Als Grundlage des wissenschaftlichen Wissens gilt die Sprache, der Diskurs – jene ‚Medien’ der Philosophie, die sich in der strikten Verknüpfung zwischen epistēmē und Sprechen selbst feiern. Bilder, Töne, Dinge kommen darin nur am Rande vor: als Bezugsobjekte oder Illustrationen, und auch nur dann, wenn sie sich ‚diskursivieren’ lassen. Die ‚Maschinerie’ der Untersuchungen, der Einsatz experimenteller Apparaturen, die Aufbereitung der Resultate oder die Strukturen der Archivierung und deren Reste, der Ausschuss nicht verwendbarer Daten, das ‚Übriggebliebene’ sowie die Formen ihrer Dokumentation sind bestenfalls ‚parergonal’: Sie tragen nichts zur ‚Wahrheit’ bei, vielmehr ist das Kriterium des Wissens die Methode, die Ordnung des logos unter Ausschluss jeglicher Materialität und Vermeidung jeder schmückenden Poesie. Die Wissenschaft verfährt anästhetisch; ihre Darstellungsweise ist die glanzlose Aussage, die ‚Proposition’. Deren allgemeine Gestalt lautet ‚S ist p’, mit ‚S’ als Subjekt und ‚p’ als Prädikat – sonst nichts: keinen Zusatz, keine Nuance, keine Färbung, keine Brechung. Der Ausdruck ‚Proposition’ gründet im Lateinischen propositio, was im Wortsinne das ‚Vor-Setzen’ oder ‚Hinstellen’ bedeutet und dem griechischen thesis entspricht, das gleichfalls ein ‚Hinsetzen’ oder ‚Vor-Stellen’ im Sinne einer ‚Behauptung’ meint. Interessanterweise entstammen beide Begriffe der Rechtssphäre, sodass aus der Logik der Aussage ein Rechtssystem des Denkens wird, die das ‚Rechte’ im Sinne des ‚Richtigen’ ausspricht, das sich, soweit als möglich, noch zu ‚rechtfertigen’ hat. Richtigkeit und Begründung erweisen sich darüber hinaus an den ‚Satz’ als Grundeinheit der Sprache geknüpft, sodass in der Epistemologie der Wissenschaften alle drei ‚Positionen’ zusammengehören und einen Knoten bilden: Das ‚Sichrichten’ wie gleichermaßen die Strategien der Legitimierung und die Sprache, die sie ihrerseits in Stellung bringt. Die Künste, die sich im Wahrnehmbaren orientieren, sei es in Form von Bildern, Installationen, Körpern oder Klängen, bleiben darin buchstäblich ‚ent-stellt’; sie finden sowenig zur Begründung einen Zugang wie zur Sprache, denn ihre Ausdrucksform ist das ‚Nichtpropositionale’, das, was jenseits der Aussage bleibt und sich dem klaren und eindeutigen Urteil widersetzt. Vor allem bei Platon, aber auch später in der Geschichte der Philosophie ist sie darum durchgängig dem Raum des Alogischen und Irrationalen zugeschlagen worden. Die Künste betreffen den Schein, die simulatio oder dissimulatio, wie ebenso das Spektakel, die Illusion oder die Produktion von Einbildungen, nicht die Idee, die exakte Bestimmung und ihre Zeichen.
