Frisst der Kapitalismus seine Kinder? Nein, er verstrickt sie in Projekte. Ergebnis ist der permanente Kampf mit sich selbst. Und was wird aus denen, die nicht Teil der vernetzten Welt des neuen Kapitalismus sind?
In Europa waren die ersten drei Nachkriegsjahrzehnte durch die Suche nach einem politischen Projekt geprägt, das die kapitalistische Umstrukturierung der sozialen Beziehungen eindämmen sollte. Die Protestbewegung des Mai 1968 stellt in gewisser Hinsicht den Höhe-punkt der damit verbundenen Kritik am Kapitalismus dar. Die an die Tradition der Arbeiterbewegung -anschließende Sozialkritik war aber keineswegs die einzige Form der Kritik, die diese Protestbewegung anfachte. Mit ihr betrat auch eine ganz andere Form der Kritik die gesellschaftliche Bühne, die ich als Künstlerkritik bezeichnen möchte, um ihre Verankerung im Milieu der Bohème zum Ausdruck zu bringen. Während die Sozialkritik primär auf die Lösung sozioökonomischer Probleme durch Verstaatlichung und Umverteilung zielte, kreiste die Künstlerkritik um ein Ideal der individuellen Autonomie, der Selbstverwirklichung und der Kreativität, das im Widerspruch zu allen Formen hierarchischer Machtverhältnisse und sozialer Kontrolle steht. Aus Sicht der Verteidiger des Kapitalismus bot diese zweite Form der Kritik allerdings den Vorteil, durch gewisse Umdeutungen und Glättungen mit einem liberal gemäßigten Kapitalismus durchaus vereinbar zu sein.
In der Welt der Unternehmen und der Arbeit ist diese Umdeutung größtenteils durch die Vordenker neuer Formen des Managements geleistet worden, die einen neuen Geist des Kapitalismus propagierten, der auch die Erfahrungen der 1960er und 1970er Jahre integrieren sollte. Diese Form der Krisenbewältigung war gerade dort erfolgreich, wo die Ansprüche der Sozialkritik abgeblockt worden waren. An die Stelle einer grundsätzlichen Kritik am Arbeitsverhältnis trat die panische Angst, überhaupt keine dauerhafte Arbeit mehr zu finden. Parallel zu dieser verschärften Auslieferung der Arbeiterschaft an den Kapitalismus ist die traditionelle Arbeiterbewegung zusammengebrochen – ihr liefen die Mitglieder weg, da sie angesichts der neuen Produktionsformen und der Angst vor der Arbeitslosigkeit kaum mehr Erfolge vorweisen konnte und durch den »real existierenden Sozialismus« in eine Glaubwürdigkeitskrise geraten war.
In dieser historischen Situation breitete sich der -Kapitalismus, unterstützt durch technologische Innovationen, mit einer präzedenzlosen Intensität und Schnelligkeit aus, und zwar nicht nur in bisher nicht-kapitalistischen Gesellschaften, sondern auch in unseren Gesellschaften: In historisch vom Kapitalismus verschonten Berufsfeldern, Milieus und Regionen wurden die sozialen Beziehungen dem Profitstreben und die alltäglichen Erfahrungen der Kalkulierbarkeit unterworfen. Der Widerstand gegen den Kapitalismus und die Kritik an ihm ist aber auf die moralischen, kognitiven und physischen Ressourcen angewiesen, die einst alternative Lebensformen und die familiale und schulische Erziehung bereitstellten, als sie den Normen des Kapitalismus noch nicht untergeordnet waren. Diese Ressourcen scheinen heute zu versiegen. Und wie könnte es auch anders sein, in einer Zeit, in der der Kapitalismus eine zweite Jugend erlebt, indem er sich alles aneignet, was einst sein Außen, seine Authentizitätsreserven darstellte, und es – als »Konfitüre nach Großmutters Art«, »echte Gefühle« und »Abenteuertourismus« – in ökonomische Ressourcen verwandelt, die im Profitstreben verwertbar sind.
Beziehungen knüpfen, Netze weben
Besondere Beachtung unter den Dispositiven, die mit der Herausbildung des neuen Geistes des Kapitalismus verbunden sind, verdient die Kultur des Projekts. Sie steht im Mittelpunkt jener neuen Formen der Rechtfertigung, die den Kapitalismus gegen die immer neu aufbrandenden Wellen der Kritik abschirmen sollen, indem sie bestimmte Aspekte dieser Kritik integrieren. Dabei geht sie einher mit einer neuartigen Vorstellung von Ökonomie und von Gesellschaft im allgemeinen, die sich um die Metapher des Netzes rankt: An die Stelle eines homogenen und klar abgegrenzten Raums tritt ein offenes Netz, in dem die einzelnen Punkte mannigfaltige Verbindungen eingehen können.
