Ein kleines Mädchen steht vor einem einer Supermarktkasse nahen Turm gestapelter, mit Überraschungseiern beladener Paletten und versucht wiederholt, diese mit Hilfe seiner Finger abzuzählen. Diese Methode erweist sich allerdings nur solange als zielführend, wie die Addition der einzelnen Elemente die Anzahl der Finger nicht übersteigt. Immer wieder kommt das Mädchen so im Dezimalbereich durcheinander und bricht die Zählungen ab, um sie kurz darauf wieder mit „eins“ erneut zu beginnen. Ein höflicher Mann tritt heran. Schnell erfasst er die Breite und Tiefe der auf den einzelnen Paletten stets identisch angeordneten Staffelungen und Reihen, multipliziert sie zuerst miteinander, dann mit der Anzahl der gestapelten Paletten, subtrahiert im Anschluss die Leerstellen (bereits verkaufter Eier) auf der obersten Warenpalette und schließt: „386“. Das kleine Mädchen nimmt die Lösung gleichmütig hin. Denn da diese den ihr bekannten Raum in Rhythmen und Reihen nachvollziehbarer Zahlen verlassen hat, ist sie letztlich so gut oder schlecht wie jede andere Lösung.
„Weißt du, wie alt ich bin?“, beginnt das kleine Mädchen das weitere Gespräch. Da es dem höflichen Mann unangemessen scheint, hier zu raten, gesteht er seine Unwissenheit. „Vier Jahre“, verkündet das Mädchen, ihre Zahl durch das Herausstrecken von vier Fingern ihrer rechten Hand vermittelnd: „Eins, zwei, drei, vier!“, womit sie mit jedem Element dieser Reihung zugleich den Beweis seiner Gültigkeit und denjenigen ihres Erfassungssystems vorführt. Der Mann bemüht sich die Methode des Mädchens in ihren einzelnen Schritten korrekt zu wiederholen: „Vier Jahre! Eins, zwei, drei, vier!“ zählt er an den Fingern seiner rechten Hand ab. „Ja, vier!“, bestätigt sie gutgelaunt. Mit einem zustimmenden Nicken erkennt der Mann die Zahl und die dazugehörige Methode des kleinen Mädchens an. Doch nach diesem Einvernehmen schleichen sich Anzeichen des Unheimlichen ein, verweben sich kaum merklich mit den Strickmustern des Vertrauten, als der höfliche Mann je zwei Finger seiner rechten und zwei Finger -seiner linken Hand hebt und folgende Frage stellt: „Vier?“ – „Nein!“, lacht das kleine Mädchen. Das kann nur falsch sein. Und während sie ihm nachdrücklich vier Finger ihrer rechten Hand entgegenstreckt, beschwört sie in Rhythmus und Reihung die bekannte Formel: „Eins, zwei, drei, vier. Vier!“ Daraufhin geschieht das Unmögliche: Der höfliche Mann wiederholt die Worte korrekt in Takt, Rhythmus und Betonung, wobei er – und in diesem Moment bricht der Andere mit all seinen Attributen abgrundtiefer Erschütterung herein – die jeweils zwei ausgestreckten Finger seiner rechten und seiner linken Hand in einem durchzählt und sie so als „Vier“ klassifiziert. Das Mienenspiel des kleinen Mädchens zeugt von tiefer Verunsicherung. Schließlich gibt sie dem Impuls nach, sich hinter die undurchsichtige Formation gestapelter Ü-Eier zurückzuziehen. Hier wiederholt sie – geschützt vor dem Blick des Anderen – dessen Unmöglichkeit: Sie streckt je zwei Finger ihrer rechten und zwei Finger ihrer linken Hand aus und zählt sie in einem ab. Die Verunsicherung steigt, als sie zu seinem Ergebnis kommt: „Eins, zwei, drei, vier. Vier!“ Schockiert senkt sie zwei Finger der linken Hand und hebt stattdessen rasch zwei weitere Finger der rechten, wobei sie beginnt, die weitere Gültigkeit der altbekannten Formel gesicherten Wissens daran zu überprüfen. „Eins, zwei, drei, vier. Vier!“ Erleichtert atmet sie auf: Es sind noch immer vier. Also muss nun die unmögliche, andere Zählweise eingehend geprüft werden. Doch auch diese bleibt am Ende „vier“ – so oft sie die Erfahrung auch wiederholt. In der Wiederholung büßt diese die letzten Reste Unmöglichkeit ein und gewinnt mit zunehmender Wiederholung Selbstverständlichkeit …
