Wer sind wir? Wo kommen wir her? Wohin gehen wir? Was erwarten wir? Was erwartet uns?
Viele fühlen sich nur als verwirrt. Der Boden wankt, sie wissen nicht warum und von was. Dieser ihr Zustand ist Angst, wird er bestimmter, so ist er Furcht. Einmal zog einer weit hinaus, das Fürchten zu lernen. Das gelang in der eben vergangenen Zeit leichter und näher, diese Kunst ward entsetzlich beherrscht. Doch nun wird, die Urheber der Furcht abgerechnet, ein uns gemäßeres Gefühl fällig.
Es kommt darauf an, das Hoffen zu lernen. Seine Arbeit entsagt nicht, sie ist ins Gelingen verliebt statt ins Scheitern. Hoffen, über dem Fürchten gelegen, ist weder passiv wie dieses, noch gar in ein Nichts gesperrt.
Der Affekt des Hoffens geht aus sich heraus, macht die Menschen weit, statt sie zu verengen, kann gar nicht genug von dem wissen, was sie inwendig gezielt macht, was ihnen auswendig verbündet sein mag. Die Arbeit dieses Affekts verlangt Menschen, die sich ins Werdende tätig hineinwerfen, zu dem sie selber gehören. Sie erträgt kein Hundeleben, das sich ins Seiende nur passiv geworfen fühlt, in undurchschautes, gar jämmerlich anerkanntes. Die Arbeit gegen die Lebensangst und die Umtriebe der Furcht ist die gegen ihre Urheber, ihre großenteils sehr aufzeigbaren, und sie sucht in der Welt selber, was der Welt hilft, es ist findbar. Wie reich wurde allzeit davon geträumt, vom besseren Leben geträumt, das möglich wäre. Das Leben aller Menschen ist von Tag träumen durchzogen, darin ist ein Teil lediglich schale, auch entnervende Flucht, auch Beute für Betrüger, aber ein anderer Teil reizt auf, läßt mit dem schlecht Vorhandenen sich nicht abfinden, läßt eben nicht entsagen.
Dieser andere Teil hat das Hoffen im Kern, und er ist lehrbar. Er kann aus dem ungeregelten Tagtraum wie aus dessen schlauem Mißbrauch herausgeholt werden, ist ohne Dunst aktivierbar. Kein Mensch lebte je ohne Tagträume, es kommt aber darauf an, sie immer weiter zu kennen und dadurch unbetrüglich, hilfreich, aufs Rechte gezielt zu halten.
Möchten die Tagträume noch voller werden, denn das bedeutet, daß sie sich genau um den nüchternen Blick bereichern; nicht im Sinn der Verstockung, sondern des Hellwerdens. Nicht im Sinn des bloß betrachtenden Verstands, der die Dinge nimmt, wie sie gerade sind und stehen, sondern des beteiligten, der sie nimmt, wie sie gehen, also auch besser gehen können. Möchten die Tagträume also wirklich voller werden, das ist, heller, unbeliebiger, bekannter, begriffener und mit dem Lauf der Dinge vermittelter Damit der Weizen, der reifen will, befördert und abgeholt werden kann. […]
Das utopische Bewußtsein will weit hinaussehen, aber letzthin doch nur dazu, um das ganz nahe Dunkel des gerade gelebten Augenblicks zu durchdringen, worin alles Seiende betreibt wie sich verborgen ist. Mit anderen Worten: man braucht das stärkste Fernrohr, das des geschliffenen utopischen Bewußtseins, um gerade die nächste Nahe zu durchdringen Als die unmittelbarste Unmittelbarkeit, in der der Kern des Sich-Befindens und Da-Seins noch liegt, in der zugleich der ganze Knoten des Weltgeheimnisses steckt. Das ist kein Geheimnis, das etwa nur für den unzulänglichen Verstand bestünde, während die Sache an und für sich selbst völlig klarer oder in sich ruhender Inhalt wäre, sondern es ist jenes Realgeheimnis, das sich die Weltsache noch selber ist und zu dessen Lösung sie überhaupt im Prozeß und unterwegs ist. Das Noch- Nicht- Bewußte im Menschen gehört so durchaus zum Noch-Nicht- Gewordenen, Noch- Nicht- Herausgebrachten, Herausmanifestierten in der Welt. Noch- Nicht-Bewußtes kommuniziert und wechselwirkt mit dem Noch-Nicht- Gewordenen, spezieller mit dem Heraufkommenden in Geschichte und Welt. Wobei die Untersuchung des antizipierenden Bewußtseins grundsätzlich dazu zu dienen hat, daß die eigentlichen, nun folgenden Spiegelbilder, gar Abbildungen des erwünscht, des antizipiert besseren Lebens psychisch-materiell verständlich werden. Vom Antizipierenden also soll Kenntnis gewonnen werden, auf der Grundlage einer Ontologie des Noch-Nicht. Soviel hier über den zweiten Teil, über die darin begonnene subjekt-objekthafte Funktionsanalyse der Hoffnung. […]
