„Migrationshintergrund“: Der Blick nach hinten
Ein wichtiges Kriterium für die Qualität von Schulen scheint derzeit der Anteil ihrer Schüler/innen mit Migrationshintergrund zu sein. Gerade solche Schulen, deren pädagogische Leistungen mit Schulpreisen aus-gezeichnet wurden, geben auf ihren Homepages oft innerhalb der ersten Sätze den Prozentsatz ihrer Schülerschaft mit Migrationshintergründen an. Trotz der schwierigen Bedingungen und großen Herausforder-ungen, so die Botschaft, gelänge ein guter Unterricht und die Integration. Eine Informationsseite zu allen Berliner Sekundarschulen, aufgrund derer Eltern die gewünschte Schule für ihre Kinder wählen können, -listet gar als einziges ausgewiesenes Kriterium den -Anteil der „Schüler mit Migrationshintergrund“ zu jeder einzelnen Schule in aufsteigender Reihung auf, von der Wilhelm-Bölsche-Schule mit 0,0% bis hin zur Hector-Peterson-Schule mit 97,2%. In beiden Verwendungszusammenhängen erscheint der Migrationshintergrund als grundsätzlich problematisch, sowohl wenn er als herausfordernder Erprobungsfall für die -Pädagogik oder als struktureller Belastungsfaktor -dargestellt wird.
Vom „Migrationshintergrund“ zu sprechen, wird durch eine Definition des Mikrozensus legitimiert, der unter diesem Begriff alle nach 1949 ins Bundesgebiet Eingewanderten, alle hier geborenen Ausländer oder hier geborenen Deutschen mit mindestens einem ausgewanderten oder ausländischen Elternteil gezählt werden.1 Demnach zählt die 23-jährige Deutsche, die in Köln Lehramt studiert, deren nichtdeutsche Eltern ebenfalls in Deutschland als Nachfahren von Migranten geboren sind, als Mensch mit Migrationshintergrund – auch wenn die Erfahrung der Migration bereits ein halbes Jahrhundert und zwei Generationen zurückliegt. Der Migrationshintergrund wird vererbt, und er ist -nationalstaatlich definiert.
Die Klarheit der Definition verschleiert dabei jedoch, dass „Migrationshintergrund“ nicht nur statistische Daten, sondern auch in massiver Weise Wertungen und Voreinstellungen transportiert: Im Sprechen über Menschen mit Migrationshintergrund werden wirkungsvoll Verhältnisse von Ungleichheit reproduziert, im Sinne eines „Dispositivs der Macht“2. Denn das Denken und Sprechen über den Migrationshintergrund kreist dabei um eine zentrale Idee: Es gäbe auf der einen Seite die Menschen ohne Migrationshintergrund und auf der anderen Seite solche mit Migrationshintergrund, was einen lebenspraktischen Unterschied ausmache. Auf der einen Seite stehe, diesem binären Denken nach, die Mehrheit und auf der anderen die Minderheit, die kulturell anders und fremdartiger Herkunft sei, andere Sprachen spräche und abweichende Bilder kenne. Da diese Andersartigkeit als problematisch gilt, müsse sie pädagogisch berücksichtigt werden, zum Beispiel durch Integration der Anderen, durch besondere Förderung oder zumindest durch anerkennende Wertschätzung ihrer kulturellen Besonderheit.3 Der dominante Diskurs über den Migrationshintergrund vertieft oder erzeugt also etwas: die Andersartigkeit der Anderen („Othering“).
