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Eine kleine Kunstgeschichte des 21. Jahrhunderts

Ingo Niermann / 2013

Nach der Zukunft der Kunst zu suchen irritiert auch Anfang des 21. Jahrhunderts. Die Zukunft des Geldes, der Familie, des Autos oder selbst des Fortschritts sind in einer fortschrittlichen Gesellschaft gewöhnliche Themen. In der Kunst aber wurde im 20. Jahrhundert der Anspruch virulent, per se die Zukunft zu sein und nicht nur der übrigen, trägeren Kunst den Weg zu weisen, sondern der gesamten Gesellschaft. Wenn man schon trotz zunehmender Möglichkeiten technischer Reproduktion weiterhin Unikate produzierte, so sollten es doch Prototypen sein: zu früh entstanden, um bereits in Serie zu gehen. Der Marxismus mochte politisch noch so radikal sein, mit dem Entwurf einer totalen Gestaltung der Gesellschaft begann er erst in der diktatorischen Praxis, in Zusammenspiel mit und in Abwehr der künstlerischen Avantgarde. Adolf Hitler war ein Künstler, der sie verachtend gleich Politiker wurde.
Die Instrumentalisierung und Rivalisierung durch totalitäre Regime ließ den Anspruch der künstlerischen Avantgarde, sich gesamtgesellschaftlich zu entgrenzen, nicht enden. Wenn schon die Welt nicht gemäß der Kunst geformt werden kann, dann wenigstens die Kunst gemäß der Welt. Ist von Readymade und erweitertem Kunstbegriff die Rede, dann ist ein Realismus gemeint, der die Realität nicht mehr nur abbilden oder imitieren, sondern mit ihr identisch werden will. Die Welt muss nicht mehr künstlerisch geformt, sondern nur noch als solche etikettiert, konserviert und dokumentiert zu werden. Jeder und jedes ist bereits Kunst, die Künstler und dann auch die Kritiker, Sammler und Kuratoren müssen es nur erkennen.
Die Kunst vergegenwärtigt etwas, was sie nicht ist. Von den Religionen und Monarchien, die sie illustriert hat, hat sie den Anspruch geerbt, der konkreten Wirklichkeit enthoben und über alle Zeit gültig zu sein. Wenn der Glaube an solche andere Welten schwindet, dann stellt die Kunst schließlich allein noch den Wunsch danach dar. Die besondere Qualität der Kunst besteht gerade darin, zu nichts nutze und damit der Konsum- und Fortschrittswelt enthoben zu sein, die Verschleiß und Moden unterliegt. Auch Kunst ist in der Regel käuflich, aber nicht um verbraucht, sondern um verwahrt zu werden. In der treuen musealen Sorgfalt kann man dann doch auch wieder ein utopisches Modell für die gesamte Gesellschaft erkennen. Nichts muss vergehen, nichts für anderes geopfert werden. Es herrscht die pure Akkumulation, die sonst nur mit Geld und anderen immateriellen Gütern möglich ist. Selbst was man mittlerweile nicht mehr mag, wird behalten, damit das jetzt Gemochte in Zukunft nicht ebenfalls aussortiert wird. So wird auch jenseits der Kunst immer mehr immer schneller archiviert und bei Unbeweglichkeit unter Denkmalschutz gestellt.
Bibliotheken archivieren von jedem Buch ein Exemplar, was so wenig Platz einnimmt und so wenig kostet, dass große Teile der Buchproduktion unsortiert Aufnahme finden. Internetdienste wie Facebook archivieren nicht nur jeden Eintrag, sondern auch jede Löschung mehrfach. Die Kunst dagegen ist der einzige Bereich der Gesellschaft, für den die museale Archivierung das zentrale Ziel darstellt. Nur so kann sie dauerhaft und sichtbar fortbestehen, und die begrenzten musealen Räume und Etats sorgen dafür, dass die Kunst nicht wie die Hand des Midas die ganze Welt erstarren lässt. Zwar kann man alles Mögliche einfach zu Kunst erklären, doch bleibt das im weiteren Umgang folgenlos. Galerien und Privatsammlungen konkurrieren mit einer musealisierten Präsentation der Kunst um erhöhte und verlängerte museale Aufnahmechancen. Lebewesen kann man nur inkludieren, die man für austauschbar hält, insbesondere Pflanzen. Bereits bei Tieren wird es problematisch. Die Musealisierung der Menschen kann sich erst mit ihrer Unsterblichkeit erfüllen. Angesichts solcher Beschränkungen müssen die zu Kunst ernannten Objekte zumindest eine originelle Auswahl oder Bearbeitung erfahren, um als Unikate zu überzeugen. Die Aufnahme der Welt durch die Kunst kann nur exemplarisch erfolgen und weiterhin auch – aber nurmehr als eine weitere Möglichkeit –, indem die Kunstwerke nicht nur ihr Kunstsein darstellen. Soll die museal und kunsthistorisch tradierte Kunst wirklich alles sein können, dann muss sie auch singuläre Ereignisse und Prozesse aufnehmen. Die haben zudem den Vorteil, dass sie sich weiterhin nur bedingt oder gar nicht reproduzieren, sondern nur dokumentieren lassen. Der Musealisierung können zusätzlich zur Dokumentation Relikte des Ereignisses dienen. So lässt sich überhaupt jedes Kunstwerk als Relikt einer künstlerischen Performance und schließlich das gesamte Künstlerleben als eine einzige, nur teilweise oder gar nicht öffentliche künstlerische Performance begreifen und zugleich als deren Relikt. Denn der Mensch ist beides: Prozess und dingliches Kontinuum. Der einzige Mensch, den der Künstler dauerhaft verlässlich bearbeiten kann, ist er selbst. Vielleicht fände er sogar einen, der ihm als ein freiwilliger Sklave bedingungslos Folge leisten würde, aber er müsste ihm ständig neue Anweisungen geben. Bei einem selbst geschieht das bestenfalls von selbst. Eine gelungene Künstlerpersona lässt sich von der sonstigen Person nicht deutlich trennen, und es ist darum auch nicht nötig, dass sie ihr Leben lückenlos aufzeichnet, um glaubwürdig zu sein. Im Gegenteil, eine solche Dokumentation würde überhaupt erst Zweifel sähen und wäre eine Aufforderung, nach Lücken und Brüchen in der Selbstinszenierung zu suchen. Wirklich frei über andere kann man erst nach ihrem Tod verfügen, als Leiche. Die Festsetzung einer solchen Verfügung zu Lebzeiten kann jedoch das Leben bereits dauerhaft beeinflussen. In der kompaktesten und zugleich sozial verträglichsten Form ist der Käufer des Kunstwerks auch diese zukünftige Leiche, und sein Leben wird fortan durch die mit dem Kauf verbundenen Auflagen bestimmt. Was läge näher, als diese in der Gestaltung seines Grabes zu suchen?
