AŻ: Wir sollten über Kunst und Armut sprechen, über die Rolle der Kunst in der vorherrschenden Wirtschaftsordnung. Wie funktioniert die Kunst?
RM : Die meisten Künstler fügen sich der Kunstwirtschaft. Sie können mit der politischen Realität auf der Erde umgehen, beschränken sich in der Kritik, die sie zum Ausdruck bringen, aber auf das Gebiet der Kunst. Das macht diese Kritik so besonders einfach, denn es beraubt sie jeglicher Konsequenzen. Die Kunst operiert in einem Freiraum, und weil ihr Handeln folgenlos bleibt, kann sie darin tun, was sie will. Wenn die Kunst als ein Instrument der Revolution diente, würde man sie bald verbieten. Neunzig Prozent der Weltbevölkerung brauchen dringend eine Veränderung der einen oder anderen Art. Diese Not macht sich die Kunst zunutze, noch während und indem sie all ihre kritischen Arbeiten erzeugt. Sie macht aus der Not eine Ware, ohne etwas dafür zurückzugeben. Wenn Kunst schon nichts bewirkt, dann sollte sie meiner Ansicht nach für diese Tatsache wenigstens Verantwortung übernehmen, sie mit in Betracht ziehen.
Können Sie an einem Beispiel erläutern, wie Sie die Kunst in die Lage versetzen würden, an einer bestimmten Situation tatsächlich etwas zu verändern?
Zurzeit gestalte ich ein Gentrifizierungsvorhaben, das im kongolesischen Regenwald stattfinden wird. Die westlichen Firmen, die dort tätig sind, bedienen westliche Märkte, und ihre Produkte sind ziemlich bekannt. Aber die Leute, die seit Generationen – mittlerweile einem Jahrhundert – in dem Land arbeiten, sind immer noch bitterarm. Sie stehen auch nach all den Jahren der Arbeit für die westlichen Länder mit leeren Händen da. Das wirksamste Vorgehen sehe ich nun darin, dass ich den betreffenden Firmen helfe, einen Kunstraum, ein Programm mit Gaststipendien, einen Therapieraum und eine nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung vor Ort aufzubauen. Das wird zusätzlichen Mehrwert schaffen. Und ich bin bereit, den Firmen dabei zu helfen, indem ich sowohl das Konzept als auch die Ausarbeitung beisteuere. Kunst gewährt der Gesellschaft so etwas wie einen Freiraum, der sich als Alternative zur Ausbeutung versteht. Die Gaststipendiaten werden reichlich Gelegenheit zur Auseinandersetzung mit den naheliegenden Themen haben, und zwar an einem Ort, an dem sie tatsächlich etwas bewirken können, wo Menschen leben, die seit Generationen ausgebeutet werden. Es könnten sich Vorteile für alle ergeben: für die Plantagenarbeiter, die mit Kunst in Berührung kommen und all die erwünschten Nebenwirkungen daraus mitnehmen, die das hat – und für die Unternehmen, die mit ihrem Engagement eine Menge Aufmerksamkeit auf sich ziehen werden.
Also bieten Sie den Menschen Kunst und therapeutische Begleitung statt Geld? Und da erwarten Sie, dass die Kunst etwas bewirkt?