Zwar ist nominell längst die Orientierung an der -Unterschiedlichkeit zugunsten der entgegengesetzten Idee der Inklusion aufgegeben (wenn auch eher mit -Aufmerksamkeit für Menschen mit Behinderung und weniger für kulturelle Vielfalt). Dennoch wirken unter dem Schlagwort der Interkultur in weiten Teilen pädagogischer Praxis und pädagogischer Entwürfe immer noch die aus den 1970er- bis 90er-Jahren stammenden Leitideen von migrantischer Fremdheit, kultureller Differenz, Integrationsbedarf und der nötigen Anerkennung fremder Kulturen.4
Migrationshintergrund zu haben, ist für Schüler/in-nen meist eine Bürde, da diese Disposition generalisierend mit sozialen und pädagogischen Problemen gleichgesetzt wird und andere Mechanismen der Ungleichheit, die z. B. politischer oder ökonomischer Natur sind, verschleiert. Da diese Bürde vererbt wird, werden Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund auf ihre Herkunft festgelegt. Rückwärtsgewandt kann somit ihre fremdländische Abstammung zementiert und ihre kulturelle Gegenwart belastet werden. Ihre Lebenswelt, Bildungschancen und Orientierungen werden somit im Lichte der Familienvergangenheit betrachtet und bewertet. Es ist ein Blick nach hinten, der Schüler/-innen auf die Vergangenheit fixiert – gleichgültig, welche Relevanz diese wirklich in den aktuellen Lebenswelten hat. Die kulturalisierende Fixierung auf die Herkunft lindert auch in gut gemeinten interkulturellen Projekten nicht immer Ungerechtigkeit, sondern vertieft sie ungewollt.
„Postmigrantisch“: What’s Next?
Der Migrationshintergrund ist jedoch längst nichts -Besonderes oder Ungewöhnliches mehr: In den bundesdeutschen Städten machen die Kinder unter sechs Jahren mit Migrationshintergrund die Mehrheit aus. Die wenigsten von ihnen sind selbst eingewandert, sie leben meist in der zweiten oder dritten Migrationsge-neration in Deutschland. Erol Yildiz bezeichnet in -Anlehnung an Şerim Langhoff vom Ballhaus Naunynstraße die Lebenswirklichkeit dieser Kinder und Jugendlichen nach der Migration als „postmigrantisch“.5 Mit dieser alternativen Bezeichnung ist ein Blickwechsel verbunden: weg von der fraglosen Vorannahme, dass Jugendliche mit Migrationshintergrund der Kultur der früheren Herkunftsländer entsprechen, hin zu der Frage, wie die kulturelle Gegenwart von Postmigranten tatsächlich beschaffen ist. Wie also leben Kinder und -Jugendliche nach der Migration, wie verorten sie sich in der Gesellschaft und Kultur und welche Zugehörigkeiten pflegen sie? Das Repertoire an Einflüssen und Horizonten, aus denen heraus sie ihre kulturelle Gegenwart gestalten können, ist oft sehr breit und vielfältig: Meist kennen sie noch die Erzählungen, Bilder, Sprachen und Bräuche aus den Herkunftsregionen und wertschätzen sie als Teil der Familiengeschichte. Simultan dazu sind sie aber Teil der deutschen Bildungsinstitutionen und leben inmitten der längst transkulturellen alltäglichen Normalität mit ihren globalisierten Kaffeehäusern, Bekleidungsläden und ausdifferenzierten Musikrichtungen. Sie sind also in hohem Maße von der allgemeinen kulturellen Umwelt geprägt und in den unspektakulären Alltagswirklichkeiten sozialisiert.