Die traditionelle Konkurrenz zwischen Ästhetik und Rationalität, wie sie vor allem für die frühe Neuzeit relevant wurde, liegt darin beschlossen: Die Künste partizipieren nicht an Erkenntnis und Wahrheit; bestenfalls bewegen sie sich in deren Vorhof, an dessen unterem Rand, und sie scheinen auch nur dort der philosophischen Betrachtung würdig, wo sie paraphrasierbar und in die nüchterne Sprache der Vernunft übersetzbar sind. Ihre Funktion ist eine andere als zu wissen: Sie soll gefallen oder erschüttern, gelegentlich auch überraschen und mit dem konfrontieren, was wir noch nicht erfahren haben oder nie erfahren werden. Allein Alexander Baumgarten dachte dem aisthēton, dem aus dem griechischen aisthēsis hergeleiteten Begriff der Sinnlichkeit, eine gewisse, allerdings schwache Erkenntnisleistung zu. Das Zentrum der Ästhetik bildet nach ihm eine epistēmē des Singulären, die durch „Empfindung“ (sensatio) ‚wissend’ wird und, soweit in der Wahrnehmung immer nur ein ‚Dieses’ oder ‚Jeweiliges’ adressiert wird, allein auf die Gewahrung der existentia kath’exochen geht.1 Viel Aufwand verwendete Baumgarten darauf, den Kreis des Ästhetischen einzuschränken – eine Operation, die noch bis ins 19. und 20. Jahrhundert anhält und die Künste in Bezug auf ihre spezifische Weise des Wissens hartnäckig unter Kontrolle zwingt. So anerkannte zwar Georg Friedrich Wilhelm Hegel wie auch nachfolgend die Romantiker die Teilhabe der Künste am Absoluten, doch gleichfalls nur als unterste Stufe, um durch den Begriff, die philosophische Bestimmung überwunden und „aufgehoben“ zu werden. Der Hegelsche Topos vom „Ende der Kunst“ hat diesen Sinn2: Wo die Aussage, der Diskurs die Künste überflügelt, wo die ‚Wahrheit’ der Kunst in die Rationalität des Begriffs übergegangen ist, büßt sie ihre eigentliche Funktion ein, von der nichts weiter bleibt als ein Schatten, eine zu Asche verstreute Vergangenheit: Denn „nur das Wahrhafte vermag das Wahrhafte zu erzeugen“3. Noch die Kunstphilosophie Arthur Dantos hält, wenn auch mit anderen Vorzeichen, an dieser Devaluation fest4: Concept art oder Andy Warhols Brillo Boxes (1964) seien nichts anderes als eine Überführung von Kunst in Philosophie, deren Philosophischwerden sich vor allem darin zeige, dass das Künstlerische der Kunst nicht in der Erscheinung, sondern im Gedanken liege, der des „sinnlichen Scheinens“ (Hegel) nicht mehr bedürfe. Seither sei alles möglich: Die Künste entfesseln sich und verstricken sich in ihre eigene Wiederholung, die nie mehr sein kann, als ihr abermaliger Aufgang in Philosophie. Allerdings haben Martin Heidegger wie auch Theodor W. Adorno und Jacques Derrida diesem, in der Kunsttheorie immer noch virulenten Hegelianismus widersprochen, wenn auch mit zweifelhaftem Resultat. Im Ursprung des Kunstwerks knüpft Heidegger zunächst an die Hegelsche Verbindung zwischen Kunst und Wahrheit an, um letztere in Richtung einer „Entdecktheit“ oder „Unverborgenheit“ (alētheia) zu verschieben und im gleichen Atemzug erneut an „Dichtung“ (poiein) und damit an die Sprache als ausgezeichneter Weise des ästhetischen Wahrheitsvollzugs zu koppeln.5 Die Kapriziosität dieser Privilegierung weist den Ort der Künste der Metapher zu, die Bild und Wort zusammen denkt und damit am Primat sprachlicher Weltauflschießung festhält – ein Schluss, der zwar für Adorno und Derrida so nicht gilt, der aber zuletzt unwidersprochen bleibt, weil beide das Verhältnis von Kunst und Sprache entweder in die Dialektik des „Nichtidentischen“ oder in die Skripturalität von „Schrift“ und „Spur“ auflösen. Demgegenüber wäre an ihrer spezifischen Differenz festzuhalten: Die Künste beruhen auf einem „anderen Denken“, ein Denken des Anderen oder ein Anderes des Denkens, das zugleich etwas anderes ist als