Die FLURGESPRÄCHE finden tatsächlich im Flur statt: In einem Durchgangsraum der Universität, zwischen Kaffeeautomaten und knarrenden Türen, zwischen dem WC und dem Ausgang des Institutsgebäudes.
Die Veranstaltungsreihe entstand aus der Not heraus: Fehlende Kommunikation. Kein Raum für den Austausch zwischen den Lehrenden. Kein Aufenthaltsraum für Studierende. Kein Café.
Es galt, Raum zu schaffen, ein Format zu erfinden, um Kommunikation zu provozieren und Verbindungen herzustellen. Das Gründungsteam erfand Regeln:
Die Studierenden des Fachbereichs werden aktiv in die Themenfindung einbezogen.
Die Veranstaltungen finden öffentlich und monatlich im Semester statt. Sie finden dezidiert außerhalb von Lehre statt und sollen Themen und Fragen behandeln, die in der Lehre nicht vorkommen oder in dieser Form dort nicht verhandelt werden können. Es wird mit Methoden experimentiert und die Veranstaltungen enthalten interaktive Elemente. Es gibt Getränke.
Am Anfang wie am Ende stehen Fragen.
Was verstehen wir unter Studium? Befähigt mich mein Studium zum Lehrersein? Was braucht dieses -Institut? Beeinflusst Architektur das Denken? Braucht Bildung Schutzräume? Hat Kunst eine erzieherische Funktion? Wie weit darf Kunst gehen? Wie sieht der Kunstunterricht der Zukunft aus?
Aus Fragen werden Inhalte generiert.
Fragen Studierender werden in der Phase der Vorbereitung über unterschiedliche Kanäle gesammelt. Neue Fragen entstehen im Team, passende Formate müssen erfunden werden. Auf manche Fragen gibt es keine Antworten, aber die Fragen bleiben interessant. Fragen wurden auch schon nach der Veranstaltung auf Karten gedruckt, im Institut verteilt oder im Netz publiziert.
Über Fragen werden Verknüpfungen hergestellt, zwischen Hochschule und Schule, zwischen Theorie und Praxis, zwischen formellen und informellen Aspekten des Lernens. Es geht um die jeweils drängenden Fragen der Gegenwart, des Moments, gerichtet in eine mögliche Zukunft.
Die Institution Universität bleibt auch bei den FLURGESPRÄCHEN bestimmend, doch ein zusätzlicher Lernraum wird geschaffen. Das Team entwickelt die Formate im Kollektiv und auf Augenhöhe mit den Lehrenden. Es rückt Kommunikation und Interaktion in den Fokus und entwickelt neue Formate für dynamische Lernräume. Es entstehen Räume für Bildung, die modellhaft für Lehre wirken und diese sogar infizieren.
Doch wie entstehen diese Lernräume und wodurch zeichnen sie sich aus? Welche Formen von Gemeinschaftlichkeit oder auch Teilhabe werden in den unterschiedlichen Formaten sichtbar?
Zwei Beispiele zeigen in Folge, wie solche Räume der Kommunikation im Prozess entstehen.
Beispiel 1: Von Wissensarchitekt/-innen lernen
NEXT TOP MODEL – Architektur als Denkwerkzeug
Zu Gast bei den FLURGESPRÄCHEN_10 war Jun.-Prof. Dr.-Ing. Jörg Rainer Noennig, der an der Technischen Universität Dresden Wissensarchitektur lehrt. Zentrale Frage war, was die Kunstpädagogik von der Architektur lernen kann: Wie können Probleme modelliert, wie kann kollektiv gedacht und Architektur als Denkwerkzeug genutzt werden? Architektur verfügt über Modelle und Denkweisen, mit denen nicht nur architektonische Probleme gelöst werden können, so Noennig im Vortrag: „Viele Dinge haben eine Architektur, d. h. eine Struktur, eine Organisationsform, eine geordnete Form. So auch Wissen. Die Schnittstellen zwischen Wissensprozessen (Lernen, Kreativität, Innovation, Forschen etc.) und Architektur (Raum, Struktur, Organisation, Gebäude etc.) auszuloten, ist das Thema der Wissensarchitektur.“
Nachdem Noennig dem Publikum die Verbindung zwischen Wissen und Architektur erläutert hatte, wurde in einer „Aktionspause“ diskutiert, was Raum mit Pädagogik zu tun hat. Die Diskussionsstränge wurden von den anwesenden Wissensarchitekt/-innen parallel zum Gespräch und projiziert auf eine Leinwand mitgezeichnet, um thematische Verknüpfungen zu visualisieren.