Geht aber nun das Vormalen zum freien und gedachten Entwurf über, dann erst befindet man sich unter den eigentlichen, nämlich den Plan oder Grundriß-Utopien. Sie erfüllen […] die Konstruktion, mit historisch reichem, nicht nur historisch bleibendem Inhalt. Er breitet sich aus in den ärztlichen und den sozialen, den technischen, architektonischen und geographischen Utopien, in den Wunschlandschaften der Malerei und Dichtung. So treten die Wunschbilder der Gesundheit hervor, die fundamentalen der Gesellschaft ohne Not, die Wunder der Technik und die Luftschlösser in so viel vorhandenen der Architektur. Es erscheinen Eldorado-Eden in den geographischen Entdeckungsreisen, die Landschaften einer uns adäquater gebildeten Umwelt in Malerei und Poesie, die Perspektiven eines Überhaupt in Weisheit. Das alles ist voll Überholungen, baut implizit oder explizit an der Strecke und dem Zielbild einer vollkommeneren Welt, an durchgeformteren und wesenhafteren Erscheinungen, als sie empirisch bereits geworden sind. Viel beliebiges und abstraktes Fluchtwesen gibt es auch hier, doch die großen Kunstwerke zeigen wesentlich einen reell bezogenen Vor- Schein ihrer vollendet herausgebildeten Sache selbst. Wechselnd ist dann der Blick aufs vorgestaltete, aufs ästhetisch-religiös experimentierte Wesen, doch jeder Versuch dieser Art experimentiert ein Überholendes, ein Vollkommenes, wie die Erde es noch nicht trägt. Der Blick darauf ist verschieden konkret, der jeweiligen Klassenschranke entsprechend, doch gehen die utopischen Grundziele des jeweiligen sogenannten Kunstwollens in den sogenannten Stilen, diese »Überschüsse« über Ideologie, mit ihrer Gesellschaft nicht gleichfalls immer unter.
Ägyptischer Bau ist das Werdenwollen wie Stein, mit Todeskristall als gemeinter Vollkommenheit, gotischer Bau ist das Werdenwollen wie der Weinstock Christi, mit dem Lebensbaum als gemeinter Vollkommenheit. Und so zeigt sich die gesamte Kunst mit Erscheinungen gefüllt, die zu Vollkommenheitssymbolen, zu einem utopisch wesenhaften Ende getrieben werden. Allerdings war es bisher nur bei den Sozialutopien selbstverständlich, daß sie – utopisch sind: erstens, weil sie so heißen, und zweitens, weil das Wort Wolkenkuckucksheim meist im Zusammenhang mit ihnen, und nicht nur mit den abstrakten unter ihnen, gebraucht worden ist. Wodurch, wie bemerkt, der Begriff Utopie sowohl ungemäß verengert, nämlich auf Staatsromane beschränkt wurde, wie vor allem auch, durch die überwiegende Abstraktheit dieser Staatsromane, eben jene abstrakte Spielform erhielt, die erst die Fortschritt des Sozialismus von diesen Utopien zur Wissenschaft weggehoben, aufgehoben hat.
Immerhin kam, mit allen Bedenklichkeiten, das Wort Utopie, das von Thomas Morus gebildete, wenn auch nicht der philosophisch weit umfangreichere Begriff Utopie hier vor. Hingegen wurde an anderen, etwa technischen Wunschbildern und Plänen wenig utopisch Bedenkenswertes bemerkt. Trotz Francis Bacons »Nova Atlantis« wurde in der Technik kein Grenzland mit eigenem Pionierstatus und eigenen, in die Natur gesetzten Hoffnungsinhalten ausgezeichnet. Noch weniger sah man es in der Architektur, als in Bauten, die einen schöneren Raum bilden, nachbilden, vorbilden.