Denken, dem daher auch nicht derselbe Begriff, dieselbe Praxis zugemessen werden darf. Dennoch besteht im Unterschied zu aller vorhergehenden und zum Teil auch nachfolgenden Kunstphilosophie der Beitrag der drei und insbesondere Heideggers darin, das „Dichterische“ – oder auch die ‚Kompositionalität des Ästhetischen’ – auf keine Weise einem Raum unterhalb der Philosophie zuzuweisen, sondern ihr gleich- oder nebenzuordnen, indem beide, wie Heidegger sich ausdrückt, im „Dunkeln“ einer engen „Nachbarschaft“ zueinander wohnen.6 Das bedeutet eben nicht – im Unterschied zum Vorwurf Heideggers an die Adresse der Wissenschaften – dass die Künste nicht dächten, sondern dass ihr Bezug zur Wahrheit ein anderer als die philosophische Eröffnung von ‚Sinn’ ist. Deswegen trennt Heidegger „Denken“ und „Dichtung“, wobei letztere auf der ‚Gabe eines Zeigens’ beruht, das anders nicht vollzogen werden kann.7 Dieser ‚Gabe des Zeigens’ entspringt zugleich auch eine andere epistēmē, d. h. ein Wissen, das gegenüber dem wissenschaftlichen inkommensurabel bleibt und zu ihm Abstand hält. Im wörtlichen Sinne klafft zwischen beiden ein ‚Unter-Schied’, eine wesentliche Alterität, die ihre wechselseitige Unverständlichkeit oder Unübersetzbarkeit markiert. Das lässt sich dahin gehend radikalisieren, dass das Ästhetische weder ein Denken – im Sinne des logos – noch nicht ein Denken ist, sondern etwas Drittes, Offenes oder noch Unbestimmtes, das sich den üblichen Registern der Unterscheidung und Bezeichnung nicht fügt.
Ganz offensichtlich ist es zu wenig, den Künsten eine eigene ‚Sprache’ zuzuerkennen, die vor der Sprache der Wissenschaften läge und sich mit ihren Vokabularien berühre; die Kunst,spricht’ nicht, selbst die Lyrik und die Literatur bedienen sich nur der Sprache, um sie von Innen her aufzubrechen, sie umzulenken oder gegen sich zu wenden, bis ihre Splitter anderes zur Erscheinung bringen: den Atem, ihren Rhythmus, das im Gesagten Ungesagte, den Klang verhallender Laute, die Stille. Das Ästhetische unterläuft die Diskurse und ihre Ordnungen, es unterwandert sie bis zu dem Punkt, an dem sie ihre Bodenlosigkeit preisgeben und ein ‚Wissen’ hervorspringt, das deren latente Kontingenz demaskiert. Dann besteht die Frage weniger darin, was die Künste wissen – eine Fragestellung, die ihre eigene Inkonsistenz schon darin beweist, dass sie auf ein Wissen zielt, das sich einerseits vom diskursiven Wissen unterscheiden soll, andererseits aber im Diskursiven zu beantworten sucht, was sich der Diskursivität per definitionem zu verweigern scheint, sodass den Künsten von neuem ihr Eigenes entzogen und dem Begriff der Sprache wieder zugeschlagen wird. Vielmehr geht es darum, wie die künstlerische Wissensproduktion erfolgt, um eine ‚Forschung’ eigenen Rechts, die weder einer anderen Beglaubigung noch anderer Mittel bedarf. Nicht die Objekte oder Resultate interessieren, sondern jene explorativen Praktiken, die sich jenseits der klassischen Oppositionen von Bestimmtheit und Unbestimmtheit, Klarheit und Unklarheit oder Rationalität und ‚Un-Sinn’ bewegen, die in Wahrnehmungen, deren Erscheinungen, Rahmungen und Materialitäten experimentieren, um im selben Maße mit ihnen und gegen sie ‚Er-fahrungen’ zu statuieren, die nirgends anderes als durch ihre ‚Durcharbeitung’ in der literalen Bedeutung von ex-pedere ‚herausgebracht’ oder ‚befreit’ werden können. Wenn daher heute das Künstlerische und das Wissenschaftliche im Zeichen einer ‚künstlerischen Forschung’ oder eines artistic research wieder einander angenähert wird, dann kann es nicht darum gehen, dass sich die Künste der Wissenschaften bemächtigen und ihre Methoden aneignen oder einen ähnlichen Status beanspruchen, um sich als Teil einer globalen Wissensgesellschaft zu verstehen, sondern