Es gibt viele Arten von Wissensproduktion, die sich mit Phänomenen außerhalb ihres eigenen Gebietes befassen, dabei aber keine echte Verantwortung für das übernehmen, was sie selbst sind. Wenn man Wissen schaffen will, besteht meiner Ansicht nach der erste Schritt darin, Verantwortung für die Umstände und Bedingungen zu übernehmen, unter denen dieses Wissen entstehen kann. Wenn ein Kunstwerk politisches Engagement vorgibt, dabei aber die wirtschaftliche Realität außer Acht lässt, in der es angesiedelt ist, dann fehlt es dieser Kunst einfach am Bewusstsein ihrer selbst. Auf Kunstausstellungen sieht man viele Künstler, die herrliche Ausnahmen vom Status quo schaffen: wunderschöne Gemeinschaftsarbeiten, Bilder vom Elend auf Erden oder poetische Interventionen. Wer zum Kunstpublikum gehört, kann schnell den Eindruck bekommen, dass die Welt zwar voller Probleme ist, dass aber auch immer irgendein Künstler oder Filmemacher versucht, sich dieser Probleme anzunehmen. Es werden Ausnahmen von den tatsächlichen Verhältnissen erzeugt, um den Eindruck von Hoffnung oder Schönheit zu vermitteln. Beide werden einem Publikum zum Geschenk gemacht, das mit eben diesen Verhältnissen durchaus einverstanden ist oder zumindest kein echtes Problem mit ihnen hat. Aber schöne Ausnahmen für ein globales Kunstpublikum zu erzeugen, das selbst bereits die schöne Ausnahme lebt, scheint mir nicht sehr politisch. Es kommt mir eher wie ein barockes Trompe-l’oeil-Gemälde vor: Bilder von himmlischen Gefilden, aber keine Erkenntnis dessen, was es braucht, um dorthin zu gelangen. Sie könnten nach Afrika reisen und dort ein schönes Projekt in Gang bringen. Aber schon allein, um nach Afrika zu kommen, müssen Sie von vornherein reich sein. Und um die gesellschaftlichen Verhältnisse zu kritisieren, brauchen Sie zuallererst ein gutes Netzwerk von Kontakten. Andernfalls wird Ihre Arbeit nie gezeigt.
Wenn man also ein Wissen erzeugen will, das real und fundiert ist, das nicht nur gefallen möchte, sondern einen Anspruch auf Geltung in der Wirklichkeit stellen kann, dann muss man sich zunächst mit den Bedingungen und Voraussetzungen der Kunstproduktion als solcher befassen. Kennen Sie Beispiele von Kunstwerken, die nicht nur Ausnahmen darstellen, sondern auch die Position des Künstlers und seine Verstrickung in das Geflecht der Interessen deutlich machen? Mit meinen Filmen bin ich in dieser Hinsicht durchaus zufrieden.
Episode 1 habe ich während des Krieges in Tschetschenien gedreht. In diesem Film habe ich die Haltung eines Fernsehzuschauers eingenommen. Denn das Fernsehpublikum in aller Welt nimmt Teil am Krieg, auch wenn es nicht kämpft, sondern zusieht. Der Krieg dreht sich um den Blick des Zuschauers. Viele Kriegshandlungen der letzten Zeit wären unvorstellbar ohne die Leute, die sie im Fernsehen mitverfolgen. Selbstverständlich wird die Öffentlichkeit manipuliert, aber es ist dennoch ihre Meinung, die über den Ausgang des Krieges entscheidet. Daher wird die größte Schlacht nicht mit Bomben oder AK-47ern, sondern um die Aufmerksamkeit und Sympathie der Zuschauer geschlagen.
Obwohl also der Zuschauer so wichtig ist, erscheint er selbst nie im Bild. Um ihn dreht sich der ganze Krieg, doch er bleibt zu Hause, unsichtbar. Der Krieg fürs Fernsehen besteht aus kleinen Geschichten. Um diese einzusammeln, befragen Journalisten Mütter, die ihre Kinder verloren haben, Befehlshaber, die erfolgreich eine Stadt bombardiert haben, und so weiter. All diese Leute werden gefragt, wie sie sich fühlen. Sobald ihre Geschichten gesendet wurden, wirken sie aufeinander, und so sieht dann der Krieg für Außenstehende aus. Ich bezweifle, dass man das Wesen des Fernsehkrieges und seiner Ereignisse erfassen kann, ohne den Betrachter in die Gleichung mit einzubringen. Ich bin ins Kriegsgebiet gereist, um diese abwesende Figur zu verkörpern. Ich habe die Rolle des neutralen, innerlich leeren Fernsehzuschauers übernommen. Das war ich nicht selbst. Ich war dort einfach nur irgendjemand.
Wie haben Sie sich verhalten?
