Bildung im nachfolgend fokussierten Sinne, nämlich als prozessuales Geschehen, ist nicht Bildung von oder über „etwas“, wie es beim Lernen der Fall ist. In bildungstheoretischer Einstellung geht es primär um die Beobachtung von Prozessen der Entstehung und Transformation von Selbst- und Weltverhältnissen.1 Bildungsprozesse sind zunächst solche, in denen sich eine – immer in kulturelle und soziale Praktiken eingebettete, von diesen in ihrer Form prästrukturierte, initiierte, dem Individuum aufgetragene – selbstreflexive Beziehung zu sich herausbildet. Der Beobachter wird zum Selbstbeobachter. Dies ist jedoch eine Struktur, die in ihren historisch variierenden Formen, wie sie etwa und vor allem Michel Foucault herausgearbeitet hat,2 als Ergebnis von Praktiken erkennbar ist. Es geht hier mithin nicht um eine abstrakte, gar ein kognitiv reduzierte Beobachterinstanz, sondern um Praktiken, die jeweils unterschiedliche -Formen eines konstitutiven und transformativen Selbstbezugs, also Formen von Reflexivität, darstellen. In solchen prozessualen Praktiken, die also nicht als von einem autonomen Subjekt ausgehen, sondern es konstituieren, und die mithin als Prozesse der Subjektivation3 verstanden werden müssen, werden die verschiedenen historisch beobachtbaren kulturellen Formen von Subjektivität herausgebildet.4 Bildung ist also vor diesem Hintergrund differenztheoretisch zu denken; sie ist nicht in einem Outputmodell oder einem Kompetenzkatalog „feststellbar“. Nicht ein vorgängig vorhandenes Subjekt „setzt“ sich Bildungsziele in einer je schon vorhandenen Welt (oder bekommt solche von außen vorgegeben); nicht ein vorgängig vorhandenes Subjekt „eignet“ sich Welt an; vielmehr gehen aus Bildungsprozessen Formen von Subjektivität und Weltbezügen immer wieder neu hervor, die zudem als historisch und kulturell veränderlich gedacht werden.
Wie aber lässt sich dieses Moment des „Neuen“ an -Bildungsprozessen begreifen, wie man mit Christoph Koller5 fragen muss? Diese Frage ist zunächst eine Frage der Prozessform. Das Entstehen von Neuem kann zum Beispiel, wie Koller aufzeigt, als a) Prozess der Negation, als b) emergente Abduktion, als c) hermeneutische Bewegung oder als d) disseminative Dekonstruktion verstanden werden. Diese vier Figurationen ließen sich nun als deskriptive, sozusagen heuristische Hilfsmittel betrachten, mit denen sich dann etwa Bildungsprozesse des Typs a), b), c) oder d) empirisch beobachten und -qualifizieren lassen. Oder aber sie lassen sich als nor-mative – sozusagen strukturnormative – Prozesstypen betrachten, so dass man etwa von „Bildung“ nur dann sprechen solle, wenn ein reflexiver Prozess zu einer -Dekonstruktion vorhandener Erkenntnismuster führt, wohingegen eine bloße Negation (eine bloße theoretische „Falsifikation“ einer Sichtweise), eine bloße Abduktion („Erkenntnisblitz“), eine bloße Kette von Auslegungen noch nicht als Bildung verstanden werden sollen. Interessant ist in beiden Perspektiven der Gedanke, dass man zwischen unterschiedlichen Strukturqualitäten von Bildungsprozesstypen differenzieren kann – und wohl auch muss.
Es ist hier nicht zu vertiefen, aber vor diesem Hintergrund unschwer nachvollziehbar, dass ein in Bildungsprozessen entstehendes „Orientierungswissen“6 selbst von entscheidend unterschiedlicher Qualität sein wird, je nachdem, ob es innerhalb eines paradigmatischen Rahmungsgefüges („Weltsicht“), dieses transformierend oder gar dessen Grundlagen auflösend prozessiert. Das Erste bezieht sich auf das Was der Erkenntnis, das Zweite auf das Wie und das Dritte auf die Ebene Kontexte und Bedingungen, also etwa auf die Praktiken der Erkenntnis. Am Beispiel der für die moderne Bildungstheorie so maßgeblichen Biographieforschung wäre ersteres die rekonstruierbare Veränderung einer Sichtweise (z. B. auf Lebensereignisse; eine oft vorzufindende Transformation von Deutungsmustern), das Zweite wäre die Kritik der Grundlagen dieser Sichtweisen (z. B. eine Kritik des eigenen Habitus als Gegenstand der biographischen Betrachtung), das Dritte etwa die disseminierende Kritik der Kontexte (z. B. praktische Kritik bedeutungskonstitutiver Kontexte kulturell-kommunikativer Beobachtungsschemata, so etwa von Gendermodellen in der biographischen Erzählung, durch deren Subversion; praktische Kritik des Interview-Kontextes als biographisierendes Wahrheitsspiel mit performativen, subjektivierenden Wirkungen durch Taktiken des Entzugs; praktische Kritik der medial normativen Festlegung von Biographie auf sprachliche Äußerungen durch ästhetische Inszenierungsmomente etc.).