Diese neue Ordnung der Rechtfertigung können wir im Anschluss an die Managementliteratur als »projektbasiert« bezeichnen. Damit ist eine Unternehmensstruktur gemeint, in der eine Vielzahl von Projekten völlig unterschiedliche Personen zusammenbringt, die zum Teil auch an mehreren Projekten gleichzeitig arbeiten. Da Projekte immer einen Anfang und ein Ende haben, lösen die verschiedensten Projekte einander ab und setzen die Arbeitsgruppen stets neu zusammen. Analog hierzu lässt sich auch von einer projektbasierten Sozialstruktur sprechen. Dabei kommt der projektbasierten Rechtfertigungsordnung die Funktion zu, die neue netzwerkartige und konnektionistische Welt normativen Einschränkungen zu unterwerfen, denen zufolge alle sozialen Beziehungen im Einklang mit der Logik des Projekts zu stehen haben.
Von besonderer Wichtigkeit für die Etablierung von Netzwerken ist in diesem Gefüge die Figur des Vermittlers. Auf den Wert seiner Aktivität kann sich jeder beziehen, der »Beziehungen knüpft« und sich am »Weben des Netzes« beteiligt. Das neue Regime der Rechtfertigung stellt zudem Prinzipien bereit, auf die sich die Urteile über die Größe und Kleine – d. h. über die relative Wertschätzung – stützen können. Dabei handelt es sich bei dem Prinzip der Äquivalenz, an dem sich die Größe von Personen und Dingen bemessen lässt, um das Maß der Aktivität, das alle anderen Unterscheidungen – wie die zwischen Arbeit, Stabilität, Lohnabhängigkeit und ihren Gegenteilen – verdrängt. Die Aktivität richtet sich darauf, neue Projekte zu generieren oder sich in von anderen initiierte Projekte einzubringen. Da Projekte aber nicht außerhalb sozialer Begegnungen existieren können, besteht die Aktivität par excellence darin, sich in Projekte einzufügen, die eigene Isolierung zu überwinden und die Chance auf neue Begegnungen mit anderen Akteuren zu erhöhen. Diese Aktivität manifestiert sich in Projekten aller Art, die zeitgleich oder sukzessive durchgeführt werden können, aber stets vorübergehender Natur bleiben. Das Leben erscheint dann als eine Abfolge von Projekten und ist umso wertvoller, je stärker sich die Projekte voneinander unterscheiden. Was zählt, ist das Entwickeln von Aktivitäten – und unter allen Umständen ist zu vermeiden, dass einem die Projekte und Ideen ausgehen, dass man nichts mehr im Blick oder in Vorbereitung hat, dass man zu keiner Gruppe gehört, die der Wille, »etwas zu unternehmen« zusammenbringt. Eben weil das Projekt eine Form des Übergangs ist, passt es so gut in die Netzwelt: Durch Projekte knüpft man Verbindungen, und arbeitet mit an der Expansion des Netzes.
»Groß« und »klein«
Wer in diesem Dispositiv der Rechtfertigung als »groß« gelten will, muss sich als anpassbar und flexibel erweisen. Damit ist er beschäftigungsfähig, im Unternehmen also eigenständig dazu in der Lage, sich in neue Projekte einzufügen. Er ist aktiv und autonom, geht Risiken ein, um neue, verheißungsvolle Kontakte zu knüpfen, und sucht stets nach neuen Informationen, um redundante Kontakte zu vermeiden. Diese Eigenschaften reichen aber noch nicht aus, um zu Recht als »groß« zu -gelten, da sie auch gänzlich opportunistisch als rein individuelle Erfolgsstrategie eingesetzt werden können. In einer Rechtfertigungsordnung kann man aber nur als »groß« gelten, wenn man nicht als reiner »Netzwerk-opportunist«, sondern im Dienste des Gemeinwohls handelt – das ist eine der normativen Einschränkungen. In der projektbasierten Polis muss man dementsprechend in der Lage sein, die anderen mitzureißen, indem man ihr Vertrauen gewinnt und durch die eigenen Visionen ihren Enthusiasmus weckt. Wer »groß« sein will, muss sein Team antreiben können, ohne es autoritär lenken zu müssen. Er muss zuhören können, tolerant sein und Unterschiede respektieren. Er muss nicht nur seine eigene, sondern auch die Beschäftigungsfähigkeit seiner Mitarbeiter fortentwickeln.