Wie ein ganz normaler Mann, aber ich habe darüber hinaus ein paar besondere Dinge getan. Ich habe die Leute gefragt, was sie von mir hielten. Ich habe erzählt, ich sei in ein Mädchen verliebt, wisse aber nicht, wie ich sie verführen solle. Und ich habe viele Menschen im Kriegsgebiet gefragt, was ein Mann tun kann, um die Aufmerksamkeit einer Frau zu gewinnen. Das war eine gute Frage. Wenn man neutral ist, gibt es nichts, worauf man reagieren müsste. Und in ein Mädchen verliebt zu sein, ist einfach nur normal für einen jungen Mann. Ich bin nicht nach Tschetschenien gefahren, um den Leuten zu zeigen, dass es mich sonderlich interessierte, gegen wen und warum sie kämpften. Ein Zuschauer sieht sich dieses Zeug an und schaltet den Fernseher aus. Am Ende ist er mehr an anderen Dingen interessiert, zum Beispiel an seiner Freundin oder an der Arbeit, zu der er am nächsten Tag gehen muss.
Wie haben die Leute darauf reagiert?
Einige haben mir wirklich gute Tipps gegeben. Andere wurden etwas ungehalten. Aber alle traten aus ihrer jeweiligen Rolle heraus, die nur für Fernsehzuschauer konstruiert war. Ich stand nun mal direkt vor ihnen, also konnte ich sie geradeheraus fragen. Da waren sie keine schrecklichen Rebellen, arme Opfer oder gute Samariter mehr. Sie waren bloß Einzelwesen, außerhalb der Gesetze des Krieges. Sie wurden sehr menschlich. Im Krieg wollen die Leute unbedingt gefilmt werden, weil ihr Leben davon abhängt. Gesehen und gehört zu werden heißt, Geld oder Waffen, Lebensmittel oder Militärhilfe zu erhalten. Menschen, die verzweifelt darum kämpfen, dass man sie sieht, werden von Leuten betrachtet, die mehr über sich selbst erfahren wollen. Wir sehen nicht fern, um Tschetschenen, Libyer oder Tibeter zu verstehen, sondern uns selbst. Das schafft ein sehr merkwürdiges Gleichgewicht. Wir tun etwas ganz anderes, als wir vorgeben, und ihre Absicht zielt auf etwas völlig anderes als das, was tatsächlich geschehen wird.
Gut, und was ist mit Episode 3: Enjoy Poverty, das auf der letzten Berlin Biennale zu sehen war? Ist dieser Film in irgendeiner Weise realer als Episode 1?
In Episode 3 habe ich ein Emanzipationsvorhaben im Kongo begonnen. Auch hier geschah alles, was man im Film sieht, auch in der Wirklichkeit. Im Kongo gibt es eine lange und gut dokumentierte Geschichte der Güter, die von Ausländern aus dem Land geschafft wurden, während die Bevölkerung so gut wie nichts im Tausch dafür erhielt und über den wirtschaftlichen Wert dieser Güter immer im Unklaren belassen wurde. Daran zu erinnern gilt heute als überholt. Die Wiedergutmachung des Unrechts wurde verdrängt von der Vorstellung, Afrika brauche Hilfe. Bilder, Nachrichten und Filme über Armut und Katastrophen sollen das objektiv belegen. Als Folge ist die Hilfsindustrie heute der bedeutendste Wirtschaftszweig im Kongo. Diese Tatsache scheint in den Berichten der Weltbank nicht auf, weil die Weltbank die Katastrophenhilfe nicht als Teil der Wirtschaft eines Landes betrachtet, ähnlich wie die Kolonialverwaltung früher die Montanindustrie im Kongo nicht als kongolesisch, sondern als europäisch betrachtete. Nun belegen alle möglichen Untersuchungen, dass die Hilfsprogramme den Armen kaum nutzen. Die Hilfswirtschaft funktioniert heute genau wie die Gewinnung und Ausfuhr von Kautschuk, Diamanten oder Elfenbein in der Kolonialzeit. Angeheizt wird sie durch den Export von Bildern und Berichten – und wieder werden die Armen, die das Rohmaterial für diese Bilder abgeben, nicht bezahlt. Man packt seine Koffer, fährt hin, verschenkt ein paar Kleinigkeiten, vielleicht eine Tüte mit Nahrungsmitteln, und behält die Gewinne für sich. Deshalb begann ich mit einem Emanzipationsprogramm. Ich wollte den Kongolesen beibringen, wie sie selbst Vorteile daraus ziehen konnten, dass ich sie filmte und andere westliche Fotografen Bilder von ihnen machten. Wäre ich hingefahren, nur um die Armen zu filmen, so hätte ich zur Hilfswirtschaft weiter beigetragen. Aber ich glaube, dass ich dieser Falle mit meinem Film entkommen bin. Denn anstatt die bestehenden Verhältnisse weiter zu nähren, habe ich eben diese Wirtschaft bloßgestellt. Ich habe den entsetzlichen Abgrund zwischen denen aufgezeigt, die schauen, und denen, die gesehen werden.