dass beide unterschiedliche Wissensräume besetzen, die sich partiell fremd und verständnislos gegenüberstehen. Und wenn dabei der Experimentbegriff als scheinbar gemeinsamer Nenner eine tragende Rolle spielt, dann darf nicht vergessen werden, dass im Metier künstlerischer Arbeiten das Experimentelle selbst einen völlig anderen Sinn bekommt und gerade keine systematisch angelegte ‚Probe’ darstellt, sowenig wie eine nachprüfbare Ermittlung empirischer Daten, sondern – im ursprünglichen Sinn von ex-periens – ein anhaltsloses ‚Herantasten’ leistet, das, als ein Versuch ohne Rückkehr, etwas ‚herauszustellen’ sucht, das sich nicht wiederholen lässt. In dieser Hinsicht sind die Durchführung, die expeditio, und die experientia, die Erfahrung, sowie ebenfalls das Experimentelle miteinander verwandt, wobei in allen drei Formen das Präfix Ex-, das ‚Herausstehen’ und Zum-Vorschein-bringen maßgeblich ist, sowie ebenso das Per-, das, wie im Begriff des Performativen, auf ein Mediales verweist,8 ohne das sich nichts zeigen lässt.
Die Künste vollziehen dadurch eine epistemische Praxis sui generis; sie bleiben, in dezidierter Differenz zur Wissenschaft, mit dieser unvergleichlich – nicht, weil sie sich nicht zur Diskussion eigneten oder keine ‚Aus-Sage’ träfen, weniger auch, weil sie von anderen Gegenständen handelten, sondern weil sowohl die Form ihrer Praxis als auch die Form ihres Denkens eine andere ist. Sie stellt anderes zur Schau, macht anderes offenbar, enthüllt auf andere Weise, selbst wenn sie ähnliche Felder bearbeitet oder sich vergleichbarer Instrumente und Methoden bedient. Was sie von der wissenschaftlichen Praxis trennt, ist vor allem ihr Verhältnis zum Modell, das im wissenschaftlichen Kontext zu einer Heuristik von Zusammenhängen gehört, die gleichsam en miniature ein Gesetz oder eine Theorie formulieren und dafür eine paradigmatische Allgemeinheit behaupten – Modelle haben eine exemplarische Funktion, während die Künste lauter singuläre Paradigmata erstellen, die nicht als Beispiele fungieren, sondern sich in jedem einzelnen Fall neu generieren. Darum bezeichnen sie – der Ausdruck des ‚singulären Paradigmas’ birgt an sich schon eine contradictio in adiecto – solche Verfahrensweisen, die einzig sind und nur einmal vorkommen, die folglich auch nicht für etwas anderes stehen können, sondern sich selbst genügen, insofern sie auf ihre Wahrnehmbarkeit, ihre besondere Strukturalität, ihre kontextuelle Bedingung, ihr Verhältnis zur Produktion und Ähnliches verweisen. Dann kommt es allein auf die ‚Kon-Figuration’ der Elemente an, ihre jeweilige ‚Kom-Position’ oder ‚Zusammen-Stellung’, wobei jedes Detail und jede Nuance eine Rolle spielt und nichts ausgelassen werden darf, nicht einmal der ‚Zu-Fall’. Wir sind sozusagen mit einem dichten Knoten konfrontiert, dessen entscheidende Merkmale die spezifischen Modalitäten des Kon- oder Kom- darstellen, durch die er sich schürzt. Sie beziehen sich auf die Besonderheiten der ‚Position’ oder Stellungnahme, die eine ‚Konstellation’ im wörtlichen Sinne eines con stellare, einer Gruppe von Erscheinungen oder Gestirnen eröffnen, um in ihrer ‚Jeweiligkeit’ gemeinsam – con – etwas zu erkennen zu geben. Sie ‚de-monstrieren’ dabei durch die Art und Weise ihrer Fügung, denn was bedeutet ein ‚Paradigma’, seinem Wortsinne nach, anderes als etwas, das sich implizit ‚mit-zeigt’, was daher offenbart, was sich der expliziten Bezeugung versperrt. Darin besitzen ästhetische Prozesse ihre außerordentliche epistemische Kraft: Nicht die Aussage, die Synthesis des Urteils ‚gibt’ die Erkenntnis, sondern die Singularitäten des Kon- oder Kom-, wie es in den Konstellationen, den Konfigurationen oder Kompositionen zu Ausdruck kommt, die eine Synthesis im Sinnlichen beschreiben.