Es gibt verschiedene Formen und Handlungsfreiheiten, wie postmigrantische Kinder und Jugendliche mit der Vielheit der Einflüsse und Kontexte umgehen, wobei das soziale Milieu eine wesentliche Rolle spielt.6 Jedoch nur wenige entsprechen der viel zitierten Metapher, dass sie „zwischen den Stühlen“ sitzen oder zwischen zwei Kulturen zerrieben werden.7 Viele haben längst kreative Lebensentwürfe entwickelt, um aus der Vermischung der kulturellen Einflüsse heraus eine neue, ihre eigene Lebenswelt zu gestalten und sich selbstbestimmt in der gesellschaftlichen und kulturellen Wirklichkeit zu verorten. Es geht dabei nicht darum, sich vor die Wahl stellen zu lassen, sich für die eine kulturelle Identität (alte = Ghettobildung) oder die andere (neue = Assimilation) entscheiden zu müssen. Vielmehr balancieren diese Jugendlichen die verschiedenen Zugehörigkeiten kreativ aus, leben sie simultan und basteln aus den kulturellen Überschneidungen, Grenz- und Zwischenräumen heraus hybride Selbstverständnisse und neue Bilder: ein transkultureller Remix der Bildwelten und -Lebenswelten.8
Postmigrantisch zu sein, bedeutet nicht nur ein rein zeitlich begriffenes Danach. Es bedeutet keinen spurenlosen Bruch zur Migrationsgeschichte oder völligen Paradigmenwechsel. Die Erweiterung Post- bedeutet, dass die Zugehörigkeiten nicht kontinuierlich fortgeführt, sondern neu strukturiert werden. Postmigrantische -Jugendliche setzen sich mit der familiären Herkunft und der Migrationsgeschichte auseinander und denken neu darüber nach, sie mischen die kulturellen Kontexte aus altem und aktuellem Material mit ganz anderen Fundstücken und erfinden neue Identitäten.9 Zugehörigkeiten sind also oft nicht ethnisch vorgeprägt, nationalstaatlich definiert oder werden vererbt, wie der Begriff „Migrationshintergrund“ impliziert. Die Verortungen in der komplexen Gegenwartskultur mit ihren simultanen Zugehörigkeiten sind zu einer Gestaltungsaufgabe geworden, die postmigrantische Jugendliche -facettenreich angehen.
Postmigrantisch zu sein lässt sich jedoch nicht nur auf Menschen mit Migrationshintergrund beziehen, -sondern wirft auch ein neues Licht auf die allgemeine kulturelle Gegenwart: Şermin Langhoff grenzt in einem Interview die allgemeine Alltagskultur klar von einer -Situation ab, „in der zwei oder mehr voneinander völlig getrennte und innerlich homogene ‚Kulturen‘ einander gegenüberstehen – sagen wir eine abendländische und eine orientalische – und mühsam Beziehungen knüpfen. Das hat nichts mit der Realität Europas und der Bundesrepublik im 21. Jahrhundert zu tun. Kein Mensch, den ich kenne, gehört einem einzigen, geschlossenen Kul-turraum an. Unser wirkliches Leben ist schon längst transkulturell und translokal, und zwar jenseits von Herkunft.“10 In der Tat ist unser aller Leben in hohem Maße von Phänomenen der Wanderung und der Entgrenzung geprägt: Nicht nur unsere tatsächliche Mo-bilität in Alltag, Freizeit und Beruf hat erheblich zugenommen. Gerade die Globalisierung von Gütern, Ideen und Verhaltensweisen wirkt als Motor einer zunehmenden Verschleifung kultureller Grenzen. Regulierten sich kulturelle Bildbestände einst durch ihre regional-räumliche Zugänglichkeit und Präsenz, so sind im Zuge der Digitalisierung zunehmend unräumliche, entgrenzte Strukturen von Medien, Szenen, Milieus und Marketing an deren Stelle getreten. Das Leben jedes Einzelnen konstituiert sich durch diese Zusammenhänge ganz anders, als dies noch vor wenigen Jahrzehnten der Fall war.11 Vor dem Hintergrund der globalen Entwicklungen wird deutlich, dass der Lebenswandel und die -relevante Kultur aller Individuen, mit und ohne Migra-tionshintergrund, insgesamt von ganz verschiedenen Phänomenen der Wanderung, der Vermischung und Überlagerung durchwirkt ist, weswegen Paul Mecheril von einer Migrationsgesellschaft spricht.12 Postmigrantisch bezeichnet also einen Zustand aktueller Kultur in der Migrationsgesellschaft. Die Kultur selbst verändert sich also als das gemeinsame Bezugssystem.