Was genau haben Sie gemacht?
Ich bin nach Kinshasa geflogen und habe im Osten des Kongo eine Gruppe europäischer Fotografen getroffen, die über die dortigen Kriege berichteten. In einem völlig verlassenen Dorf kam ich an einem geplünderten Fotoladen vorbei, dessen Besitzer ich später fand. Auch sie sind Fotografen, aber sie haben einen anderen Status und bedienen einen anderen Markt. Gemeinsam haben wir ein Experiment veranstaltet, mit dem Ziel, ihnen Zugang zum Markt der westlichen Fotografen zu verschaffen. Danach habe ich allmählich die Analogien und Vergleiche rund um meine Stellung als weißer Künstler fortgesponnen … Es hat lange Tradition, sich im Kongo als Retter zu inszenieren. Die Kunst kann tatsächlich ihre inneren Widersprüche, auch die Widersprüche beim Erzeugen einer Arbeit, offenbaren. Und wenn das geschieht, dann merkt man, dass dieselben Widersprüche auch in der Ölindustrie, in der Diamantindustrie oder in der Politik weltweit vorherrschen, weil alle diese Industrien auf dieselbe Art und Weise funktionieren.
Können Sie das an einem Beispiel erläutern?
Mir fällt dazu eine Arbeit von Mark Boulos ein. Sie heißt All That is Solid Melts into Air1 und wurde auf der letzten Berlin Biennale gezeigt. Es ist eine Projektion auf zwei Leinwänden: Eine zeigt eine Rebellengruppe, die im Nigerdelta gegen die Firma Shell kämpft, die andere eine Börse, an der emsig mit Öl gehandelt wird. Es ist eine interessante Arbeit, die ich hier auch nur als Beispiel anführe. Ihr Problem sehe ich darin, dass sie es dem Betrachter irgendwie zu einfach macht, die Ölindustrie zu kritisieren. Man fühlt mit den Menschen, die gegen den mächtigen Goliath kämpfen. Aber zugleich wissen wir alle, dass wir nach Berlin geflogen sind, um Kunstausstellungen zu besuchen – in Flugzeugen, deren Treibstoff von denselben Ölfirmen stammt und unter anderem im Nigerdelta hergestellt wird. Ich will damit nicht sagen, dass wir keine Kunst mehr machen sollten, in der Shell kritisiert wird. Ich behaupte auch nicht, dass wir nach Berlin wandern statt fliegen sollten. Aber wenn ich in einer Arbeit das Verhalten von Shell in Afrika kritisieren wollte, indem ich die Katastrophe aufzeige, die derartige Weltkonzerne dort anrichten, und indem ich den Widerstand vor Ort zu Wort kommen lasse, dann könnte ich diese Arbeit nicht auf einer Biennale zeigen, ohne in die Gleichung die Tatsache mit einzubeziehen, dass ich in einem Flugzeug zur Eröffnung gekommen bin, das von Shells Treibstoffen angetrieben wird. Denn dann fehlte der Arbeit jedes wirkliche Bewusstsein ihrer selbst. Sie würde ihren Anspruch auf Realitätsbezug verlieren und wäre nur noch eine Illusion von Kritik. Ich verfüge weder über die Informationen noch über die Macht, die Ölindustrie oder den Krieg im Irak in all ihrer Komplexität darzulegen. Aber ich kann mich auf den Hergang meiner eigenen Arbeit besinnen, in der die manipulativen Systeme der Macht dieselben sind wie in jeder anderen Industrie. Es ist viel wirkungsvoller, nicht andere Industrien zu erforschen, sondern die eigene Produktion. Zugleich offenbart es Einsichten in diese anderen Branchen. Denn die Mechanismen von Macht, Liebe, Mitgefühl, Profit, Privileg, Einfühlung und Schwäche sind ganz einfach dieselben.