Anhand dieser Anekdote lässt sich die Rolle des Anderen bei der Bildung von Heterotopien als Denkräume im Sinne Foucaults, sowie deren Bedeutung für kunstpädagogische Lernprozesse veranschaulichen. Der in der Anekdote geschilderte Lernprozess durchläuft jene Phasen der Aneignung1, wie sie Jean Piaget für die Struktur sämtlicher Lernprozesse (durch gegenseitige Anpassung) als konstituierend beschreibt. Er formuliert diese als „Assimilation der Dinge an den Verstand und ebenso eine an den komplementären Prozess der Akkommodation.“2 Halten sich Assimilation und Akkommodation in einem gewissen Gleichgewicht, so ergänzen und verstärken sie einander, da „die Anpassung eine Wechselwirkung zwischen Individuum und Objekt, derart erfordert, dass das erstere sich das letztere aneignen kann, wobei es dessen Eigenschaften berücksichtigt; und die Anpassung ist um so wirksamer, je mehr Assimilation und Akkommodation differenziert sind und je mehr sie einander ergänzen.“3 Stellt sich das beschriebene Gleichgewicht nicht ein, so verlieren In- und Gehalte entweder (durch ein Übermaß an Subjektivierung) den Garant ihrer objektiven Gültigkeit oder aber der subjektive Zugang misslingt.
Das Mädchen wird mit einer Veränderung konfrontiert, welche ein System etablierter Methoden und (scheinbar) gesicherten Wissens in Frage stellt. Und so ist die (exemplarisch geschilderte) Begegnung mit dem Anderen eine Grenzerfahrung, da die eigene Denk- und Vorstellungswelt an ihre Grenze geführt wird. Momente der Unsicherheiten müssen ein Stück weit ertragen, der eigene Widerstand muss überwunden werden.4 Die Möglichkeit der gelungenen Begegnung öffnet dabei vor allem das Interesse, wie es in dem kleinen Mädchen durch Ermangelung, eine in ihrem Vorhandensein wahrgenommene Ordnung (der Überraschungsei-Formation) in ihrer Verworrenheit auf etabliertem Weg zu durchdringen, geweckt wurde: „[…] das echte Interesse tritt auf, wenn das Ich sich mit einer Idee oder einem Objekt identifiziert, wenn es darin ein Ausdrucksmittel findet und sie zu einem notwendigen Stoff für seine Aktivitäten werden.“5 Obwohl der Problemzusammenhang am Ende nicht vollständig gelöst wird, erscheint er nun (in Anbetracht der bloßen Möglichkeit von Multiplikation als Auflösung und Potenz von Reihungen) weniger verworren. Im Laufe des Prozesses tritt so ein Gleichgewicht zwischen subjektiven und objektiven Elementen, zwischen Assimilation und Akkommodation ein, welches die aktuelle Lernbewegung zunächst schließt (und somit weitere ermöglicht). „Wichtig […] ist [dabei allerdings] nicht das Gleichgewicht als Zustand, sondern der Äquilibrierungsprozess selbst. Das Gleichgewicht ist nur ein Resultat, der Vorgang als solcher besitzt das größere Erklärungsvermögen.“6 Dieser Vorgang findet auch auf Seiten des höflichen Mannes statt. Denn er war gezwungen, sich den Standpunkt des Mädchens (ein Stück weit) zu seinem eigenen zu machen und mit dem zu erlernenden System (gewissermaßen „vom Standpunkt der Regeln aus“7) zu verbinden, um so eine zentrale Bedingung pädagogischen Handelns zu erfüllen.
