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Von der Idee Erwartungshorizonte auf den Kopf zu stellen. Problemsensitivität in reflexiven Aufzeichnungspraxen entwickeln

Christina Inthoff / 2014

Ein Ziel kunstpädagogischer Arbeit ist die Beförderung reflexiver Auseinandersetzungen mit sich selbst und der Welt. Im Sinne „welterschließender Praxen“1 stellt die Vermittlung künstlerisch-forschender Strategien wichtige Inhalte und spezifische Aufzeichnungspraxen für den Kunstunterricht bereit. Ob als Forschungsfrage oder zunächst nur als Bemerkung formuliert, so bildet der prozessuale Umgang mit Problemen den Auftakt zum Aufbau einer bewussten und kritischen Haltung zu sich, anderen und der Welt.
Im Rahmen meiner Forschung interessieren mich kunstpädagogische Perspektiven einer kompetenz-orientierten Lernkultur. Speziell die Entwicklung und Differenzierung von Problemsensitivität als besondere Aufmerksamkeit für die Lücke2 wird zentral. Das Wahrnehmen von, Sich-Interessieren für und aktiv Umgehen mit Welt3 steht konträr zu Lernsituationen, die das fremdbestimmte Lösen von Problemen fokussieren. -Problemsensitivität kann als erlernbare Fähigkeit betrachtet werden, Probleme – im weitesten Sinne – zu -erkennen, zu bewerten und, wenn erforderlich, vom -eigenen Standpunkt aus mit verschiedenen Formen der Annäherung und dem Ziel, immer neue Fragen zu generieren, zu bearbeiten.4
Es stellt sich die Frage, wie Schülerinnen und Schüler eine Problemsensitivität als Fähigkeit ausbilden können. Wie sie Dinge und Konstellationen entdecken, ohne sie gesucht zu haben, und wie sie sich suchend mit der Welt auseinandersetzen, ohne etwas Bestimmtes finden zu müssen. Wie werden die Schülerinnen und Schüler zum Problematisieren angeregt, um die Grundlage für eigene, kreative, aktive und komplexe Auseinandersetzungen mit „Natur/Kultur“5 zu entwickeln?
Als Reaktion auf diese und weitere Fragen wurde von mir das künstlerisch-experimentelle Prozessportfolio (KEPP) entwickelt. Es integriert verschiedene Diskurse und Wissensgebiete (Erziehungswissenschaft, Kreativitätsforschung, Kunstwissenschaft, Kunstpädagogik, Medienwissenschaft) und sucht nach vielfältigen Formen reflexiver Aufzeichnungspraxen.

Portfolio-Raum
Wesentliche Merkmale im Kunstunterricht mit dem KEPP sind u. a. die Orientierung an den immer neu auszulotenden Bedeutungen der Begriffe Kunst, Experiment, Prozess und Portfolio. Zudem geht es um einen bewussten, inszenierten, individuellen und kollektiven Umgang mit Reflexionsimpulsen die das selbständige Aufspüren und Verfolgen von Interessen und Fragen im Wahrnehmen und Austausch der Schülerinnen und Schüler befördern.
Als „Betrachter/Komplize von Kunst und Künstlern“6 bedarf es auch der eigenen Komplizenschaft, wenn es darum geht, die eigenen (Gedanken-)Fragmente einzusammeln, (neu) zu verknüpfen und zu erweitern. So sind Schülerinnen und Schüler mit ihrem KEPP mehr als die Archäologen ihrer Schulzeit7.
Das KEPP versteht sich als direkte Reaktion auf das „Kraftfeld“ von Autonomie und Heteronomie, Selbst- und Fremdbestimmung, in dem sich der Portfoliogedanke befindet.8 Dies lässt sich ergänzen durch Gedanken von Nora Sternfeld, die von einem Raum spricht, in dem das Unmögliche möglich gemacht wird. Dieser Raum zeichnet sich dadurch aus, dass er „weder vorher definiert, noch völlig beliebig“9 ist. Er birgt Möglich-keiten sowohl für Reflexion als auch für Kritik und schließt dabei „Angebote zur Entscheidung“10 mit in diesen Prozess einer „reflektierten Unfügsamkeit“11 ein. Das künstlerisch-experimentelle Prozessportfolio wird zu einem „Raum“, der ein Dazwischen anzeigt und innerhalb dessen „die Möglichkeit des Scheiterns, der Erfahrung und der Veränderung“12 geschaffen wird.