Viele, die Episode 3 gesehen haben, nennen Sie einen Zyniker. Das halte ich für ein Missverständnis. In meinen Augen sind Sie weniger zynisch als vielmehr ehrlich. Vielleicht sogar zu ehrlich, besonders wenn Sie in der letzten Szene des Films den Armen zu essen anbieten. Die Szene ist absolut grausam, denn diese entsetzlich armen Menschen bedanken sich überschwänglich, und wir wissen, dass sie sich in ihrem ganzen Leben eine solche Mahlzeit nicht leisten werden können. In dieser Szene haben Sie sich ehrlich zu Ihrer eigenen privilegierten Position bekannt. Es kostete Sie nur ein paar Dollar, diese warme Mahlzeit zu verschenken.
Als ein Exponent des wirtschaftlichen Machtgefälles filme ich mich selbst in einem Moment, in dem ich eine privilegierte Position einnehme. Außer dem Filmemacher, der sich selbst beim Filmen filmt, bekleide ich auch noch eine Metaposition. Am Anfang, wenn man mich ankommen sieht, erscheint mein Name in großer Schrift, als wäre ich eine Art Hollywoodschauspieler. Ich bin nicht nur ich selbst, sondern darüber hinaus noch jemand anderer: ein Vertreter einer Hierarchie und eines Status quo. Danach schaffe ich für das Kunstpublikum eine Ausnahme von der Regel. Man sieht zuerst üble Verhältnisse, doch dann tritt der Künstler auf, um Schönheit und Güte zu erschaffen. Künstler erzeugen Schönheit, wo es hässlich ist, sie erzeugen Wahrheit, Poesie, Demokratie und noch vieles mehr dort, wo es all das nicht gibt. Das ist toll, aber es könnte uns auch zu der Annahme verleiten, dass wir in einer Welt voller wunderschöner poetischer und demokratischer Projekte leben. Tatsächlich sind diese aber äußerst seltene Ausnahmen vom allgegenwärtigen Mangel an Demokratie, Gleichheit und Gerechtigkeit im Leben. Wenn es also um die Darstellung all dessen geht, dann sagt es viel mehr über unsere Welt und über die tatsächlichen Möglichkeiten der Kunst, die Ausnahmen zu meiden. Statt der Ausnahme sollte man die Regel zeigen – und den Preis, den Menschen dafür bezahlen, ebenso wie die wenigen, die von diesen Regeln wirklich profitieren. Der ganze Film nähert sich allmählich der Einsicht in eine nur zu objektive Gegebenheit – dass er das Leben in Afrika keineswegs besser macht. Ich will den Betrachtern möglichst nicht das Gefühl geben, sie hätten die Welt verbessert, nur weil sie sich Kunst angesehen haben. Ich mache Kunst, die Rechenschaft von sich selbst ablegt. Meine Arbeit nimmt auch Stellung zu den üblichen Formen der Darstellung, die meist ihrer selbst unbewusst bleiben und daher ein Wissen erzeugen, das die Wirklichkeit verschleiert.
Was ist Ihr Ziel?
Ich finde es gut, dass ich eine Arbeit zustande gebracht habe, die sich über ihre eigene Wirkungslosigkeit wenigstens im Klaren ist. Sie hat das Leben der Menschen auf der Kakaoplantage tatsächlich nicht verändert. Aber sie ist trotzdem sehr gute Kunst. Dagegen könnte man einwenden, dass sie schon deshalb nicht so besonders gut ist, weil sich die Leute auf den Plantagen weniger für Kunst interessieren als für ihr Essen.
Von Kathrin Rhomberg, der Kuratorin der 6. Berlin Biennale, habe ich erfahren, dass Sie während der Arbeit an Episode 3 für eine kleine Gruppe von Fotografen im Kongo als Kunsthändler agiert und ihnen für jedes verkaufte Foto Geld überwiesen haben.