Da das in der Anekdote als Unmöglichkeit bezeichnete (durch die plötzliche Einführung einer unbekannten Bewegung im Bereich von Klassifikationen und Reihen aufgetretene) Ungleichgewicht „die Handhabung des Gleichen und des Anderen schwanken lässt und in Unruhe versetzt“8, ist es als Form der Heterotrophie zu bezeichnen: Denn obwohl sich die verschiedenen Gebiete eines Wissensbereiches durch Prüfung als richtig erwiesen, schien es zeitweise unmöglich sie in einem sinnvollen Ordnungsraum zu verbinden. Klare Benennungen und Zuordnungen waren für den Moment nicht länger haltbar, zuvor funktionierende Klassifikationssysteme und selbstverständliche Reihungen verloren zunächst ihre Legitimation. Denn durch ein Aufeinandertreffen differenter Elemente öffnen sich Denk- und Erfahrungsräume, welche die Notwendigkeit ständiger Neustrukturierung und Erweiterung bereits erworbener Wissens- und Handlungsbereiche verdeutlichen, so wie sie in der Lehrerbildung auch als Ideal einer forschenden Grundhaltung erscheinen9. Gleichzeitig bieten die entstehenden Denk- und Erfahrungsräume das Potenzial einer hohen methodologischen Reflexion, da sie darauf verweisen, auch im Automatismus alltäglicher Anwendung selbstverständliche Strategien, Annahmen und Herangehensweise immer wieder zu thematisieren/hinterfragen.10 Das klassische Territorium der Heterotopie ist die Kunst. Es gehörte von jeher zu den Attributen der Kunst, Unsagbares auszusprechen, Unvereinbares zu vereinen/Untrennbares zu trennen, zu verunsichern, zu irritieren und zu erstaunen. Heterotopien „trocknen das Sprechen aus, lassen die Wörter in sich selbst verharren, bestreiten bereits in der Wurzel jede Möglichkeit von Grammatik“11, weshalb sie jenseits der Sprache von grammatischer Logik und der Eindeutigkeit der Zuordnung von Zeichen und Bezeichnetem die Form einer anderen Sprache finden müssen. Eine (Un-)Möglichkeit solchen Sprechens bietet die Kunst. Sie ist konstituie-render Teil vieler ihrer neuerer und älterer Werken. Sie ist aber auch Teil einer Beschäftigung mit Kunstgeschichte, in der wir ständig mit Produkten eines zeitlich differenten, anderen Denkens und damit verbun-dener anderer Weltanschauungen konfrontiert sind, oder wie sie auch in der Begegnung mit dem (räumlich differenten) kulturell Anderen in Form von nichteuropäischen Kunstwerken und ihrer Referenzsysteme -ent-halten ist. Sie schult all diesem gegenüber im reflektierenden Umgang und produktiver Adaption. Sie pointiert dies in der kunstpädagogischen Praxis im Zusammentreffen von Milieus und/oder Institutionen.12
Dabei ist die Möglichkeit der Heterotopie eng mit dem Kerngeschäft der Kunstpädagogik (nämlich sinn-licher Wahrnehmung und ästhetischen Erfahrung) -verbunden. Denn die Entwicklungspsychologie geht davon aus, dass Kinder Objekte „schon nach gewissen Ähnlichkeitsbeziehungen wahrnehmen, bevor sie -beginnen zu klassifizieren oder Reihen zu bilden“13. Diese (Ordnungs-)Systeme von Welterfassung sind -bereits in der Wahrnehmung selbst angelegt, da sie -„Beziehungen und nicht nur isolierte Einzelheiten herausgreift, deren Inbeziehungsetzen auf spätere Mechanismen (Assoziationen, Urteile usw.) zurückgeht.“14
Kunsterzeugnisse sind modellhafte Formen in Spiel mit und Arbeit an diesen Mechanismen des Wahrnehmbaren (in Adaption und Akkommodation). Sie thematisieren deren Funktion und geben so die Möglichkeit (ebenfalls im Lernprozess), eine Beschäftigung mit diesen am Modell bis hin zur Unruhe in der Handhabung des Gleichen und des Anderen erfahren zu können. Damit hält im gegenwärtigen Fächerkanon gerade die Kunstpädagogik (Un-)Möglichkeiten offen, die mit zunehmendem Alter ein eigenes Referenzsystem benötigen, da sie im Alltag längst aus den Türmen von Warenpaletten an den Supermarktkassen verdrängt wurden und sich Systeme welterfassender Klassifikation und Reihung in ihrer Anwendung derart etabliert haben, dass sie sich nicht mehr an einer Hand hinterfragen und neustrukturieren lassen.
