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Acht Thesen zur Veränderung der Kulturlandschaft

Basil Rogger / 2013

1. Zunahme der kulturellen Produktion
Der Trend ist ungebrochen: Wir haben so viel Kultur wie nie zuvor. Dies gilt sowohl für einen sich immer mehr einverleibenden Kulturbegriff, als auch für einzelne traditionelle Kultursparten: Beispiel Buch: Auch wenn sich die Buchproduktion im herkömmlichen Sinn (im Dreieck von Autor, Verleger/Vertreiber und Drucker) verringern wird, ist davon auszugehen, dass die Zahl von Neuerscheinungen weiter ansteigen wird. Während 1970 in der Schweiz rund 6.500 Neuerscheinungen veröffentlicht wurden, waren es 2008 bereits über 12.000. In Zukunft wird sich vieles davon in Richtung Eigen- oder Kleinstproduktion, auf Book-on-demand-Plattformen oder gleich ganz ins Internet verlagern. Die Veröffentlichungszahlen steigen trotzdem. Was für das Buch gilt, wird sich auch bei Festivals, Museen, Open-Air-Kinos oder Messen – also Kultur-Events – oder im Bereich der klassischen Produktion und Veröffentlichung von künstlerischen Werken aller Art zeigen. Mit der schieren Menge steigt die Unübersichtlichkeit kulturellen Schaffens. Die Folgen sind offenbar. Für die Kulturproduzenten gilt: Auffallen um jeden Preis, das Selbstmarketing wird immer wichtiger, für die Kulturförderer gilt: Das Selektionsprozedere muss beschleunigt, die Selektionskriterien müssen rigider werden, für die Kulturkonsumenten gilt: Die Planung meines Kulturkonsums wird zunehmend zu einer Verzichtsplanung, die Auslese zu einem einzigen großen Streichkonzert.

2. Accessibility
Es gibt nicht nur mehr Kulturangebote, sie sind auch immer leichter zugänglich. Das beginnt bei der Information über Kultur, setzt sich fort in einem ständig umfassender werdenden Angebot an digital zur Verfügung stehender Kultur, in immer ausgeklügelteren Vermittlungsansätzen und -programmen, im bewussten Senken oder Abschaffen von Eintrittsbarrieren oder Schwellen für Angebote, die einst hohe Kultur genannt wurden. Diese jederzeitige Zugriffsmöglichkeit von allen auf alles kann als Demokratisierung verstanden werden, birgt aber gleichzeitig die Gefahr der Nivellierung und des Abgleitens in Belanglosigkeit. Im Kampf um die Aufmerksamkeit werden die Kommunikation, das Marketing, die Publicity von kulturellen Aktivitäten immer wichtiger. Als Konsument wird man gerade durch diese Entwicklung paradoxerweise auch zunehmend geführt. Dass alles viel leichter zugänglich und verfügbar ist, bedeutet nicht, dass es lesbarer wird – im Gegenteil: Der erleichterte Zugang führt in einen undurchdringlichen Dschungel.

3. Erosion des Expertentums
Kulturpäpste ade! Die Autorität des allwissenden Kritikers, der durch sein Netzwerk, seine Erfahrung und sein Know-how eine Deutungshoheit hat, ist schon länger am bröckeln. Einerseits ist der Informationsvorsprung der Kritiker durch die immer früher zur Verfügung stehenden Online-Publikationen im Schwinden begriffen, anderseits gibt es immer mehr Blogger und aktive Superuser, die neue Formen der Kritik etabliert haben. Die herkömmliche Literatur- und Kunstkritik wird also entprofessionalisiert, dezentralisiert, partizipativ und enorm beschleunigt. Die neuen Experten legitimieren sich nicht mehr durch ein Studium und die Anstellung in der Feuilletonredaktion einer renommierten Zeitung, sondern durch intime Szenekenntnis, Reaktionsgeschwindigkeit sowie die Anzahl ihrer Kommentare und Postings im Web oder auf Twitter. Auch diese Experten versammeln ihre Anhängerschaft um sich, die Experten werden aber zahlreicher, die Fangemeinden kleiner und die Spezialisierungen größer. Über die Stellung und die Bedeutung der neuen und der alten Kulturexperten darf ebenso nachgedacht werden wie über ihr jeweiliges Verhältnis zu ihrer Autorität und Autorschaft.