Darüber möchte ich lieber nicht sprechen, denn das ist nicht Teil der herrschenden Verhältnisse. So, wie die Dinge heute liegen, fahren wir nach Afrika, bauen Unternehmen auf und geben von den Gewinnen nichts ab. Es ist mein Freizeitvergnügen, Dinge mit anderen zu teilen, aber im Film sieht man, wie der Status quo ist. Diesen zu zeigen ist viel wichtiger als die winzige Ausnahme, die ich dadurch geschaffen habe, dass ich Fotos an Kunstsammler vermittelt und den Fotografen ihr Geld geschickt habe. Im Film sieht man einen von mehreren Orten, an dem wir versucht haben, die Fotos zu verkaufen. Wir haben außerdem noch etliche Institutionen besucht und viel Mühe investiert, aber ohne Erfolg. Viele Hilfsorganisationen bieten Dorfgemeinschaften in Afrika kleine Darlehen an, damit die Leute eigene Unternehmen gründen können und von der Hilfe unabhängig werden. Ich habe mir das ein bisschen genauer angesehen. Alle diese Organisationen fördern die Herstellung von Gütern, die für die Außenwelt kaum von Wert sind, etwa eine Kaninchenzucht oder den Transport von Bananen zum Markt. Wenn es um etwas Größeres geht, beispielsweise um Gold, ist aber keine von ihnen bereit, den Leuten vor Ort Geld zu geben, damit sie selbst ein Geschäft daraus machen können. Seit Jahren kämpfen Milizen um dieses Gold. Dann kommt eine Friedenstruppe der Vereinten Nationen, beendet den Krieg und wacht über den Waffenstillstand. Dieselben internationalen Bergbaukonzerne, die vorher die Milizen finanziert haben, erwerben nun mithilfe von Schmiergeld Abbaulizenzen von der kongolesischen Regierung. Das bedeutet, dass die Firmen am Ende Menschen verdrängen werden, die seit mehr als zehn Jahren um den Zugang zum Gold kämpfen. Dazu gehört auch, dass die europäischen Hilfsorganisationen den Bergleuten vor Ort ein bisschen Geld geben, damit sie Kaninchen züchten oder Bananen verhökern können. Eine Kleinstwirtschaft eben. Die Leute wollen ihr Gold und stattdessen kriegen sie Bananen. Nach dem Gold ist das gewinnträchtigste Geschäft die humanitäre Hilfe. Also habe ich alle diese Organisationen um einen Kredit gebeten, damit die Fotografen vor Ort auch in das Geschäft mit den Fotos von unterernährten Kindern und so weiter einsteigen, Geld verdienen und ihr Auskommen finden können. Denn es ist schließlich ein Geschäft. Alle haben abgelehnt.
Aber warum sind die Bilder der kongolesischen Fotografen so gut? Weil sie auf allen Ebenen mit der Verzweiflung zu tun haben. Die Kamera war miserabel, der Fotograf war nicht ausgebildet und musste vielleicht noch am selben Abend in den Busch fliehen. Die Verzweiflung ist allgegenwärtig, also sind das Medium und die Botschaft, um diese alten Begriffe zu verwenden, ein- und dasselbe. Wenn stattdessen ein reicher Mensch ein armes Kind fotografiert und dabei nicht seine eigene privilegierte Situation anspricht, sondern so tut, als bewege er sich auf Augenhöhe mit diesem Kind, dann fehlt einfach etwas in der Gleichung. Und das ergibt keine besonders gute Kunst. Solche naiven Bilder erzeugen den Afropessimismus: »Sie verhungern, obwohl wir ihnen die ganze Zeit Geld geben. Seit fünfzig Jahren helfen wir ihnen, und sie hungern immer noch. Was sollen wir denn noch alles tun?« Solche Bilder zeigen nicht, dass das Geld nur in strategisch wichtige Regionen geleitet wird – und auch nur so lange, wie diese als strategisch wichtig gelten. Sobald die Kameras nicht mehr da sind, fließt das meiste Geld sofort wieder zurück. Am Ende subventionieren eher die Afrikaner uns als wir sie, weil wir von ihnen verlangen, umsonst zu arbeiten. Die Bergbaukonzerne fliegen keine Journalisten ein, um vorzuführen, wie Afrika uns subventioniert. Daher liest man davon auch kaum etwas in der Zeitung. Wir konsumieren Bilder, die in keiner Weise offenbaren, warum sie gemacht wurden, wo sie entstanden und wer für sie bezahlt hat. Wir haben keine Ahnung, was wir da überhaupt sehen.