Reflexive Aufzeichnungspraxis
Dem KEPP wird ein Topsy-turvy-Gedanke nahegelegt, der eine Orientierung am Regelbruch, am Perspektivwechsel und der Kritik anerkennt. Im KEPP werden ausdrücklich „Unwichtiges und Selbstverständliches sowie […] die kritischen, misslungenen, unfertigen, unsinnigen, oder fragwürdigen Einträge, Gedanken, Geschichten, Bilder, Skizzen“13 aufgezeichnet und zu würdigen gesucht. Damit erfährt ein Denken, das ausschließlich auf Erfolg, Sinn und Funktion ausgerichtet ist, eine produktive Erweiterung. Erwartungshorizonte können durch das KEPP auf den Kopf gestellt und Erfahrungen der Schülerinnen und Schüler kritisch reflektiert und hinterfragt werden.
Der Bremer Künstler Harald Falkenhagen spielt in seinen puristisch-frech skizzierten Arbeiten mit Erwartungen und regt einen reflexiven Umgang mit eben diesen an. Auf ein Blatt mit dem Datum 12.1.98 sowie der genauen Zeitangabe 11:51–11:54 folgt ein weiteres Blatt mit der Aufschrift „Heute mache ich nur ein paar Striche“. Die nächsten vier Blätter zeigen jeweils vier bis fünf mehr oder weniger parallel verlaufende, handgezeichnete Linien. Die Arbeit von Falkenhagen könnte auf eine direkte Reaktion einer vom Betrachter nicht mehr zu entschlüsselnden Situation verweisen. Dabei werden Assoziationen geweckt, die die Arbeit als pointierte Zuspitzung einer Problematik ausweisen.14
In der Arbeit mit dem KEPP lassen sich diese Überlegungen in alltagstaugliche und reflexiv im Unterricht zu betrachtende Aufzeichnungspraxen übertragen. Dabei werden drei Phasen der Aufzeichnung und Reflexion unterschieden. Als ständiger Begleiter nimmt das KEPP zunächst erste Spuren, Fundstücke, unterschiedlichste Notate und Ideen auf. Die Spuren können aus einer Aktion oder einem spontanen Dokumentationsimpuls entstehen. In der zweiten Phase werden die Aufzeichnungen genauer betrachtet, reflektiert und die -gewonnenen Informationen als für den eigenen Prozess wichtig hervorgehoben. Reflexionsimpulse betonen -sowohl die Selbst- und Fremdreflexion und befördern einen intensiven wechselseitigen Austausch bis hin zum produktiven „Klauen“ von Ideen. Die ersten beiden Phasen generieren prozessimmanente reflexive Aufzeichnungspraxen. Sie werden mit jeder neuen Frage, Übung oder Aktion im Rahmen gestalterischer Projekt- oder Forschungsarbeit wiederholt. In einer abschließenden Phase wird das KEPP in seiner Gesamtheit betrachtet und in eine Metareflexion überführt.
Im KEPP bildet sich eine sichtbare Struktur aus aktionaler Spur, Dokumentation, Wiederholung, Fragen, Überarbeitung und Reflexion als um ein Problem kreisender Prozess ab. Auf diese Weise wird das KEPP  zum Instrument und Gegenstand einer reflexiven Wahrnehmung von Kunst, Kommunikation und Gestaltung und rekurriert auf das Phänomen einer „routinierte(n), also gar nicht mehr bemerkte(n) Wahrnehmung“. 15
In diesem Zusammenhang gewinnt auch die Künstlertheorie zur neuen Kunst des Büchermachens von Ulises Carrión an Bedeutung.

Ein Portfolio ist eine Raum-Zeit-Folge
Verstehen wir ein angelegtes Portfolio wie ein Buch -zunächst als „Folge von Räumen, indem jeder dieser Räume […] in einem bestimmten Moment wahrgenommen und gebildet [wird], so stellt ein Portfolio auch eine Folge von Momenten dar“16. Carrión spricht sich gegen das Buch als Behälter für Wörter aus. Übertragen auf die künstlerische Portfolioarbeit heißt dies, dass sich auch das KEPP in seinem Entstehungsprozess und -Erscheinungsbild einer rein additiven oder linearen -Aneignung von Inhalten entzieht. Die Betonung von -individuellen und kreativen Prozessphasen sowie vielfältigen Formen der Reflexion schließt eine starre, -standardisierte Form der Dokumentation von Prozessen aus. Indem ein Portfolio als eine autonome Raum-Zeit-Folge verstanden und als solche im Unterricht etabliert wird, eröffnen sich vielfältige Möglichkeiten der Produktion, Gestaltung, Rezeption und Reflexion.
Das Dokumentieren und Entwickeln von (Denk-)Handlungen im KEPP folgt einer eigenen Dynamik und wird als Folge sich im Portfolioraum ausbreitender Zeichen sichtbar. In der Arbeit mit dem KEPP ist es für die Schülerinnen und Schüler eine besondere Herausforderung, selbst eine passende Raum-Zeit-Zeichen-Folge zu entwickeln. Dabei lassen sich diverse Formen der analogen als auch digitalen Aufzeichnungspraxis im Unterricht thematisieren und als ein System „geprägt von den sinnlichen und rationalen Erkenntnisordnungen der jeweiligen Gegenwart“17 reflektieren.