Was im Ästhetischen ‚Denken’ heißt, hat darin seinen Ort. „Prototypisch für die Kunstwerke“, heißt es analog bei Adorno, „ist das Phänomen des Feuerwerks […]. Es ist apparition kath’ exochen; empirisch Erscheinendes, […] Menetekel, aufblitzende und vergehende Schrift, die doch nicht ihrer Bedeutung nach sich lesen lässt.“9 Entsprechend erweisen sich ihre Mittel als verschieden von denen des Diskurses oder der Wissenschaften, denen überhaupt das Exoterische, das ebenso öffentlich nachvollziehbare wie methodisch strukturierte Vorgehen wesentlich ist, während im Falle der Künste das ‚Methodische’ im Nichtmethodischen, dem Widerständigen oder Nichtaufgehenden liegt. Weit mehr als um die Erzeugung positiver Resultate geht es daher der künstlerischen Praxis um die Auslotung des Brüchigen, der schlecht verfugten Stellen oder einer Manifestation des Unzugänglichen, sogar Kontradiktorischen, und zwar nicht um ihrer selbst willen, sondern weil sich zwischen ihren Reibungspunkten etwas ereignen kann, das eine andere Klarheit schafft: gewissermaßen eine Abzeichnung von Konturen, wie sie der amethodischen, beständig hin und her laufenden (discursus) Reflexion entspringen.
Das bedeutet auch: Kunst basiert auf einer Weise des Denkens, die nicht der Sprache folgt, sondern sich der Singularität des Kon- oder Kom- hingibt, um vorzugsweise solches auszustellen, worin sich eine Unruhe, eine Spannung oder ein Nichtaufgehendes ereignet, das ein bis dahin Ungedachtes oder Unerhörtes aufzudecken vermag. Sie machen sich besonders durch Aporien kenntlich. Zu sprechen wäre deshalb von konträren Konstellationen, die auf der Produktion von Kontrasten, dem contrastare oder ‚Gegen-Stehenden’ beruhen, die die Eigenschaft besitzen, reflexive Effekte zu induzieren, die buchstäblich aus dem Innern des Kon- oder Kom- aufsteigen. Was im Ästhetischen also eine Erkenntnis auslöst, ist dieser Ereignung von Reflexivität geschuldet. Sie geschieht nicht als Sagbares, als Satz oder Statement, sowenig wie als Urteil oder Aussage, sondern als ‚Sprung’. Heißt es bei Heidegger über den Aussagesatz lapidar: „Der Satz macht einen ‚Satz’ im Sinne eines Sprungs“10, bedeutet ein Denken im Ästhetischen die Multiplizierung solcher Sprünge, indem sie inmitten der Konstellationen eine andere Ordnung evozieren – eine Ordnung der Kontrastierung, der Opposition, die weniger Bedeutungs-, denn Reflexionssprünge auslösen. Gleichzeitig induzieren sie einen Abstand, eine Spaltung oder Disparität, die eine Diastase, ein ‚Auseinander-Stehen’ bzw. eine ‚Durch-Trennung’ implizieren, aus deren Lücken das ‚heraus-bricht’, was im künstlerischen Prozess das Epistemische eigentlich erst ausmacht. Wenn mithin von einem ‚Wissen’ im Ästhetischen die Rede ist, dann in diesem Sinne, dass sie ihre Erkenntnis ‚diastatisch’ hervorbringt. Die Künste stellen nicht nur einfach etwas hin, sie lockern vielmehr die Oberflächen der Dinge, durchbohren ihre opake Hülle, falten sie auf immer neue Weise ein, um sie mit sich uneins werden zu lassen und dadurch zur Erscheinung zu bringen, was sich ebenso der Erscheinung entzieht wie sie allererst ermöglicht. Dazu bedarf es allerdings einer Praxis der Differenz, die die Klüfte und Zäsuren im Zentrum der kulturellen Formationen, zu denen gleichermaßen die Wissenschaften wie die Institutionen der Reproduktion und das Politische gehören, noch vergrößert, statt sie zu schließen, um ihre Willkür, ihre latente Gewaltsamkeit oder Illegitimität herauszufordern, ihnen ihre Masken zu entreißen und damit deren Risse, ihr ‚Nichtidentisches’, hervortreten zu lassen.
