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Arbeitstitel: Postkultur

Raphael Di Canio

Liebe F.,
ich weiß nicht mehr, wo mir der Kopf steht. Der Inhalt meines Studiums verunsichert mich. Das, was ich meine zu lernen, lässt mich zweifeln und je mehr ich lerne, desto mehr Fragen werfen sich mir auf. Aber lass mich versuchen, es Dir zu erklären, nur wo fange ich bloß an?
Sicherlich hast Du schon einmal etwas von den Begriffen der Interkulturalität oder Transkulturalität und vielleicht auch der Hyperkulturalität gehört, alle drei sind gängige Termini der aktuellen kulturtheorischen Debatte. So verwirrend sie auch klingen mögen (für mich klingen sie sehr verwirrend), sind sie alle Resultate lang andauernder wissenschaftlicher Studien der Geistes- und Kulturwissenschaften (Bhabha, Welsch, Han, etc.). Sie entwerfen Definitionen und Konzepte von Kultur, welche idealerweise präskriptiv auf unsere Gesellschaft wirken können. Doch wie soll ich mit einem Konzept arbeiten und dieses womöglich didaktisch umsetzen, wenn ich es aufgrund seiner Komplexität nicht einmal gänzlich verstehe? Ich finde es immer wieder schwierig, mich in die abstrakten, wissenschaftlichen Komplexe einzudenken und mit meiner Wahrnehmung zu vereinbaren. Einige dieser Theorien gehen von einem bestimmten Abbild der Realität aus, das von bestimmten Gelehrten mit einer bestimmten Intention gesetzt wird. Jedoch veranschaulicht dieses Bild meiner Meinung nach vielmehr ein wünschenswertes Ideal derer, die es kreierten, als ein adäquates Spiegelbild der Gegenwart, die Du und ich alltäglich erleben, oder?
Wie würdest du Deine, alltäglich mit mir erlebte, -Gegenwart beschreiben? Und wie ich? Beispielsweise scheint mir Hans Idee des Hyperraums und der einhergehenden Hyperkulturalität zunächst plausibel und nachvollziehbar. Doch wenn die Hyperkultur ein „abstandsloses Nebeneinander unterschiedlicher kultureller Formen“ darstellt, wird dann überhaupt noch zwischen Kulturen unterschieden und wenn ja, welcher ordnen wir uns dann zu? Bin ich denn nun Deutscher, Italiener, Europäer, Kölner, Ehrenfelder, Weltenbürger, Zeitgenosse, digital native? Oder am Ende doch alles und nichts? Und wodurch definierst Du dich? Herkunft, Interessen, Lebensraum? Wenn Du spontan die ersten drei Begriffe notieren müsstest, die Dir zum Wort Kultur einfielen, welche wären es? Sprache, Religion und Zeitgeist (?), Gesellschaft, Kunst und Interesse (?) oder Heimat, Tradition und Rituale (?) – unser Denken orientiert sich an Mustern im Alltag und lebt durch die Erfahrung und Erfahrung ist subjektiv. So sind auch die oben genannten Schlagwörter zum Thema Kultur relativ, denn wer kann be-legen, dass Kultur unabdingbar mit Sprache, Kunst, Heimat oder gewissen Moralvorstellungen verknüpft sei? Kultur sollte vielmehr pluralistisch verstanden werden. Entnehmen wir jene Ideen nicht erneut dem bereits „vorgekauten“ Diskurs, um sie im Anschluss unreflektiert wieder „hineinzuwerfen“ und als Kult auszuleben? Warum diskutieren wir überhaupt noch „Kulturen“? Was sind Kulturen, wenn nicht rein gedanklich-sprachliche Konstrukte, die Grenzen ziehen, wo es keine geben sollte? Oder sind es nicht vielmehr Menschen, die mit der Konstruktion versuchen, die Welt und ihren Alltag für sie fassbarer zu machen? Auch mit der Wahl des Begriffs „HyperKULTUR“ können wir uns scheinbar immer noch nicht vollständig von der Idee lösen, dass das, was uns verbindet, in Worte gefasst werden und definiert bzw. analysiert werden muss. Wenn es Gemeinsamkeiten gibt, gibt es auch Unterschiede. Indem wir im Studium über kulturübergreifende Eigenschaften reden, implizieren wir doch erneut, dass es so etwas wie andere Kulturen gebe. Was kennzeichnet dann wieder die eigene und was die andere Kultur? Ist es nicht möglich, Unterschiede durchaus als etwas Positives frei von negativer Konnotation zu interpretieren? Wenn es uns also gelänge, Unterschiede wahrzunehmen, ohne sie direkt hierarchisieren, einordnen und werten zu wollen, ließe sich Othering dann nicht vermeiden?