Sind Sie der Ansicht, dass Künstler eine Mitverantwortung dafür tragen?
Die Kunst muss volle Verantwortung für ihr Dasein übernehmen. Mehr als jedes andere Medium kann sich die Kunst mit sich selbst auseinandersetzen – nicht nur mit dem, was außerhalb ihrer selbst liegt. Bislang haben wir selbstreferenzielle Strategien für dekorative Werke genutzt, die sich endlos selbst analysieren. Es ist bestimmt gut, dass diese Arbeit getan wurde und dass sie lebendig bleibt. Aber selbstreferenzielle Strategien sind auch ein sehr wirksames Mittel, um sich die Welt zu erschließen. Man kann sich damit ebenso gut auf die Welt einlassen und einen großen Reichtum an Erkenntnissen über den Planeten zutage fördern, auf dem wir leben. Wenn wir diese künstlerischen Strategien nur für Filme oder Werke nutzen, die innerhalb eines sehr engen Gesichtskreises operieren, dann verschwenden wir unser künstlerisches und intellektuelles Kapital. Das Kunstwerk kann so etwas wie ein Realitätsversuch im »Reagenzglas« sein. Deshalb finde ich in meinen Filmen Entsprechungen für all diese inneren Widersprüche und spitze sie zu. Denn indem ich sie an die Oberfläche hole und dieses Anliegen in den Mittelpunkt meiner Arbeit stelle, kann man sehen, wie die Welt funktioniert. Man erkennt, dass das, was ich tue, genau dem entspricht, was immer geschieht.
Ist die Kunst ein Teil dieses ausbeuterischen Systems?
Selbstverständlich ist sie das.
Und wie funktioniert sie?
Nehmen wir Episode 3 als Beispiel. Wir sehen einen Film, der in Afrika spielt. Vielleicht hat der Regisseur ja Geld damit verdient, und vielleicht hat er sogar etwas davon seinen Freunden in Afrika überwiesen, um gemeinsam erzielte Gewinne zu teilen. Aber auf struktureller Ebene hat der Film keine echte Veränderung bewirkt. Er hat nur Waren erzeugt, denn Filme sind käuflich. Er ist Kunst für Menschen, die unter den herrschenden Verhältnissen gedeihen. Aber die Menschen in Afrika, die man in dem Film sieht, sehnen sich nach einer Veränderung. Wir haben ihre Energie genutzt, um Kunst zu machen, und das ist mit Sicherheit eine Form der Ausbeutung. Wenn man diesen Prozess nicht bloßlegt, verschleiert man die Struktur der Ungleichheit und der Gewalt, ebenso wie die Wechselbeziehung zwischen Ausbeutung, Kapital, Geld und Kunst.
Was können wir tun?
Die scheinkritische Haltung ausgenommen, haben wir jede Menge Möglichkeiten, uns auf die Welt einzulassen. Die Scheinkritik will zeigen, dass die Welt ein schlechter Ort ist und dass wir Gutes tun sollten. In Episode 3 stelle ich einigen Fotografen im Kongo eine Wendung zum Besseren in Aussicht. Ich sage zu ihnen: Wenn ihr das und das tun würdet, könnte sich eure Lage verbessern. Aber wie man in dem Film sieht, ändert sich nicht wirklich etwas für sie. Und das ist eine sehr treffende Darstellung dessen, wie der Status quo funktioniert. Er verspricht unablässig Wandel, und die Hoffnung auf Veränderung verdeckt die Tatsache, dass es nur darum geht, das bestehende Machtgefälle zu erhalten. Alle zwei Jahre stellt die Weltbank eine neue Strategie zur Rettung Afrikas vor. Und alle zwei Jahre zeigt sich, dass dieselben Konzerne immer mächtiger werden. Die Kunst sollte sich wirklich etwas Neues einfallen lassen, als immer nur vereinzelt eine kleine Veränderung zu erstreben. Sie macht Vorschläge, mal hier, mal dort etwas zu verbessern. Aber sie zeigt nie am eigenen Beispiel, wie die Dinge wirklich liegen.
Sie sind selbst kein Aktivist.