Es folgte die Vorstellung so genannter Thinktools: „Es gibt verschiedene Indikatoren für Wissen und Intelligenz: Sprache, Humor – und die Fähigkeit, sich Werkzeuge herzustellen. Mit Werkzeugen kann um die Ecke gedacht werden, können Artefakte erzeugt werden. Die Wissensarchitektur versucht, verschiedene Denkwerkzeuge architektonischen Ursprungs (Modelle, Skizzen, Diagramme) auch für nicht-architektonische Zusammenhänge zum Einsatz zu bringen“, so Noennig.
In der wiederum anschließenden Aktionspause wurden Ideen gesammelt: „Wie beeinflusst der Raum Ihr Arbeiten als angehende Kunstpädagog/-innen?“ Jede Idee wurde in Wort und Bild festgehalten, so dass simultan ein visuelles Gesprächsprotokoll entstand.
Im Anschluss sprach Noennig über pädagogische Denkwerkzeuge. In der letzten Aktionspause sollten die Zuhörer/-innen sich ein Problemfeld aneignen, indem sie zu diesem ein dreidimensionales Modell bauten, das Problem also verräumlichten.
Die Offenheit der Fragestellung erlaubte das Ein-bringen der Interessen der Einzelnen. Beim Modellbau ging es um Visualisierung von individuellen Ideen, aber auch um die Kommunikation untereinander, um den Austausch ganz unterschiedlicher Beteiligter, um ein gemeinsames kreatives Arbeiten in anregender Atmosphäre. Beim gemeinsamen Bauen wurden Ideen -ausgetauscht, diese flossen in das Modell, aber auch in die abschließende Präsentation und Diskussion ein.
Beispiel 2: Szenarien entwerfen
[KUNST]UNTERRICHT 2050.
Zu Gast: Annemarie Hahn (Köln) und Sebastian Plönges -(Hamburg)
„Wir möchten die Gäste der FLURGESPRÄCHE_13 zur Teilnahme an einem Zeitreise-Experiment einladen. Wenn die soziologische These von der »Nächsten Gesellschaft« (Dirk Baecker) zutrifft, können die Folgen des Auftauchens des Computers und weltweiter Datennetze für Struktur und Kultur der Gesellschaft gar nicht überschätzt werden. Auch die Institutionen der Erziehung, Schulen und Unterricht, werden auf die anstehenden Veränderungen reagieren (müssen).“ (Ankündigungstext)
Zu Beginn des Abends wurden in zufällig zusammen gesetzten Gruppen für Kunstunterricht relevante Aspekte gesammelt: Was macht Kunstunterricht aus? -Welche Probleme, Schwierigkeiten oder Ängste gibt es unter den Anwesenden, Kunstunterricht betreffend?
In einem nächsten Schritt wurden die identifizierten Aspekte durch die Gruppen bewertet: Welche Faktoren sind für die jeweilige Gruppe die wichtigsten ihrer Sammlung? Warum?
Gemeinsam wurden diese Faktoren sortiert und zu jedem Aspekt Extremwerte gefunden (z. B. „Kunstunterricht findet überall statt“ – „Kunstunterricht nur im Klassenraum“, „Online-Unterricht“ – „Präsenz-Unterricht“, „Kanon“ – „Alles ist Inhalt“ usw.).
In einer Pause kombinierten Hahn und Plönges unterschiedliche Extremwerte miteinander und gaben sie in diesen neuen Kombinationen zurück in die Kleingruppen. Diese entwarfen auf Basis der Vorgaben konkrete Szenarien, die Konzeptualisierung von Unterricht, Räume oder Curricula betreffend. Anschließend erstellten sie Prototypen und Visualisierungen mit vorhandenem und gefundenem Material. In einer abschließenden gemeinsamen Runde wurden diese -Modelle präsentiert und diskutiert, welche Bedeutung die Szenarien für die Gegenwart haben. Wie können Entwicklungen heute befördert oder verhindert werden? Wie kann der Wandel im Bildungssystem aktiv gestaltet werden, anstatt nur auf veränderte Verhältnisse zu reagieren?