Keine diskursive Ordnung, sowenig wie die praktische, kann je geschlossen werden: Ihre Nichtschließbarkeit wie deren ästhetische Reflexion ist die nachhaltige Quelle künstlerischer epistēmē. Ihr Aufweis kann nur zeigend erfolgen, indem Ränder, offene Stellen oder Unvereinbarkeiten im Gewebe unserer Erfahrung von Wirklichkeit in Augenschein genommen werden, was ebenso das Zeigen des Zeigens und seinen Ort im ‚Mit’ der Konstellationen einschließt. Der Weg dorthin besteht in der Forcierung von Paradoxa. Für sie gibt es weder eine Anleitung noch einen Kanon oder verbindliche Verfahren, sondern sie müssen in jedem Einzelfall stets wieder neu erfunden werden. Die Arbeit der Künste besteht in solchen Erfindungen. Paradoxa erweisen sich dabei als Reflexionsstrategien par excellence. Sie dichten nicht ab, sie verhindern nicht, sowenig wie sie Verwerfungen oder Blockaden der Darstellung erzeugen – dies gilt allein im Medium des Diskursiven, der strikten Logik des Entweder/Oder –, vielmehr eröffnen sie neue Blicke, um das Ungesehene oder Unsichtbare sichtbar zu machen oder den Klang im Nichtton, der Stille, lauten zu lassen. Tatsächlich kann man dann nicht eigentlich von einem ‚Wissen’ im klassischen Sinne des Wissbaren sprechen, das mit ‚Richtigkeit’ oder ‚Falschheit’ assoziiert ist, eben weil das Paradoxe nichts ‚weiß’, wohl aber Grenzen oder Unmöglichkeiten zu erkennen gibt. Auch haben wir es nicht mit der Manifestation eines ‚Sinns’ oder einer ‚Wahrheit’ zu tun – Kunsttheorien, die, wie bei Hegel, Heidegger und durchaus auch bei Adorno, auf den Wahrheitsvollzug der Künste beharren, orientieren sich weiterhin am Inhalt der Werke’, an der Idee ihrer ‚Welterschließungsfunktion’, wohingegen die ästhetischen Praktiken der Paradoxalisierung auf indirekte Weise reflexive Evidenzen erzeugen, die am Einzelnen, Singulären ansetzen, gleich wie unscheinbar es sich auch kundtun mag. Darum enthüllt sich das Epistemische ästhetischer Praxis vielleicht am klarsten in einem Bild, dessen Klarheit gerade verwischt wird, indem durch die Scharfstellung der Unschärfe sein Grund, seine Materialität sichtbar wird – oder bei einem Text, in dessen Fluss Hindernisse einfügt wurden und der zu stottern oder zu stammeln beginnt. Solche ‚Aufweisungen’ lassen sich als ‚sich zeigendes Zeigen’ charakterisieren. Sie bedeuten die Selbstreferentialität des Sichzeigens als Ereignis. Die Formulierung gemahnt an Hegels Wort von der philosophischen ‚Arbeit im Begriff’, die dort den Prozess dialektischer Selbstreflexion betraf, deren Motor oder ‚Energie’, wie Heidegger sich ausdrückte, die ‚Negativität’ darstellte.11 Sie bedingt gleichzeitig das, was sich als eine ‚Zerarbeitung’ beschreiben ließe. Wenngleich im Modus des Zeigens jede Negativität fehlt, gibt es hier doch etwas Verwandtes. Denn das selbstreferentielle Sichzeigen, ihre ‚Reflexivität im Zeigen’, betreibt zuletzt eine ‚Zerzeigung’. Sie verläuft quer zur ‚Zerarbeitung’ des Begriffs.