Ich bin ein Aktivist in dem Sinn, dass ich Gedanken aktiviere. Der größte Teil des Kunstaktivismus nährt sich von wirklichen Problemen und Krisen. Er nimmt die Hoffnungen, Kräfte, Ziele der Menschen und macht daraus ein Spektakel, das nichts und niemanden infrage stellt. Diese Kunst übernimmt keine Verantwortung für die Tatsache, dass sie auf einem Privileg beruht und nur durch das Privileg möglich wird. Daher versucht sie nicht einmal, etwas hervorzubringen, das außerhalb der Kunstwelt Bestand hätte. Daran möchte ich arbeiten. Es ist sinnlos, mit der eigenen Kunst eine Ölfirma zu kritisieren, wenn man dabei nicht in Rechnung stellt, dass man von denselben Ölfirmen abhängig ist.
Wie erlangt man ein Bewusstsein seiner selbst?
Wir lassen uns ständig von unseren eigenen falschen Vorstellungen leiten. Ich will mich davon befreien. Ich muss das tun, schon im Interesse meines eigenen Daseins auf der Erde. Das bestehende Rezept zur Befreiung aus der Armut funktioniert für eine riesige Zahl von Menschen nicht. Sie versuchen es seit Generationen, und doch wurden ihre Kräfte nur in die Herstellung immer neuer Güter für die westliche Welt kanalisiert. Ziel der Unternehmen ist es, Dinge zu produzieren und Gewinne zu machen. Nun, ich wünsche mir, dass sie sogar noch mehr Geld verdienen, und deshalb helfe ich ihnen gerne bei der Erzeugung von Mehrwert, einer Marke und einem guten Ruf. Sie können mehr Geld verdienen, wenn sie bestimmte Dinge tun, und ich will ihnen dabei helfen. Die Stadtverwaltungen von Berlin oder Istanbul finanzieren Biennalen nicht, weil sie sich davon neue Modelle der Zusammenarbeit erhoffen – sondern weil es ihren Städten einen Platz auf der mentalen Landkarte sichert, weil es interessante Leute anzieht. Künstler werden eingeladen, weil eine Kunstszene es leichter macht, Kapital anzuwerben. Auch in dieser Hinsicht halte ich es für gut, wenn die Kunst die Geschäftsbedingungen ihrer eigenen Produktion durchschaut und so die Möglichkeit hat, sich selbst umzukrempeln.
Ich würde gerne wissen, was Sie vom Kapitalismus halten.
Ich bin in den Niederlanden, in Belgien und Frankreich aufgewachsen. Erst mit Anfang zwanzig habe ich begonnen, andere Teile der Welt zu bereisen, und verstanden, wie außergewöhnlich meine Lebensverhältnisse sind. Der Kapitalismus? Na ja, er sorgt für eine Menge Leute und eröffnet vielen Chancen, doch gleichzeitig saugt er viele andere Menschen aus. Die Kriege um die Sicherung der Gewinne werden manchmal offen, zumeist aber im Verborgenen geführt. Um ernsthaft zu glauben, dass im Kongo, einem Land mit einigen der größten strategischen Rohstoffreserven der Welt, tatsächlich die so oft fotografierten bedröhnten Rebellen in Flipflops um die Vorherrschaft kämpfen, müsste man schon ziemlich verrückt sein. Aber solche Bilder sind einfacher, als zu versuchen, die höheren Mächte im Kampf um das Gold zu fotografieren. Denn dann müsste man damit anfangen, die eigenen Interessen und Privilegien mit zu reflektieren. Man müsste darüber nachdenken, inwiefern man selbst in diesen Kriegen mitkämpft.
1.) All That is Solid Melts into Air (2008) ist eine Arbeit von Mark Boulos, die auf der 6. Berlin Biennale 2010 in den KW Institute for Contemporary Art gezeigt wurde.
WiederabdruckDieses Gespräch erschien anlässlich der Publikation „Forget Fear“ der 7. Berlin Biennale für zeitgenössische Kunst (27. April – 1. Juli 2012), hrsg. von Artur Żmijewski und Joanna Warsza, Köln 2012, S. 148–155.
[Dieser Text findet sich im Reader Nr. 1 auf S. 352.]