Bildung und Transgression
Die Frage nach dem „Neuen“ von Bildungsprozessen und den unterschiedlichen Qualitäten von Reflexionsprozessen soll nachfolgend erstens auf einen besonderes dekonstruktives Moment – nämlich das der Differenz von Ästhetik und Medialität – und zweitens innerhalb dieses Zusammenhangs auf einen besonderen strukturellen Aspekt von Kunst bezogen werden, der im Diskurs als „Grenzüberschreitung“ oder „Transgression“ bezeichnet wird.7 Transgression ist dabei nicht etwa im Sinne der „transgressive art“ gemeint, sondern als bildungstheoretisches Moment der Überschreitung von Rahmungen, die als Zusammenhang erworbenen Erfahrungs- und Orientierungswissens betrachtet werden können – und damit zugleich auch als charakteristische Begrenzungen von Sichtweisen auf die Welt und auf sich selbst gelten müssen.
Jede „Transformation“ im Sinne einer Aufhebung alter Muster und Etablierung neuer, komplexerer Muster geht daher notwendig mit einer Überschreitung der durch die alten Rahmen gesetzten Grenzen von Sichtweisen einher. Überschreitung lässt sich bildungstheoretisch in diesem Sinne als Negation des Überschrittenen, also als Einklammerung erworbener Rahmungen oder auch als grundlegendes Um-Lernen verstehen. Ein besonderes Erkenntnismoment der Überschreitung liegt darin, dass die Grenzen in diesem Prozess – im Sinne des oben genannten dritten, „dekonstruktiven“ Modus von Orientierungswissen, als solche sichtbar und potenziell reflexiv thematisierbar werden. Wissensförmig geht dies oft nur, wenn Paradoxie als kognitiver Operator verfügbar ist, wenn man etwa hinter oder unter den binären Strukturierungen, aus denen die eigenen Weltsichten gefügt sind, die „Einheit ihrer Differenz“ (Luhmann) erkennen und aushalten kann (aber wie die binäre Logik haben auch unsere Kapazitäten zur Verarbeitung von Paradoxien ihre Grenzen). Ästhetisch jedoch kann dieses Jenseits etablierter Ordnungen artikuliert und erfahren werden, wobei das damit eröffnete Spielfeld vom ästhetisch Ungefügten bis zur selbstreflexiven, dichten Gefügtheit (sei es von Werken oder von Prozessen) reicht. Ich versuche im Nachfolgenden in aller hier gebotenen Kürze aufzuzeigen, dass im Zusammendenken des transgressiven Formaspekts von Kunst unter Gesichtspunkten von Medialität das Transgressive an „Kultureller Bildung“, als ein über bloßes „Lernen über“ ästhetische Sachverhalte weit hinausgehendes Geschehen, in besonderer Weise thematisierbar wird.