Aus diesem Bild lässt sich auch ableiten, wer im Gegenzug als »klein« gilt, wer also kaum in den Genuss der Wertschätzung durch andere kommen wird. Es handelt sich um jene, die sich nicht einzubringen wissen, weil sie kein Vertrauen erwecken, die nicht kommunizieren können, weil sie verschlossen sind, die -antiquierten Ideen anhängen und autoritär oder intolerant sind. Inflexibilität ist ihr größter Makel. Alles, was ihre Mobilität einschränkt, erhöht ihre Inflexibilität: etwa die Bindung an einen Beruf, eine Familie, eine Institution oder eine Region. Wer »klein« ist, befindet sich nicht auf der Suche nach Netzwerken und neuen Kontakten. Deshalb ist er von der Exklusion bedroht, die in der schönen neuen Netzwerkwelt dem sozialen Tod gleichkommt.
In der projektbasierten Rechtfertigungsordnung muss man, um »groß« zu werden, alles opfern, was die Verfügbarkeit einschränkt. Man muss darauf verzichten, ein Projekt zu haben, das das ganze Leben dauert (eine Berufung, ein Gewerbe, eine Ehe), und mobil bleiben. Man muss zum Nomaden werden. Um der Forderung der »Leichtigkeit« zu entsprechen, muss man auf jede Stabilität, Verwurzelung oder Bindung an Personen und Dinge verzichten. In diesem Sinne »leicht« zu sein bedeutet, keine institutionellen Verpflichtungen zu haben, der Autonomie den Vorzug vor der Sicherheit zu geben, aber auch sich vom Ballast der eigenen Leidenschaften und Werte zu befreien.
In einer solchen vernetzten Welt sind die Individuen primär durch ihre Verbindungen zu anderen definiert. Deshalb werden sie permanent von zwei Sorgen umgetrieben, die sie in entgegengesetzte Richtungen treiben: der Sorge, dass es ihnen nicht gelingt, neue Verbindungen zu knüpfen oder zumindest die alten zu erhalten, also marginalisiert und ausgeschlossen zu werden, und der Sorge, sich in der unüberschaubaren Vielzahl von Aktivitäten zu verlieren und damit die Einheit des eigenen Lebens, ja die eigene Existenz zu riskieren. Das angstbesetzte Erfordernis, man selbst zu sein, wird einem heute als moralischer Imperativ von Kindheit an eingebläut – setzt die Individuen in der gegenwärtigen Situation aber starken Spannungen aus. Die Selbstverwirklichung erfordert das Engagement in Aktivitäten und Projekten, deren vorübergehender und uneinheitlicher Charakter das Selbst der Gefahr des Wesensverlusts aussetzt. Zugleich findet das Individuum gerade in seinen Projekten ein Minimum an Identität, das es stets von neuem gegen die Gefahr der Fragmentierung in Stellung bringen kann.
Die Prekarisierung des Privatlebens und das -Projekt »Kind«
Die Kultur des Projekts bezieht sich primär auf die Welt der Unternehmen. Zugleich stellt sie jedoch ein allgemeines Muster dar, das sich auf zahlreiche andere Bereiche auszudehnen begonnen hat. Die Metapher des Netzes wird immer mehr zu einer allgemeinen Vorstellung der ganzen Gesellschaft. So beschreiben Probleme der Bindung, der Beziehung, der Begegnung, des Bruchs, des Verlusts, der Isolierung und der Trennung die gegenwärtigen Veränderungen des Privatlebens, insbesondere im Bereich der Intimbeziehungen und der Familie. Auch hier finden wir – ganz wie in der Arbeitswelt – eine zunehmende Spannung zwischen den Anforderungen der Autonomie und dem Verlangen nach Sicherheit.
Die Ausdehnung der Kultur des Projekts auf das so genannte Privatleben in seinen affektiven und intimen Dimensionen lässt sich etwa an der emotionalen, sexuellen und familialen Entwicklung schwangerer Frauen nachzeichnen – und an ihrer Entscheidung, das Kind zu bekommen oder abzutreiben. Der Prekarität der beruflichen Situation entspricht immer öfter die Prekarität der persönlichen Situation. Die als traditionell bezeichnete Form des emotionalen und sexuellen Lebens im Rahmen der Ehe wird zunehmend durch eine projektbasierte Organisation des Privatlebens abgelöst, die sich durch einen ständigen, aber komplexen Wechsel zwischen Zölibat, Zusammenleben, Ehe, Scheidung etc. auszeichnet.