4. Kleinteiligkeit und Konzentration der Kreativwirtschaft
Auch wenn die Kreativwirtschaft weiterhin stark wächst, ist davon auszugehen, dass sie kleinteilig organisiert bleibt. Der Niedergang der Big Players in der Musikindustrie hat nicht zu einer Reduktion des Tonträgerangebots geführt, sondern zu einer Stärkung der zahllosen Nischenplayer, die – oft an der Grenze zur Selbstausbeutung – ihre inhaltlich präzise positionierten Programme machen. Weggebrochen ist die mittlere Ebene der Zwischenhändler, die zwischen Herstellung und Konsument vermittelten. Ob sich dies auf dem Literatur- oder dem Kunstmarkt wiederholen könnte, ist unsicher, aber denkbar. Die Spannung zwischen Konzentrations- und Dezentralisierungsprozessen hält an, und sie spiegelt eine Grundspannung zwischen Kultur und Ökonomie allgemein: Kultur und Ökonomie stehen seit jeher in einem Verhältnis gegenseitiger Verdächtigkeit: Irgendwie mag man sich, irgendwie findet man sich gegenseitig nicht ganz koscher. Die Kultur fühlt sich von der Ökonomie in ihrer Autonomie und Handlungsfreiheit bedroht, für die Ökonomie wiederum ist die Kunst ein Stachel im Fleisch, der einige ihrer Grundannahmen permanent in Frage stellt, etwa diejenige der Nutzenmaximierung, diejenige des Verhältnisses von Qualität und Erfolg oder diejenige des sich stets rational verhaltenden Homo oeconomicus.

In gewissen Szenarien wird die Kultur von der Ökonomie als Leitideologie aufgesogen. Was dabei herauskommt, ist eine extrem leistungsfähige Kreativwirtschaft, die aber permanent Gefahr läuft, ihre Seele zu verkaufen. In anderen Prognosen wiederum ist nicht nur die Ökonomie, sondern die gesamte Gesellschaft quasi kulturalisiert, sodass die Kultur plötzlich die dominierende Perspektive wird – und dadurch alles und nichts gleichzeitig ist. Beiden Szenarien gemeinsam ist, dass durch eine radikale Ausformung der jeweiligen Hierarchisierung die Kultur ihren Ort und ihre Identität verliert. Weder lässt sich also die Kultur ökonomisieren, noch lässt sich die Ökonomie kulturalisieren. Ein Ausweg könnte sein, das Konzept der Nachhaltigkeit um die Dimension der Kultur zu erweitern. Würde das Dreieck von Ökonomie, Ökologie und Gesellschaft um die Dimension der Kultur ergänzt, so ließen sich die Verhältnisse zwischen den vier Dimensionen aus nachhaltiger Perspektive vielleicht differenzierter austarieren, als durch einfache Hierarchisierungen zwischen Ökonomie und Kultur. Wie sich aber der Begriff einer nachhaltigen Kultur definieren ließe, ist eine offene Frage – insbesondere aufgrund seiner Widerständigkeit gegen operationalisierbare Quantifizierungen.

5. Kultur ist, was nichts kostet?
Mit der Digitalisierung einhergehend wird der Trend zu Billig- oder Gratisangeboten gestärkt. Das ist eine für Kulturinteressierte positive Entwicklung, denn kulturelles Schaffen wird dadurch preiswerter und ist einfacher zugänglich für alle. Die Schattenseite dieser Entwicklung ist die Erosion der ökonomischen Existenzgrundlage für die Kulturakteure. Was also zuerst die Vertriebs- und Verlagsstrukturen betrifft, könnte in Zukunft durchaus auch die Künstler selbst betreffen: Ihr Geschäftsmodell, das über die hart erkämpfte Abgeltung von Urheberrechten funktioniert, droht wegzubrechen. Und eine Alternative ist nicht in Sicht – auch mit Creative Commons oder ähnlichen Ansätzen nicht, denn diese lösen zwar das Problem der Urheberrechts-Nennung, aber nicht der Verwertung. Neue Preisbildungsmodelle zeichnen sich auf dem Musik- und App-Markt ab: Die Werk-Einheiten werden kleiner, die Lizenzen zeitlich begrenzt, die Preise dementsprechend billiger. Eine effiziente Kontrolle, ein Kopierschutz oder eine allgemeine Kopiergebühr können dieses Problem entschärfen, aber nicht lösen. Die Preisbildungs- und Einkommensstrukturen werden also kleinteiliger und instabiler – die ökonomische Unsicherheit steigt. Daran können auch andersartige Überlegungen nichts ändern, wie etwa die Idee eines existenzsichernden Grundeinkommens für Künstler, denn ein solcher Ansatz ließe sich lediglich auf die gesamte Bevölkerung anwenden und nicht nur auf einen Teil davon – es sei denn, man würde für diese Privilegierung der Kulturakteure allgemein anerkannte Kriterien finden können.