Diese postmigrantische Situation bedeutet jedoch keine globalisierte Vereinheitlichung auf den kleinsten gemeinsamen Nenner. Identitätsrelevante Zugehörigkeiten und Grenzen spielen durchaus weiterhin eine Rolle, gerade für Jugendliche. Aber sie sind für viele prinzipiell zwischen Herkunft und Zukunft, zwischen Globalität und Lokalität verhandelbar.13 Sie werden zu einer Gestaltungsaufgabe, die aus dem Baukasten der postmigrantischen Kultur und des globalen Bilderpools schöpft. Eine nächste Kunstpädagogik (besser jedoch -bereits die aktuelle) steht vor der Aufgabe, diese post-migrantische Erzeugung von Kultur wahrzunehmen. Sie muss achtsam werden für die Aushandlungsprozesse, Grenzverschiebungen und Erzeugung neuer Selbst- und Weltbilder im gegenwärtigen Bildhandeln Jugendlicher. Es gilt nun, die lebensweltliche Lust des Bastelns von eigenen Zugehörigkeiten aufzugreifen, Räume dafür zu schaffen und in Bildungsprozessen zu begleiten. Aktuelle Kunstpädagogik, die ihren Kulturbegriff schärft, kann ein hervorragendes Feld der Gestaltung und Reflexion kultureller Gegenwart im Wandel sein.
1.) Statistisches Bundesamt Deutschland, Bevölkerung und Erwerbstätigkeit. Bevölkerung mit Migrationshintergrund – Ergebnisse des Mikrozensus 2005. Fachserie 1, Reihe 2.2. Wiesbaden 2009. www.destatis.de/DE/Publikationen/Thematisch/Bevoelkerung/MigrationIntegration/Migrationshintergrund2010220057004.pdf?__blob=publicationFile [01.07.2014]
2.) Michel Foucault, Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit. Berlin 1978.
3.) Paul Mecheril, „Über die Kritik interkultureller Ansätze zu uneindeutigen Zugehörigkeiten – kunstpädagogische Perspektiven“, in: Barbara Lutz-Sterzenbach, Ansgar Schnurr, Ernst Wagner (Hg.), Bildwelten remixed. Transkultur, Globalität, Diversity in kunstpädagogischen Feldern, Bielefeld 2013, S. 27–36, hier S. 30.
4.) Vgl. Arnd-Michael Nohl, Konzepte interkultureller Pädagogik. Eine systematische Einführung. Bad Heilbrunn 2010; Ernst Rebel, „Kontakte und Konflikte. Zur Vorgeschichte der interkulturellen Kunstpädagogik in Deutschland (1900-2000)“, in: Lutz-Sterzenbach et al. 2013, a. a. O., S. 111–129.
5.) Erol Yildiz, „Die Öffnung der Orte zur Welt und postmigrantische Lebensentwürfe“, in: Sozialwissenschaftliche Studiengesellschaft (Hg.), SWS Rundschau 3/2010, Wien, S. 318–339; Erol Yildiz, Die weltoffene Stadt. Wie Migration Globalisierung zum urbanen Alltag macht. Bielefeld 2013.
6.) Ansgar Schnurr, „Soziale Skripte. Milieubedingte Weltsichten in der Kunstpädagogik vermessen“, in: Sidonie Engels, Ansgar Schnurr und Rudolf Preuss, Feldvermessung Kunstdidaktik. Positionsbestimmungen zum Fachverständnis, München 2013, S. 273–288; Mecheril 2013, a. a. O., S. 34.
7.) Yildiz 2010, a. a. O., o. P.
8.) Vgl. Lutz-Sterzenbach et al., a. a. O.; Wolfgang Welsch, „Was ist eigentlich Transkulturalität?“, in: Dorothee Kimmich, Schamma Schahadat (Hg.), Kulturen in Bewegung.
9.) Vgl. Ansgar Schnurr, Fremdheit loswerden – das Fremde wieder erzeugen. Zur Gestaltung von Zugehörigkeiten im Remix jugendlicher Lebenswelten. In: Lutz-Sterzenbach et al. 2013, a. a. O., S. 69–85.
10.) Langhoff, zit. n. Arun Frontino, „Postmigrantische Gesellschaft Behaupten, eine neue Perspektive auf die Szene Europa“, in: Andere Europas, 2012. http://othereuropes.hu-berlin.de/forschung/Postmigrantische%20Gesellschaft%20im%20Ballhaus%20Naunynstrasse [12.02.2014]
11.) Lutz-Sterzenbach et al. 2013, a. a. O., S. 14–15.
12.) Mecheril 2013, a. a. O.
13.) Yildiz 2010, a. a. O., o. P.
[Dieser Text findet sich im Reader Nr. 2 auf S. 301.]