1.) Die somit einhergehend zunehmenden dispositiven Denk- und Handlungsoptionen entsprechen dabei dem, was in der aktuellen Lernforschung auch als Kompetenzen bezeichnet wird. (Vgl. Franz E. Weinert, „Metakognition und Motivation als Determinanten der Lerneffektivität: Einführung und Überblick“, in: Franz E. Weinert, Rainer H. Kluwe (Hg.), Metakognition, Motivation und Lernen, Stuttgart 1984, S. 9–20.)
2.) Jean Piaget, Theorien und Methoden der modernen Erziehung. Wien/München/Zürich 1972, S. 162.
3.) Ebd., S. 157.
4.) Als Gegenpol zum Interesse (s. u.) mobilisiert der Widerstand schützende Abgrenzung des Ichs von Ideen und Objekten, denen gegenüber ein gegenseitiger Anpassungsprozess seine Struktur überfordert. Dies manifestiert sich in der Aktivität des Aufrechterhaltens von Abwehrmechanismen. Widerstand ist also Teil jedes Lernprozesses, der Umgang mit ihm bleibt entscheidend.
5.) Piaget 1972, S. 162.
6.) Ebd., S. 282.
7.) Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge. Frankfurt/M. 1971, S. 15.
8.) Ebd., S. 17.
9.) „Hochschulausbildung soll die Haltung forschenden Lernens einüben und fördern, um die zukünftigen Lehrer zu befähigen, ihr Theoriewissen für die Analyse und Gestaltung des Berufsfeldes nutzbar zu machen und auf diese Weise ihre Lehrtätigkeit nicht wissenschaftsfern, sondern in einer forschenden Grundhaltung auszuüben.“ Wissenschaftsrat, Empfehlungen zur zukünftigen Struktur der Lehrerausbildung. Berlin 2001, S. 41, www.wissenschaftsrat.de/download/archiv/5065-01.pdf [2.10.2014]
10.) Vgl. ebd., S. 22.
11.) Ebd., S. 20.
12.) Mit JULY, IV, MDCCLXXVI. Über die Möglichkeit Kunstpädagogik vom Kind aus zu denken beschreibt Brenner beispielhaft ein gelungenes kunstpädagogisches Experiment, welches verschiedene der hier genannten Zugänge in ihrer Anwendung kohärent verbindet. Vgl. Andreas Brenne, „JULY, IV, MDCCLXXVI. Über die Möglichkeit Kunstpädagogik vom Kind aus zu denken“, in: Andreas Brenne, Andrea Sabisch, Ansgar Schnurr (Hg.), revisit. Kunstpädagogische Handlungsfelder. #teilhaben #kooperieren #transformieren, München 2012.
13.) Jean Piaget, Die Entwicklung der elementar logischen Strukturen. Teil I, hg. v. Werner Loch, Harm Paschen, Gerhard Prisemann, Düsseldorf 1973, S. 25.
14.) Ebd.
[Dieser Text findet sich im Reader Nr. 2 auf S. 154.]