Das unabweisbare Erfordernis, ein Sexualleben zu haben, das heute eine zumindest implizite Bedingung sozialer Normalität darstellt, hat dabei keineswegs »Libertinage« und »Ausschweifungen« zur Folge, sondern die Suche nach stabilen Bindungen, denen zumindest eine gewisse Dauer zukommt. Wie im Berufsleben – nur mit noch größerer Intensität – herrscht hier die Angst vor der Einsamkeit, vor der Exklusion von jeglicher Bindung. Deshalb wird der Moment des Übergangs von einer Beziehung zur anderen zu einer so furchterregenden (und zugleich aufregenden) Prüfung, wie das auch für den Übergang zwischen verschiedenen Projekten gilt. Und je älter man wird, desto wahrscheinlicher erscheint die Möglichkeit, marginalisiert und vom Zugang zur Intimität der Anderen ausgeschlossen zu werden.
Der Kinderwunsch und das Engagement in dem immer öfter tatsächlich so bezeichneten »Projekt der Elternschaft« muss heute mit Bezug auf die netzwerkbasierte Welt verstanden werden. Das Gleiche gilt für die Praxis der Abtreibung. Es geht hier um ein Projekt, das robuster, langlebiger und weniger leicht aufzulösen ist als die affektiven und professionellen Projekte, an denen man sich bisher beteiligt hat: das Projekt »Kind«. In einer konnektionistischen Welt wird dieses Projekt zu einem Bollwerk gegen die Fragmentierung und stellt einen vielversprechenden Weg auf der Suche nach einem »authentischeren« Leben dar. Eine solche »grundlose« und »nicht strategische« Entscheidung für eine Veränderung des eigenen Lebens, die durchaus »unbe-rechenbar« ist, steht im Gegensatz zu den gewöhnlichen, kurzlebigen, eigeninteressierten Entscheidungen, die sich alle – auch wenn sie nicht unmittelbar in Geld übersetzt werden können und es in ihnen um Personen und nicht um Dinge geht – jener für unsere Gesellschaften exemplarischen Entscheidung annähern: der Kon-sumentscheidung. Die Entscheidung für ein Kind soll den alltäglichen Entscheidungen entgegengesetzt werden, die sich dem Vorwurf aussetzen, unpersönlich, berechnend, standardisiert, unnatürlich, also: unauthentisch zu sein. Die Entscheidung gegen das Kind und für die Abtreibung kann hingegen als Reaktion auf das Scheitern des Projekts der Elternschaft verstanden werden, als dessen Abbruch aufgrund der mangelnden Bereitschaft der beteiligten Parteien, sich auf das Projekt wirklich einzulassen.
»Lechts und rinks« zwischen Ökonomie und -Bio-politik
Ein Grund für das Überleben des Kapitalismus liegt in seiner Anpassungsfähigkeit, etwa in seiner Fähigkeit, die Künstlerkritik durch eine Kultur des Projekts zu integrieren. Da der Kapitalismus von Grund auf amoralisch ist – er kennt keine andere Forderung als die der unbegrenzten Akkumulation von Kapital auf formell friedlichem Wege –, muss er sich einerseits zum Zwecke seiner Rechtfertigung auf andere Wertordnungen beziehen. Andererseits ermöglicht ihm gerade die Einbeziehung der gegen ihn gerichteten Kritiken die Selbsttransformation. So kann es kaum verwundern, dass auch der Kapitalismus »Autonomie« und »Befreiung« vor allem im Bereich der Sexualität einen immer größeren Wert zuspricht. Das wiederum führt zu einer solchen Komplexität der Strukturkonflikte der sozialen Welt, dass alte Trennungslinien – insbesondere die Unterscheidung von »rechts« und »links« – zu verschwimmen drohen. Diese Unterscheidung hat sich im vergangenen Jahrhundert entlang einer ökonomischen Achse entwickelt, auf der es insbesondere um Fragen der Eigentumsrechte und der Produktionsbedingungen ging. Auf -dieser Achse steht dem Wirtschaftsliberalismus, der Achtung individueller Rechte, der ökonomischen Autonomie sowie einem unternehmerischen Idealismus (»Wenn man wirklich Erfolg haben will, kann man es schaffen.«) auf der Rechten das Kollektiveigentum, die Betonung sozialer Rechte, der Determinismus (die soziale Position bestimmt über die Erfolgswahrscheinlichkeit) und der Materialismus der Linken gegenüber.
Für ein Verständnis der gegenwärtigen politischen Situation reichen die Fragen und Antworten, die auf der ökonomischen Achse entscheidend sind, jedoch nicht aus. Mit der Ausweitung des Kapitalismus auf die ehemals als »privat« bezeichnete Welt des Familien-, Sexual- und Gefühlslebens, die durch neue Biotechnologien noch beschleunigt wird, bildet sich ein neues Feld sozialer Kämpfe heraus, das man im Anschluss an Michel Foucault als biopolitische Achse bezeichnen kann: Hier geht es nicht um die Produktion von Gütern, sondern um die Produktion des Lebens, insbesondere menschlicher Wesen.