Und desgleichen blieb Utopisches erstaunlicherweise in den Situationen und Landschaften der Malerei und Poesie unentdeckt, in deren Verstiegenheiten wie besonders in deren weit hinein- und hinausschauenden Möglichkeits-Realismen. Und doch ist in allen diesen Sphären, inhaltlich abgewandelt, utopische Funktion am Werk, schwärmerisch in den geringeren Gebilden, präzis und realistisch sui generis in den großen. Eben die Fülle der menschlichen Phantasie, samt ihrem Korrelat in der Welt (sobald Phantasie eine sachverständig-konkrete wird), kann anders als durch utopische Funktion gar nicht erforscht und inventarisiert werden; so wenig wie sie ohne dialektischen Materialismus geprüft werden kann. Der spezifische Vor-Schein, den Kunst zeigt, gleicht einem Laboratorium, worin Vorgänge, Figuren und Charaktere bis zu ihrem typisch-charakteristischen Ende getrieben werden, zu einem Abgrund oder einer Seligkeit des Endes; dieses jedem Kunstwerk eingeschriebene Wesentlichsehen von Charakteren und Situationen, das man nach seiner sinnfälligsten Art das Shakespearesche, nach seiner terminisiertesten das Dantesche nennen kann, setzt die Möglichkeit über der bereits vorhandenen Wirklichkeit voraus.
Hier überall zielen prospektive Akte und Imaginationen, ziehen subjektive, doch gegebenenfalls auch objektive Traumstraßen aus dem Gewordenen zu dem Gelungenen, zur symbolhaft umkreisten Gelungenheit.
Dergestalt hat der Begriff des Noch-Nicht und der ausgestaltenden Intention daraufhin in den Sozialutopien nicht mehr sein einziges, gar erschöpfendes Exempel; so wichtig auch die Sozialutopien, von allem anderen abgesehen, für die kritische Kenntnisnahme eines ausgeführten Antizipierens geworden sind. Doch Utopisches auf die Thomas Morus-Weise zu beschränken oder auch nur schlechthin zu orientieren, das wäre, als wollte man die Elektrizität auf den Bernstein reduzieren, von dem sie ihren griechischen Namen hat und an dem sie zuerst bemerkt worden ist. Ja, Utopisches fällt mit dem Staatsroman so wenig zusammen, daß die ganze Totalität Philosophie notwendig wird (eine zuweilen fast vergessene Totalität), um dem mit Utopie Bezeichneten inhaltlich gerecht zu werden. Daher die Breite der im Teil:
Konstruktion versammelten Antizipationen, Wunschbilder, Hoffnungsinhalte.
Daher – vor wie hinter den Staatsmärchen – die angegebene Notierung und Interpretation medizinischer, technischer, architektonischer, geographischer Utopien, auch der eigentlichen Wunsch-Landschaften in Malerei, Oper, Dichtung. Daher schließlich ist hier der Ort zur Darstellung der mannigfachen Hoffnungs-Landschaft und der spezifischen Perspektiven darauf im Eingedenken der philosophischen Weisheit.
Das trotz überwiegendem Pathos des Gewesenen in den bisherigen Philosophien, – die fast stets intendierte Richtung Erscheinung – Wesen zeigt trotzdem deutlich einen utopischen Pol. Die Reihe all dieser Ausgestaltungen, sozial, ästhetisch, philosophisch Kultur des »wahren Sems« betreffend, endet sinngemäß, auf den immer entscheidenden Boden niedergehend, in den Fragen eines Lebens der erfüllenden, von Ausbeutung befreiten Arbeit, aber auch eines Lebens jenseits der Arbeit, das ist im Wunschproblem der Muße.
Wiederabdruck
Dieser Text ist die gekürzte Fassung des Vorworts in: Ernst Bloch: Das Prinzip Hoffnung; Erster Band; Suhrkamp; Frankfurt a. M., 1959.
[Dieser Text findet sich im Reader Nr. 1 auf S. 83.]