Artikulation und Medialität
Der Begriff der „Artikulation“ stellt dabei eine sehr spannende theoretische Perspektive bereit, weil er den Prozess der Subjektivation im Schnittfeld der Dimensionen Identität und Anerkennung, Kommunikation und „Übertragung“8, Symbolizität und Kulturalität (der symbolischen Formen und Wahrnehmungsweisen), somit auch im Zusammenhang von Ästhetik und Medialität verstehen lässt.9 Ich verstehe dabei „Artikulation“ als Kernmoment von Kultur, sowohl in prozessualer Hinsicht als auch in ihren gestalthaften (werkförmigen oder szenischen) und kommunikativen, auf Anerkennung, also produktive Verkennung verwiesenen, mithin im engeren Sinne sozialen Aspekten. Zugleich verweist der Artikulationsbegriff jedoch auf einen begriffstheoretischen blinden Fleck im Diskurs um Kulturelle Bildung, der sich nicht durch den Verweis auf Medien als Gestaltungsmittel (oder Kommunikationsinstrument etc.) ablegen lässt: Die Medialität allen kulturellen Ausdrucks ist kein nachrangiges, sondern ein konstitutives Moment – nicht erst heute, aber heute in nicht mehr zu übersehender Art und Weise. Der zentrale Aspekt von Artikulation liegt, wie Oswald Schwemmer aufgezeigt hat,10 in der symbo-lischen Prägnanz, die durch sie hervorgebracht wird. -Artikulationen strukturieren und restrukturieren Wahrnehmungsweisen, indem sie „Prozesse der Musterbildung und -anwendung“, die „Grammatiken der Sinneswelten“, betreffen und verändern – und hierin liegt vornehmlich ihre Bildungsrelevanz. Jede Artikulation bedarf eines Mediums, und mediale Formbildungsmöglichkeiten sind „für die innere Gliederung der Artikulation konstitutiv“; ihre Analyse sei daher eine der „Hauptaufgaben jeglicher kulturtheoretischen Reflexion“11. Schwemmer erkennt Medien somit als Strukturbedingungen der Möglichkeit von Artikulation. Dabei verdinglicht er Medien nicht, sondern beschreibt sie als „dynamisches System, in dem die Artikulationsprozesse dessen Selbststrukturierung in Gang setzen bzw. nutzen“.12 Eigenstruktur und Eigendynamik machen das Selbststrukturierungspotenzial von Medien aus – dieser Zusammenhang ermöglicht (und begrenzt) Formbildungen.
Damit ist jede Artikulation – analytisch betrachtet – auf drei Ebenen zu entfalten: Ästhetische Artikulationsakte unterliegen kulturellen Prägnanzmustern, die ihrerseits durch mediale Eigenstrukturen, die als dynamische Formbildungsmöglichkeiten wirken, bestimmt werden. So unterliegt beispielsweise die Zentralperspektive als symbolische Form und historische Bedingung -visueller Artikulation13 ihrerseits medialen Strukturbedingungen: die Festlegung auf den eindeutigen Betrachterstandpunkt – das bildkonstituierende Subjekt, das Michel Foucault anhand von Velázquez’ „Las Meninas“ thematisiert14 – ist nur durch die fixierte Transformation von medialer Bildfläche in einen innerbildlichen Raum möglich – im Gegensatz etwa zur „virtuellen Kunst“ der Neuzeit,15 die Betrachtersubjekt und Bildebene nicht als Pole einander gegenübersetzt, sondern beide immersiv im Raum miteinander verbindet.
Unter „transgressiven Artikulationen“ lassen sich nun solche ästhetischen Prozesse verstehen, die in das Verhältnis von kulturellen Prägnanzmustern und medialen Strukturbedingungen eingreifen – und darin liegt vor dem Hintergrund der oben vorgebrachten bildungstheoretischen Differenzierung der Qualitäten von Orientierungswissen ihr besonderes Potenzial: Künstlerische -Artikulationen vollziehen potenziell eine explizite -Po-sitionierung zu den sie konstituierenden Prägnanz-mustern auf der Ebene medialer Formbildungsmöglichkeiten. An ihnen wird mithin das Verhältnis von Medialität und kulturellen Prägnanzmustern (also -ästhetischen Formen) explizit. Sie sind es daher, die die kulturellen Prägnanzmuster maßgeblich verändern und damit Neues ermöglichen. Dies geschieht, wenn – beispielsweise – das Bild seine Fläche, der Film seine Zeit, der Tanz seine Körper, das Theater seine Theatralität, die Musik ihren Klang etc. artikulativ reflexiv werden lassen, sie als eine Möglichkeit aufzeigen und somit zugleich den machtförmigen Zugriff, den die affirmative Allianz von symbolischer Prägnanz und Medialität verstärkt, aufhebt. Die Überschreitung ist damit immer auch eine Überschreitung der medialen Immersion: In-sofern wirkt sie als Moment der Unbestimmtheit, da sie die „Illusio“16, den Glauben an das (hier: ästhetische) Spiel, aussetzt, und zwar paradoxerweise nur innerhalb des ästhetischen Vollzugs. – Ob sie es will oder nicht: Ein besonderer Wert von Kunst für ästhetische und mediale Bildung liegt in dieser Hinsicht darin, dass sie das Amalgam von Kulturalität, Medialität und Normativität aufbricht, es erfahrbar, reflektierbar macht und somit alternative Praktiken aufscheinen lässt. Dies ist, in immer umfassender mediatisierten Lebenswelten, mithin zu einem unhintergehbaren Moment von Bildung avanciert.