Um jedoch eine solche ästhetische ‚Zerzeigung’, eine ‚Reflexivität im Zeigen’, zu leisten, ist die Aussetzung des Urteils, mithin probeweise auch die Auslöschung der Referenz, des Bezugs auf ein Phänomen oder auf einen konkreten ‚Fall’ vonnöten, wie sie für die wissenschaftliche Praxis konstitutiv erscheint. Sie geschieht durch die systematische Deplatzierung oder ‚Ver-Stellung’ bzw. ‚Ver-Störung’ des Zeigens und lässt dabei dessen monstrare – wie auch das demonstrare – ‚monströs’ werden. Der Akt der Reflexivität entspringt dieser Monstrosität. Darum haben künstlerische Projekte im Auge oder Ohr des Rezipienten oft etwas Monsterhaftes. Ihre Monster sitzen der negativen Selbstreferenz auf, die von sich her bereits zu Paradoxa neigen. Sie bilden das Kernstück einer Epistemologie des Ästhetischen. Denn die künstlerische Arbeit, insbesondere die reflexive Bildpraxis wie ebenfalls die dystonalen Kompositionen Neuer Musik, ist von dieser Art. Wenn es ihr um die oblique Selbstdemonstration der Wahrnehmung im Wahrnehmungsakt, des Klangs im Raum, der Rahmung des Gerahmten oder des Medialen im Medialen geht, greift sie bevorzugt auf die Bildung solcher Paradoxa zurück. In der Tat umfasst der Ausdruck ‚Bildung’ hier beides: die Gestaltung wie zugleich die unwillkürliche – d. h. passierende – Paradoxierung, die Evokation eines Anamorphotischen, einer Ungestalt.12 Ihre gegenseitige Verschränkung fällt mit der ‚Spiel-Stätte’ künstlerischer Kreativität zusammen. Immer neue Arten von Paradoxien produzieren, auf immer neue Weise das Sichverbergende zum Vorschein kommen lassen, auf ständig anderen Wegen das gewöhnlich sich Nichtzeigende zu ersuchen und zeigend zu machen – darin erfüllt sich heute immer noch die Eigenart der künstlerischen Praxis, nur so, dass es nicht mehr um vollendete ‚Werke’, nicht einmal mehr um deren Fragmentierung oder „Verfransung“ (Adorno) geht, sondern um die Kraft des Performativen selbst.