6. Hybridisierung
Unscharfe Grenzen zwischen künstlerischen Teilbereichen sind alt. Bereits im 19. Jahrhundert begannen sich – etwa im Bereich der Oper – verschiedene Disziplinen innerhalb der Künste anzunähern und zu vermischen. Die Entdeckung des Films als künstlerisches Medium und der Einsatz von Elektrik und Elektronik in den Künsten haben diese Entwicklung im 20. Jahrhundert weiter vorangetrieben und den Austausch zwischen den Künsten und anderen Disziplinen befördert. Der Cyberspace und seine Möglichkeiten der Kreation und Distribution haben weiter dazu beigetragen, alte Grenzen aufzulösen. Erst gegen Ende des 20. Jahrhunderts kann man von Hybridität im engeren Wortsinn sprechen: Der aus der Genetik stammende Begriff der Hybridität, mit dem bei Pflanzen oder Tieren die Vermischung von zwei Arten oder Unterarten bezeichnet wird, kommt heute in Gesellschaft und Kultur zur Anwendung, wenn es darum geht, Vermischungsformen unterschiedlicher Herkunftskulturen zu charakterisieren und zu reflektieren, ohne in einen hierarchisierenden Diskurs zu verfallen. Dies kann innerhalb der Kultur selbst sein (hybride Spielformen der Literatur in Kombination mit Live-Performances, installativer Kunst, Fotografie etc.), im Spannungsfeld von Kultur und Technologie (Computergames, Podcasts, Netzkultur etc.) sowie im Spannungsfeld von Kultur und Gesellschaft (High-und-Low-Kulturen, ethnisch oder national definierte Herkunftskulturen, Subkulturen und Mainstream etc.).
Hybride Kulturen sind Ursache und Folge der Globalisierung. Sie entstehen durch die Vermischung von unterschiedlichen Herkunftskulturen und lebensweltlichen Realitäten und stellen tatsächlich neue Formen von Kultur dar, in denen sich Traditionen, lebensweltliche Realitäten und subkulturelle Ausdifferenzierungen zu neuen Kulturformen synkretisieren. Neben den unterschiedlichen künstlerischen Genres oder Gattungsformen und der Idee des abgeschlossenen Kunstwerks haben sich auch die Mediengrenzen aufgelöst, und als letztes ist die Trennung zwischen Produzent und Konsument in Frage gestellt. Auf diese mehrfache Hybridisierung (in den Künsten selbst, im Verhältnis Kunst – Technologie und im Verhältnis Kunst – Lebenswelt) wird unterschiedlich reagiert. Ob eine allumfassende Gesellschaft derartige Differenzen mit einer großen Umarmung zu integrieren versucht, oder ob derartige Hybriditäten durch Segregation zu verhindern versucht werden: Immer wird man sich in ein Verhältnis dazu setzen müssen.

