1. Seit Nietzsche vom Tod Gottes sprach, aber natürlich schon viel früher und eigentlich immer schon, hat sich Philosophie auf eine Negativität oder ein Absolutes bezogen, das sich als Leere auftut.
2. Als Leere oder als Abgrund.
3. Als Entzug des gegebenen Sinns.
4. Als Verschwinden der Realität inmitten der Realität oder als Realität.
5. Die Realität, die in sich verschwindet, hat Jacques Lacan mit dem Begriff des Realen markiert.
6. Es handelt sich um ein immanentes Außen; nicht um eine externe Äußerlichkeit.
7. Zu abstrahieren heißt, von der Äußerlichkeit abzusehen, um auf ein Außen zu blicken, das innen ist.
8. Weil das nicht leicht ist, überspannt die Philosophie oft den Bogen und die Sehne reißt.
9. Das Denken zerreißt in dieser Überspannung und fällt in sich zusammen.
10. Aber es gibt kein Denken, das dieser Gefahr ausweichen könnte.
11. Zum Denken gehört, dass es sich nicht auf sich verlassen kann.
12. Es muss sich von sich selber lösen, um Denken zu sein.
13. Ein Denken, das sich nicht selbst verließe, wäre nichts als Rekapitulation des bereits Gewussten und -Adressierung des bloß Wissbaren.
14. Es erstreckte sich auf nichts Neues.
15. Ohne Neugierde bliebe es ganz bei sich.
16. Denken aber heißt Weiterdenken, heißt, nicht aufhören zu denken, heißt, sich und seine Ergebnisse in Frage zu stellen.
17. Aber das Denken kann nur Fragen stellen, indem es welche beantwortet.
18. Es muss sich eingestehen, dass jeder Frage Antworten vorausgehen und dass die Frage selbst bereits eine Antwort darstellt.
19. Hierin kommen Wittgenstein und Derrida überein: Dass es ein Ja gibt, das jedem Nein vorausspringt, dass jede Frage auf eine Antwort antwortet, indem sie sie in Frage stellt.
20. Weiterdenken bedeutet, aus der Enge der sozialen, kulturellen und akademischen Doxa auszubrechen, um ins Offene zu gehen, wie man in eine Wüste geht.
21. Wer weiterdenkt, kommt nicht an seinen Ausgangspunkt zurück.
22. Es gibt Denken nur als katastrophisches Denken.
23. Das griechische Wort katastrophé meint den Umschlag oder die Umwendung.
24. In seiner Interpretation von Platons Höhlengleichnis taucht zwar das Wort katastrophé nicht auf, dennoch spricht Heidegger in ihr von der Umwendung.
25. Sie sei das „Wesen der paideia“.1
26. Paideia übersetzen wir gewöhnlich mit Erziehung und Bildung.
27. Was also haben Bildung und Erziehung mit der Katastrophe zu tun?
28. Dass Bildung und Erziehung wesenhaft katastrophisch sind, heißt zunächst, dass sie vom Subjekt, das kein Kind (pais) mehr sein muss, eine Umwendung -fordern.
29. Im Höhlengleichnis impliziert diese Umwendung die Zuwendung zum Eigentlichen, das die Ideen sind.
30. Voraussetzung dieser Zuwendung ist die „Wegwendung des Blickes von den Schatten“.2
31. Heideggers Pädagogik setzt mit Platon die Möglichkeit der Unterscheidung des Wahren vom Unwahren voraus.
32. Ist es so einfach?
33. Derselbe Heidegger, der das „Wesen der ‚Bildung‘“ im „Wesen der ‚Wahrheit‘“3 gründen lässt, sagt von der Wahrheit (aletheia = Unverborgenheit), dass sie in die lethe (Verborgenheit) zurückreicht: „Das Unverborgene muß einer Verborgenheit entrissen, dieser im gewissen Sinne geraubt werden.“ 4
34. Aber Heidegger sagt an anderer Stelle auch, dass das „Feld der lethe […] jede Entbergung von Seiendem und also Geheurem [verwehrt]. Die lethe läßt an ihrem Wesensort, der sie selbst ist, alles verschwinden.“5