1.) Jens Badura, Johannes M. Hedinger, „Sinn und Sinnlichkeit“, in: Johannes M. Hedinger, Torsten Meyer (Hg.), What’s Next? Kunst nach der Krise, Berlin 2013, S. 31–35, hier S. 28.
2.) Vgl. Manfred Wagner, „Kreativität und Kunst“, in: Walter Berka, Emil Brix, Christian Smekal (Hg.), Woher kommt das Neue? Kreativität in Wissenschaft und Kunst, Wien 2003, S. 51–84, hier, S. 70.
3.) Vgl. Torsten Meyer, „Next Art Education. Erste Befunde“, in: Hedinger/Meyer 2013, S. 377–384, hier S. 373.
4.) Vgl. Bazon Brock, Johannes M. Hedinger, „Das Problem ist nicht die Lösung“, in: Hedinger/Meyer 2013, S. 95–98, hier S. 96.
5.) Meyer 2013, a. a. O., S. 379.
6.) Johannes M. Hedinger, Torsten Meyer, „Vorwort”, in: Dies. 2013, S. 4–7, hier S. 6.
7.) In Anlehnung an Paolo Bianchi, „Das Erkunden der Scherben. Jetzt-Archäologie, Retrovision und archäologische Avantgarde“, in: Hedinger/Meyer 2013, S. 68–75, hier S. 68.
8.) Thomas Häcker, „Portfolio revisited – über Grenzen und Möglichkeiten eines viel versprechenden Konzepts“, in: Torsten Meyer et al. (Hg.), Kontrolle und Selbstkontrolle. Zur Ambivalenz von E-Portfolios in Bildungsprozessen. Medienbildung und Mediengesellschaft, Band 19, Wiesbaden 2011, S. 176.
9.) Nora Sternfeld, Das pädagogische Unverhältnis. Lehren und lernen bei Rancière, Gramsci und Foucault. Wien 2009, S. 129.
10.) Vgl. auch Häcker 2011, a. a. O., S. 66.
11.) Sternfeld 2009, a. a. O., S. 129.
12.) Ebd., S. 128.
13.) Vgl. Christina Inthoff, Maria Peters, „Impulse zur Aufzeichnung und Reflexion. Das künstlerisch-experimentelle Prozessportfolio (KEPP)“, Kunst+Unterricht 379/380, 2014, S. 60–64, hier S. 61.
14.) Die Grafik von Harald Falkenhagen „Heute mache ich nur ein paar Striche“ findet sich online unter http://falkenhagen.webmen.de/Zeichnungen/Zeichnungen.html [19.12.2014]
15.) Dirk Baecker, Johannes M. Hedinger, „Thesen zur nächsten Kunst“, in: Hedinger/Meyer 2013, S. 35–38, hier S. 35.
16.) Vgl. Guy Schraenen (Hg.), Ulises Carrión. Die neue Kunst des Büchermachens, Bd. 2, Bremen 1992. Version auf Englisch, http://www.arts.ucsb.edu/faculty/reese/classes/artistsbooks/Ulises%20Carrion,%20The%20New%20Art%20of%20Making%20Books.pdf [1.11.2013]
17.) Jens Badura, „Explorative Strategien. Anmerkungen zur künstlerischen Forschung“, in: Hedinger/Meyer 2013, S. 28–31, hier S. 28.

[Dieser Text findet sich im Reader Nr. 2 auf S. 139.]

http://falkenhagen.webmen.de/Zeichnungen/Zeichnungen.html

Christina Inthoff

(*1985), Studium der Erziehungswissenschaft, Kunstpädagogik und Germanistik an der Universität Bremen. 2011 Master of Education für Gymnasium/Gesamtschulen, Zertifikat des Zentrums für Performance Studies, Mitglied im Theater der Versammlung, Universität Bremen. Derzeit Lehrerin im Vorbereitungsdienst. Arbeitsschwerpunkte: Künstlerisch-experimentelle Prozessportfolioarbeit (KEPP), Artistic reseach.

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