Dieser Text ist eine gekürzte Fassung von: Benjamin Jörissen, „Transgressive Artikulationen: das Spannungsfeld von Ästhetik und Medialität aus Perspektive der strukturalen Medienbildung“, in: Malte Hagener, Vinzenz Hediger (Hg.), Medienkultur und Bildung. Ästhetische Erziehung im Zeitalter digitaler Netzwerke. Frankfurt/M. 2014.
1.) Hans-Christoph Koller, Winfried Marotzki, Olaf Sanders (Hg.), Bildungsprozesse und Fremdheitserfahrung: Beiträge zu einer Theorie transformatorischer Bildungsprozesse. Bielefeld 2007.
2.) Etwa: Michel Foucault, Hermeneutik des Subjekts: Vorlesung am Collège de France (1981/82), Frankfurt/M. 2004.
3.) Judith Butler, Psyche der Macht: Das Subjekt der Unterwerfung. Frankfurt/M. 2001; Norbert Ricken, Die Ordnung der Bildung: Beiträge zu einer Genealogie der Bildung. Wiesbaden 2006.
4.) Vgl. Gerd Jüttemann, Michael Sonntag, Christoph Wulf (Hg.), Die Seele: ihre Geschichte im Abendland. Göttingen 2005; Jörg Zirfas, Benjamin Jörissen, Phänomenologien der Identität: human-, sozial- und kulturwissenschaftliche Analysen. Wiesbaden 2007.
5.) Christoph Koller, „Bildung als Entstehung neuen Wissens? Zur Genese des Neuen in transformatorischen Bildungsprozessen“, in: Hans-Rüdiger Müller, Wassilios Stravoravdis (Hg.), Bildung im Horizont der Wissensgesellschaft, Wiesbaden 2007, S. 49–66.
6.) Winfried Marotzki, Entwurf einer strukturalen Bildungstheorie: biographietheoretische Auslegung von Bildungsprozessen in hochkomplexen Gesellschaften. Weinheim 1990.
7.) Anna-Lena Wenzel, Grenzüberschreitungen in der Gegenwartskunst: Ästhetische und philosophische Positionen (Vol. 26). Bielefeld 2011.
8.) Vgl. Karl-Josef Pazzini, „Was wirkt, was bildet?“, in: Benjamin Jörissen, Torsten Meyer (Hg.), Subjekt – Medium – Bildung, Wiesbaden 2014.
9.) Vgl. Benjamin Jörissen, „Transgressive Artikulationen: das Spannungsfeld von Ästhetik und Medialität aus Perspektive der strukturalen Medienbildung“, in: Malte Hagener, Vinzenz Hediger (Hg.), Medienkultur und Bildung. Ästhetische Erziehung im Zeitalter digitaler Netzwerke, Frankfurt/M. 2014.
10.) Oswald Schwemmer, Kulturphilosophie: eine medientheoretische Grundlegung. München 2005.
11.) Ebd., S. 55.
12.) Ebd. Verzichtet sei an dieser Stelle auf eine kritische Diskussion der Schwemmer’schen Unterscheidung von „substanziellen“ (Sprache) vs. „instrumentellen“ (Schrift), bzw. diesen „historischen“ von „maschinellen“ Medien, die mir sowohl medienanthropologisch wie auch medientheoretisch eher begrenzt plausibel erscheint.
13.) Erwin Panofsky, Aufsätze zu Grundfragen der Kunstwissenschaft. Berlin 1964.
14.) Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge: eine Archäologie der Humanwissenschaften. Frankfurt/M. 1974, S. 31ff.
15.) Vgl. Oliver Grau, Virtuelle Kunst in Geschichte und Gegenwart. Berlin 2001.
16.) Pierre Bourdieu, Sozialer Sinn: Kritik der theoretischen Vernunft. Frankfurt/M. 1993, S. 122.
[Dieser Text findet sich im Reader Nr. 2 auf S. 150.]