Wie Du weißt, kommt mein Vater aus Italien. Macht dieser Migrationshintergrund nun einen komplett anderen Menschen aus mir? Natürlich nicht. Ist es nicht viel wichtiger, Menschen danach zu beurteilen, wer sie sind, wie sie sich verhalten und wie sie Dir gegenübertreten? Das Wort „Migrationshintergrund“ grenzt doch erneut eine fiktive Anzahl von Personen, die sich als Nicht-Migranten verstehen, von einer zugewiesenen Menge sogenannter Migranten ab? Ist es nicht viel eher der Fall, dass uns allen ein durch Migration entstandener Mix verschiedener kulturübergreifender Identitäten, der eindeutige Zuweisungen zu Kulturen überflüssig macht, zugrunde liegt? Zu was ist uns der Begriff „Kultur“ dann noch nutze? Durch das Betonen von Diversitäten kreieren wir Distanz, Vorurteil, Feindbild, Vergleich und Hierarchie. Warum also nicht drastischere Maßnahmen ergreifen und über eine Revolution des bisher verwendeten Kulturbegriffs nachdenken? Leben wir nicht bereits, ohne es zu ahnen, in einem postkulturellen Zeitalter? In einem Zeitalter, in dem kulturelle Unterschiede keine Bedeutung mehr haben? Wenn dem so wäre, könnte dann nicht der Begriff und die Idee von Kultur substituiert und neu definiert werden? Bhabhas „third space“ könnte beispielhaft ein solcher Ort sein, an dem die Idee von Kultur neu diskutiert und definiert werden kann. Man könnte sogar so weit gehen, über eine Eliminierung des Gesamtkonzepts „Kultur“ nachzudenken, wobei sich dann jene polemischen Stimmen erheben werden, die mangels Vergleichsmöglichkeiten mit dem Anderen die eigene Identitätsgemeinschaft in Gefahr sehen.
An dieser Stelle schließt sich nun wieder der Kreis und ich könnte erneut fragen, warum wir Diversitäten kreieren. Doch darüber hinaus stellen sich mir noch ganz andere Fragen, Liebe F.. Wie soll ich nun als angehender Kunstpädagoge des einundzwanzigsten Jahrhunderts meinen zukünftigen Schüler_innen plausibel erklären, was unter Kultur zu verstehen sei, wenn ich selber noch vor so vielen ungeklärten Fragen stehe? Wie würdest Du ein solches Thema im Unterricht behandeln? Gerade im KUNSTunterricht, in dem es ja quasi explizit um Kultur geht? Soll ich so tun, als gäbe es sie nicht? Sie überziehen und auf diese Weise ihre paradoxe Natur aufdecken? Oder gar Diskrepanzen thematisieren und ver-suchen, sie produktiv zu wenden? Und wird es mir gelingen, mit meinem jetzigen kulturellen Verständnis jenes der Schüler_innen der dreißiger Jahre des einundzwanzigsten Jahrhunderts verstehen und nachvollziehen zu können? Werden all diese Fragen womöglich nichtig sein, weil die zukünftige Gesellschaftsform aufgeklärter und toleranter als je zuvor sein wird? Oder gar das Gegenteil? – Mein Kopf qualmt, ich brauche dringend frische Luft, vielleicht lichtet sich dann der Nebel! Liebe F., und wenn Du auch nur eine Antwort -finden solltest, habe tausend Dank.
Bis bald, Dein R.

[Dieser Text findet sich im Reader Nr. 2 auf S. 66.]

[Es sind keine weiteren Materialien zu diesem Beitrag hinterlegt.]

Raphael Di Canio

(*1990), Freiwilligenarbeit im SOS Kinderdorf in Italien, Lehramtsstudium der Kunst und Germanistik in Köln und Neapel. Derzeit studentische Hilfskraft am Institut für Kunst & Kunsttheorie an der Universität zu Köln und ehrenamtlich tätig in der Flüchtlingshilfe. Arbeitsschwerpunkte: Zeitgenössische und experimentelle Fotografie & Performance. Kulturtheorie. http://www.raphaeldicanio.de

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Bhabha, Homi K.  ·  Di Canio, Raphael  ·  Han, Byung-Chul  ·  Welsch, Wolfgang