Einige der bemerkenswertesten und öffentlichkeitswirksamsten politischen Kämpfe des letzten Jahrzehnts finden sich auf dieser zweiten Achse – ob es nun um die Abtreibung, die gleichgeschlechtliche Ehe, die künstliche Fortpflanzung und überzählige Embryonen geht oder um noch viel zentralere Konflikte wie jene um die männliche Herrschaft oder die Gültigkeit der Zuschreibung von Geschlechteridentitäten. Diese Situation führt uns in folgende Paradoxie: Wechselt man von der ökonomischen auf die biopolitische Achse, so kehren sich die Unterscheidungsmerkmale zwischen rechts und links einfach um. Auf der biopolitischen Achse sind die gegenwärtig von der Linken vertretenen Positionen größtenteils ultraliberal. Sie betonen die individuelle Autonomie und das Recht eines jeden, mit dem eigenen Körper zu machen, was er oder sie will. Auch in der Dekonstruktion aller »natürlichen« Determiniertheiten – und damit jedes Bezugs auf die materiellen Bedingungen des menschlichen Lebens – liegt ein gewisser Idealismus. Im Gegensatz hierzu findet man auf Seiten der Rechten eine Betonung des kollektiven Charakters biopolitischer Entscheidungen, die nicht nur die einzelnen Individuen, sondern »das Schicksal des Menschengeschlechts« beträfen.
Auf der ökonomischen Achse richtet sich die Linke gegen die Kultur des Projekts, die auf eine bloße Ausweitung des Neoliberalismus reduziert wird, der man mit neuen institutionellen Garantien begegnen müsse. Auf der biopolitischen Achse zielt die linke Kritik hingegen gerade auf jene Positionen, ob sie nun von staatlicher oder gesellschaftlicher Seite kommen, die bestrebt sind, die Deregulierung und Entinstitutionalisierung der Reproduktionsbedingungen menschlichen Lebens zu begrenzen. Sobald es also nicht um die Arbeit, sondern das so genannte »Privatleben« geht, zeigt sich die Linke der Kultur des Projekts gegenüber keineswegs abgeneigt.
Diese Umkehrung der Positionen zwischen der Rechten und der Linken beim Übergang von der ökonomischen auf die biopolitische Achse ist sicherlich eine der Ursachen für die Schwächung der Kritik am Kapitalismus. Damit hindert sie jedoch auch die Wiederherstellung eines Feldes entschlossener sozialer Kämpfe, deren Ziel eine Neubestimmung der Formen der Produktion und der Konzeptionen der Produktivität, eine weniger ungerechte Verteilung des Zugangs zu elementaren sozialen Gütern und eine Verringerung der gegenwärtigen ökonomischen und sozialen Prekarität sein müsste. Wie sollte sich heute eine kohärente Kritik des Kapitalismus und insbesondere der neuen Formen der Ungleichheit und der Prekarität denken lassen, die mit Bezug auf die Logik des Projekts gerechtfertigt werden, wenn man nicht wahrnimmt, wie eng die kapitalistische Umstrukturierung der Arbeitswelt mit einem neuen Verständnis des Gefühlsund Sexuallebens zusammenhängt, das ebenfalls der Kultur des Projekts verpflichtet ist?
Natürlich wäre es ein schwerer Fehler, die ökonomischen Konflikte auszublenden und die ganze Aufmerksamkeit auf die biopolitischen Fragen zu richten. Aber auch deren Gewicht sollte man nicht unterschätzen, denn an den beiden extremen Enden der biopolitischen Achse entwickeln sich Fanatismen, die sehr wohl zu einer neuen Form der Barbarei führen könnten. Einer fundamentalistischen Barbarei steht dabei eine andere gegenüber, in der die Technologie dem Projekt einer unbeschränkten Befreiung zuarbeitet, das mit dem Kapitalismus gemeinsame Sache macht. Auch auf dieser Achse wird ein dritter Weg deshalb dringend benötigt.
Aus dem Französischen von Robin Celikates
Wiederabdruck
Der Text erschien zuerst im April 2007 in der zweiten Ausgabe der Zeitschrift polar. Magazin für Politik, Theorie und Alltag im Campus Verlag, www.polar-zeitschrift.de
[Dieser Text findet sich im Reader Nr. 1 auf S. 85.]