Allerdings ist am Begriff des Performativen weniger das Prozesshafte maßgeblich, auch nicht die Identität von Intentionalität und Handlung, wie sie gängige Performativitätstheorien von John Austin, John Searle und anderen postuliert haben, sondern gerade das ‚Diastatische’ der Durchtrennung oder Zerreißung, durch die das hervorgerufen wird, was man ‚epistemische Ereignisse’ nennen könnte. Ihre Hervorrufung entspricht den Verfahren der ‚Zerzeigung’. Sie machen wiederum die spezifische Produktivität ästhetischer Reflexionen aus, deren Grundlage Praktiken sind, die auf Grund der Ubiquität des Ästhetischen eine unbegrenzte Streuung erfahren können. War das Kriterium der Reflexivität einst in den Avantgarden normativ besetzt und für die Frage nach der Kunst selbst reserviert, avanciert sie heute zur universellen ästhetischen Strategie. An ihr bemisst sich die immer noch ausstehende Möglichkeit künstlerischer epistēmē. Ihr kann im Prinzip ‚alles’ zum Thema werden. Die Reflexivität der Künste beschränkt sich deshalb nicht nur auf ihre eigenen Parameter, wie die verschiedenen Facetten der Avantgarden sie durchgeführt haben, auch nicht auf die eigene Medialität als Bedingung ihrer ‚Mit-Teilung’, sondern sie erstreckt sich gleichermaßen auf die ‚anderen’ Ordnungen des Symbolischen, auf die Strukturen der Kommunikation, die Diskurse und ihre Dispositive wie die Systeme der Sammlung, die duplizitäre Logik der Repräsentation zwischen Macht und Stellvertretung bis hin zu jenen Räumen der Wissenschaften und ihrer Ökonomien, die darin ihre Latenz oder Unabgegoltenheit besitzen, dass sie einsinnig in ihrer Linerarität und Rahmung gefangen bleiben. Ihnen vermögen die Künste durch ihre Strategien ihre eigene Alterität vorzuführen. So zeigt sich in ihnen ein ‚Wissen’, das ein ‚anderes Wissen’ ist, welches das weiß, was andere nicht zu wissen wünschen. Doch wird es künftig darauf ankommen, es in seiner besondere Formation zu schärfen und dem wissenschaftlichen Wissen, den Daten und Informationen der ‚Wissensgesellschaft’ als ihre verdrängte Seite entgegenzuhalten. Dann stünde sie nicht länger im Schatten einer Kultur, die sich rückhaltlos den Exzessen der Technosciences verschrieben hat, sondern bildete ihre notwendige andere Seite, den Ort ihrer Kritik, um gleichsam der Welt ihre ‚Geräusche’ abzuhorchen.
1.) Baumgarten, Alexander: Ästhetik, 2 Bde, Hamburg 2009, § 1 sowie ders.:, Metaphysica, in: ders.: Texte zur Grundlegung der Ästhetik, Hamburg 1983, § 533, S. 17.
2.) Hegel, Georg Friedrich Wilhelm: Vorlesungen zur Ästhetik 1, in: Werke in 20 Bden, Bd. 13, Frankfurt/M. 1970, S. 23–25 passim.
3.) Ebenda, S. 17.
4.) Vgl. Danto, Arthur: Kunst nach dem Ende der Kunst, München 1996.
5.) Heidegger, Martin: Der Ursprung des Kunstwerks, in: ders.: Holzwege, Frankfurt/M. 5. Aufl. 1972, S. 7–68, hier: S. 46ff. sowie S. 59ff.
6.) Ebenda, S. 61. In einem späten Text mit dem Titel Das Wesen der Sprache heißt es entsprechend, dass Denken und Dichten „aus ihrem Wesen durch eine zarte, aber helle Differenz in ihr eigenes Dunkel auseinander gehalten“ werden. Ders.: Unterwegs zur Sprache, Pfullingen 6. Aufl. 1979, S. 196.
7.) Ders.: Der Ursprung des Kunstwerks, a. a. O., S. 62.
8.) Vgl. meine Überlegungen in Meta / Dia. Zwei unterschiedliche Zugänge zum Medialen, in: Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung, Bd. 2 (2010) Hamburg, S. 185–208.
9.) Adorno, Theodor W.: Ästhetische Theorie, Frankfurt/M. 7. Aufl. 1985., S. 125f.
10.) Martin Heidegger: Der Satz vom Grund, Pfullingen, 5. Aufl. 1978, S. 96, 151.
11.) Ders.: Hegel, in: Gesamtausgabe Bd. 68, Frankfurt/M. 2. Auflage 2009, vor allem S. 17ff.
12.) Vgl. Barthes, Roland: Kritik und Wahrheit, Frankfurt/M. 1967
[Dieser Text findet sich im Reader Nr. 1 auf S. 370.]