35. Man verfehlt Heideggers Katastrophenpädagogik, solange man sie nicht mit diesem Verschwinden konnotiert.
36. Die lethé, so scheint es, gleicht einem schwarzen Loch.
37. Sie absorbiert nicht nur das Seiende, sie bringt noch sein Erscheinen oder seine Unverborgenheit zum Verschwinden.
38. Das ist die eigentliche Katastrophe: der Umschlag des Seienden ins Nichts.
39. Dieser Umschlag verweist auf das, was Heidegger als „Kehre im Ereignis“ mit der Gegenwendigkeit der Wahrheit assoziiert.
40. Der Begriff der Gegenwendigkeit ist einer der Kernbegriffe von Heideggers Hölderlinvorlesung Der Ister.
41. Er verweist auf die inhärente Spannung im Sein selbst, das mit dem Ereignis zusammenfällt, mit dem Begriff also, der, wie Giorgio Agamben sagt, „zugleich Zentrum und äußerste Grenze von Heideggers Denken nach Sein und Zeit darstellt.“6
42. Agamben hat den Begriff des Zeitgenossen mit einer Dialektik von Licht und Dunkelheit assoziiert: „Der Zeitgenosse ist jener, der den Blick auf seine Zeit richtet, indem er nicht die Lichter, sondern die Dunkelheit wahrnimmt.“7
43. Wie die Aufklärung und die Les Lumières und die Enlightenment genannten Momente des westlichen und außerwestlichen Denkens, hat die belichtete Realität die Tendenz ihre dunklen Seiten zu verdunkeln. Realität ist Realitätsverdunkelung.
44. Was Agamben Zeitgenossenschaft nennt, markiert eine gegenüber der Realität genannten Realitätsverdunkelung kritische Position.
45. Realistisch zu sein, heißt folglich, statt sich an Realitäten zu klammern, um sich ihrer Konsistenz und Kohärenz zu versichern, sich von ihnen zu lösen, um ihre Dunkelheit zu erspähen.
46. Ich will diesen um die Wahrnehmung der Irrealität von Realität erweiterten Realismus gesteigerten Realismus nennen.
47. Es ist ein Realismus, der – statt realitätsgläubig zu sein – realitätskritisch ist.
48. Er versagt sich die Option der Unterwerfung unter die Tatsachenautorität.
49. Es ist diese Versagung, die Agamben zu denken gibt, indem er den Zeitgenossen als Resistenzfigur evoziert.
50. Wirkliche Zeitgenossenschaft verweigert sich den Zeitgeistimperativen.
51. Sie stellt noch ihre Infragestellung in Frage, die oft zu kulturkonservativem Elitismus führt.
52. „Der Zeitgenosse“, schreibt Agamben, „ist der, der die Dunkelheit seiner Zeit als eine Sache wahrnimmt, die ihn angeht und ohne Unterlass interpelliert …“.8
53. Das macht aus ihm einen Zeitdiagnostiker, der den Diagnosen seiner Zeit misstraut.
54. Seiner Zeit zu misstrauen, ohne aufzuhören, sein Verhältnis zu ihr zu intensivieren, ist, was man die Idee der Bildung nennen kann.
1.) Martin Heidegger, Platons Lehre von der Wahrheit. Bern 1954 (2. Aufl.), S. 30.
2.) Ebd.
3.) Ebd.
4.) Ebd., S. 32.
5.) Martin Heidegger, Parmenides, GA 56. Frankfurt/M. 1982, S. 176.
6.) Giorgio Agamben, Kindheit und Geschichte. Frankfurt/M. 2004, S. 150.
7.) Giorgio Agamben, Qu’est-ce que le contemporain?, Paris 2008, S. 14.
8.) Ebd., S. 22.
[Dieser Text findet sich im Reader Nr. 2 auf S. 324.]