7. Der Kanon und die Gatekeeper
Auch wenn schon oft die Rede vom Ende des Kanons war, auch wenn der Verlust des Gemeinsinns oder des verbindlichen kulturellen Bodens, auf dem wir stehen, mit schöner Regelmäßigkeit beklagt wird: Wir werden uns immer wieder darüber verständigen (müssen oder dürfen), was denn nun das verbindende kulturelle Fundament unserer noch so partikularisierten Gemeinschaft ausmacht. In fast allen Gesellschaften kann sinnvollerweise von einem derartigen Fundament gesprochen werden. Man kann dieses Fundament Kanon nennen, im Wissen darum, dass dies streng genommen nicht korrekt ist. In einer ökonomisierten Gesellschaft wird der Kanon durch die Innovation bestimmt, nicht durch die Tradition. In einer partikularisierten Gesellschaft ist er aufgesplittert in konkurrierende Teil-Kanons, in einer auf Partizipation und Nachhaltigkeit ausgerichteten Gesellschaft ist die Gesellschaft selbst das größte Kunstwerk und der Kanon etwas immer wieder neu Auszuhandelndes. In einer totalen Kontrollgesellschaft schließlich ist er rückwärtsgewandt und nicht selten unverblümt nationalistisch. Derartige Formen des Kanons sind immer Ursprungsmythos und Konstruktion zugleich: Sie spiegeln den Wunsch nach dem gemeinsamen Grund ebenso wie dessen Künstlichkeit.
In all diesen Ausprägungen kommt den «Türstehern», denjenigen die bestimmen, was Kultur ist und was nicht, eine entscheidende Bedeutung zu. Ob sie demokratisch oder diktatorisch handeln, ob sie aus der Perspektive der Kultur oder er Ökonomie schauen, sie ziehen Grenzen, öffnen und verschließen Türen. Ihre Legitimation beziehen sie aber schon längst nicht mehr aus wie auch immer gearteten Qualitäts-Argumentationen.

8. Transdisziplinarität
Neues entsteht an den Rändern oder an den Schnittstellen und Reibungsflächen zwischen traditionellen Disziplinen – sei dies in den Künsten, den Wissenschaften oder in einer alltäglichen Lebenspraxis. Auch im kulturellen Bereich ist dies festzustellen, so spricht etwa Albrecht Wellmer von der «Verfransung der Künste»: Es gibt eine blühende Kultur der Online-Literatur, es gibt eine prosperierende Game-Industrie, es gibt ein sich immer stärker ausbreitendes Verständnis von Transmedialität, es gibt eine sich stetig aufweichende Grenze zwischen Programmierung und Gestaltung in der Applikationsentwicklung. Das aus den Naturwissenschaften stammende Konzept der Transdisziplinarität versucht, dieser Entwicklung Rechnung zu tragen, indem mit einfachen Kriterien auf Probleme und Fragen reagiert wird, die innerhalb einer Disziplin nicht gelöst werden können: Ein Problem oder eine Fragestellung ist dann transdisziplinär, wenn erstens mehrere Disziplinen daran beteiligt sind, wenn diese Disziplinen zweitens gleichberechtigt, «auf Augenhöhe» miteinander umgehen, wenn drittens ein lebensweltlicher Bezug gegeben ist (und das Ganze nicht im luftleeren Raum einer akademischen Forschung stattfindet) und wenn viertens aus der so definierten Forschungsfrage etwas Neues, Drittes entstehen kann, das aus der traditionell disziplinären Forschung heraus nicht entstehen könnte. Dieses (naturwissenschaftlich inspirierte) Konzept ließe sich allenfalls auf die Kultur übertragen. Entstehen könnten neue Formen von Kollaboration, Partner- und Komplizenschaft oder Partizipation in der Kultur und weit über sie hinaus.


Wiederabdruck
Eine erste Fassung dieses Textes entstand im Rahmen einer Szenario-Arbeit für swissfuture, die sich mit dem Thema Wertewandel und Kultur in der Schweiz im Jahre 2030 befasste (http://www.swissfuture.ch).

[Dieser Text findet sich im Reader Nr. 1 auf S. 477.]

[Es sind keine weiteren Materialien zu diesem Beitrag hinterlegt.]

Basil Rogger

(*1964) studierte Philosophie, Psychologie und Pädagogik in Zürich und Bern, ist heute tätig als Kulturunternehmer und unterrichtet an der Zürcher Hochschule der Künste in den Masterstudiengängen Art Education und Transdisziplinarität. Er ist Vorstandsmitglied von swissfuture, der schweizerischen Gesellschaft für Zukunftsforschung.

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