Zentraler Aspekt der FLURGESPRÄCHE ist die Identifizierung und Generierung von Fragen und Themen, die aus Sicht der Studierenden relevant sind, jedoch in Lehrveranstaltungen nicht thematisiert werden (oder auch nicht thematisiert werden können) sowie die Öffnung der Institution. Die Lerngemeinschaft erweitert sich, sie lässt Gäste zu, lädt diese bewusst ein. Sie nutzt Methoden aus anderen Wissensgebieten, um neue Formate zu erfinden und Kommunikationsräume zu schaffen. Oder sie verlässt die Institution, um den Lernraum in den Raum der Stadt zu erweitern, wie bei FLURGESPRÄCHE_unterwegs. Es wird von echten Fragen ausgegangen, drängenden -Fragen, deren Beantwortung oder zumindest Diskussion den Organisator/-innen wie auch den Besucher/-innen wichtig ist: Wie weit darf Kunst gehen? Darf Bildung Spaß machen? Kunstpädagogik -studieren – Kunst unterrichten? Diese Fragen stehen im Raum, sie bleiben in -Seminaren übrig, sind vielleicht zu groß für die weitere Auseinandersetzung innerhalb von 90 Minuten – oder sie kochen immer wieder hoch, da sie etwas mit der künst-lerischen Praxis der Studierenden zu tun haben, mit aktueller Kunst und auch mit dem, was Gegenstand von Kunstunterricht sein kann, soll oder muss.
Die Formate der FLURGESPRÄCHE sind experimentell, mitunter gewagt, entlehnt aus anderen Fachgebieten – und immer partizipativ oder zumindest interaktiv. Open Space, Szenariotechnik, Fishbowl, 3-Minuten-Vortrag, Modellbau, Podiumsdiskussion oder Filmvorführung – alles ist erstmal möglich. Es werden Situationen geschaffen, in denen kommuniziert wird, innerhalb einer geregelten Zeitstruktur werden hierarchiefrei Begegnungen provoziert.
Übertragen auf Kunstunterricht und eine sich verändernde Schule müsste das Fragen stellen zur selbstverständlichen Kultur werden. Ermöglicht würde dies durch eine Lernkultur, in der kollaborativ Projekte entwickelt, Formate erfunden und Methoden erprobt werden – über tradierte Fächergrenzen hinaus und jenseits von schulischen Hierarchien. Eine Lernkultur, in der Lehr- und Lernräume geöffnet und Bildungsräume weit gedacht werden. Dazu gehört auch, darüber nachzudenken, was wir Kunstpädagog/-innen von anderen Fächern, von anderen Wissensgebieten oder auch von künstlerischen Arbeits- und Denkweisen lernen können. Und gleichzeitig eine Fachlichkeit zu stärken, zu der die Gestaltung von Kommunikation genau so gehört wie die Visualisierung von Wissen oder das Experimentieren mit Darstellungsformen und Denkräumen.
Titel der bisherigen FLURGESPRÄCHE (2010–2014):
1 kiss – Kultur in Schule und Studium. kiss-Stipendiat/-in-nen der TU Dresden stellen ihre Unterrichtsprojekte vor und zur Diskussion // 2 Streifzüge im Netz. Kunstpäda-gogische Aspekte medialer Wissensdarstellungen. // 3 Do-it-yourself@Kunstpädagogik. Open Space zur Selbstbestimmung | Mitbestimmung | Teilhabe im Studium // 4 Processing2010. Zwischen Cultural Hacking und Generation C // 5 „Marina meets …“ Performative Grenzgänger und Subversion im Film // 6 The Missing Link? Kunstpädagogik studieren – Kunst unterrichten // 7 Hallo Welt! Wir brauchen eure Produktionen in genau 3 Minuten // 8 Territorien im Klassenzimmer – Von Vermittlungsräumen und Karten. Zu Gast: Prof. Dr. Christine Heil // 9 Transitraum. 1 Tag – 1 Ort – 1 Aktion. // 10 NEXT TOP MODEL – Architektur als Denkwerkzeug. Zu Gast: Jun.-Prof. Dr.-Ing. Jörg Rainer Noennig // 11 Zwischen Frühstück und Gänsebraten. // 12 Darf Bildung Spaß -machen? // 13 [KUNST]UNTERRICHT 2050. Zu Gast: -Annemarie Hahn und Sebastian Plönges // 14 Sex. Gewalt. Perversion. Tod. Wie weit darf Kunst gehen? // 15 GRILLGESPRÄCHE zu Fragen der Wurstpädagogik. // 16 Et boum! C’est le choc!? Referendar/-innen berichten über ihre Erfahrungen im Schulalltag // 17 Weihnachtsfeierei // 18 INTERDISZIPLIN_ÄRA // FLURGESPRÄCHE_unterwegs: Im Königspavillon // FLURGESPRÄCHE_unterwegs: Im Aprikosengarten // FLURGESPRÄCHE_unterwegs: Im Freien // 22 Zwischen den Stühlen? Von Kunst, Pädagogik und Kunstpädagogik … // 23 Weihnachtsglitzerdings // 24 In bester Gesellschaft
[Dieser Text findet sich im Reader Nr. 2 auf S. 57.]