärenzen bedeutet das „Nicht-Taxierbare“ des Schmuggelns, für sich die Kategorie der Verweigerung zu behaupten.
Ich hoffe, es ist mir gelungen, verständlich zu machen, inwieweit „das Kuratorische“ als eine Art des Schmuggelns operieren kann. Wie dabei Thema und Ausführung zur Allianz finden. Wie beide sich miteinander wie im Tanz verbinden, wobei ihre Kleider sich leicht berühren, ohne dass diese Allianz je illustrativ, hermetisch und statisch würde. Das Schmuggeln kann uns die Möglichkeit bieten, zu einer Theorie „partiellen Wissens“ und „partieller Wahrnehmung“ zu kommen, nach der wir schon so lange Ausschau gehalten haben.
(Übersetzt von Michael Stoeber)
Wiederabdruck
Dieser Text erschien zuerst in: Silke Boerma, Kunstverein Hannover (Hg.), Mise en Scène. Innenansichten aus dem Kunstbetrieb. Hannover 2007, S. 34–44.
1.) Simon Harvey, „Smuggling – In Theory and In Practise“, Dissertation, Universität London 2004.
2.) Ergin Cavusoglu, „Downward Straits“, 2004, 4-Kanal-Videoinstallation, Ton, Video, ca. 3 Minuten, Audio 13,25 Minuten, Loop.
3.) Lawrence Liang, „Porous Legalities and Avenues of Participation”, in: Sarai Reader 2005, Bare Acts, Delhi 2005, S. 6–17,
4.) Anm. der Red.: Siehe Irit Rogoffs Veröffentlichungen „Looking Away – Participations in Visual Curture“, in: Gavin Butt (Hg.), Art After Criticism, Blackwell, Oxford 2004 und „Wegschauen – Partizipation in der visuellen Kultur“, Texte zur Kunst, 36, 1999, S. 98ff.
[Dieser Text findet sich im Reader Nr. 2 auf S. 268.]