Die Relativierung ihrer Objekthaftigkeit hat die Kunst nur immer sperriger werden lassen. Video-Projektionen verlangen nach großen eigenen Räumen. Installationen tun das sogar im Depot. Nur noch selten verlangt das Kunstwerk die Konzentration auf einen bestimmten Fleck, sondern sie gestaltet wie schon in Kirchen und Palästen den Raum. Den Wettlauf um immer mehr Präsenz muss die Kunst damit bezahlen, dass eine dauernde museale Sichtbarkeit kaum mehr möglich ist und sogar die Lagerung zunehmend von den Privatsammlungen oder den Künstler vertretenden Galerien übernommen wird. Damit bleibt die Kunst als Ware im Handel. Die temporäre Leihgabe an ein Museum ist nur ein weiterer wertsteigernder Faktor, weshalb Sammler und Galeristen gar nicht unbedingt Interesse daran haben, dass die von ihnen besessenen oder gehandelten Kunstwerke einmal in den Besitz eines öffentlichen Museums übergehen. Zumal sich nun auch die Museen nicht mehr verpflichtet sehen, ihre Sammlung komplett zu halten, wenn sie aus Verkäufen jetzt spektakuläre Ausstellungen bestreiten können. So verselbständigt sich die Spekulation. Immer mehr Kunst wird mit immensen Kosten gelagert und konserviert, um theoretisch eines Tages in eine öffentliche Sammlung überzugehen. Selbst wenn unentwegt weiter neue Museen gebaut werden, kann nur ein Bruchteil der heute teuerst gehandelten Kunst dort Aufnahme finden, weshalb es eigentlich Zeit ist, sich von dieser Erwartung zu verabschieden. Genau das könnte den ausstehenden nächsten großen Crash des Kunstmarkts bedeuten. Danach würde sich das Kaufen und Sammeln von Kunst nicht mehr fundamental von dem von Luxusobjekten wie Möbel oder Kleider bekannter Designer unterscheiden, die auch oft gesammelt werden. Künstler, die wenig und nur zu niedrigen Preisen verkaufen oder von Biennale zu Biennale reisen, tun das mit genauso wenig Aussicht auf Reichtum oder Ruhm wie ein tingelnder Musiker. So wie der seine Musik kostenlos zum Downlaod anbietet, um überhaupt auf sich aufmerksam zu machen, so gibt der Künstler seine Werke bei Galerien in Kommission, die sie dann wiederum wichtig geltenden Sammlern kostenlos zur Probe ausleihen.
Kunst wird ohnehin zunehmend von einer nicht konservierbaren Ereignishaftigkeit bestimmt, und es ist nur eine Frage der Zeit, bis man mittels 3-D-Kopierern ihre Relikte überall und jederzeit reproduzieren kann. Die enormen Kosten für Lagerung, Transport und Versicherung werden dann entfallen. Bereits heute müssen Kunstwerke, die aus vergänglichen Materialien bestehen, regelmäßig erneuert werden. Man kann das Recht zur Reproduktion der Kunstwerke weiterhin limitieren, aber sie brauchen deshalb nicht mehr museal gelagert zu werden. Alle Kunst, die noch mit dem Anspruch materieller Einzigartigkeit erstellt worden ist, kann Teil der anthropologischen Sammlungen werden. Das könnte auch eine neue Tendenz innerhalb der Kunst stärken, die entgegen der bisher vorherrschenden monotheistischen, im Grunde Objekt-verachtenden Sakralität die magischen Potenziale des Objekts hervorhebt und es berührbar und fetischierbar präsentiert. Die zeitgenössischen Museen dagegen dienen wie alle öffentlichen Veranstaltungsorte vorrangig noch dem sozialen Austausch. Auch wenn es dafür, wie der Erfolg öffentlicher Liveübertragungen zeigt, genügt, wenn leibhaftig-einmalig nur das Publikum anwesend ist, zeichnen sich Kunstereignisse, das Unikatsprinzip beerbend, durch eine große Einmaligkeit aus.
Diese hat sich durch die Verschiebung von Objekten zu Ereignissen noch verschärft. Anders als bei Theaterinszenierungen oder Konzerten gibt es nur wenige oder gar keine Wiederholungen. Auch wenn sie zu enormen Publikumserfolgen führen kann, beginnt die künstlerische Distribution immer wieder mit einer willentlichen Verknappung. Nur diese Verknappung grenzt sie noch gegen andere gesellschaftliche Tätigkeitsfelder ab, seien es die übrigen Künste, aber auch Politik, Sozialarbeit, Sport, Forschung, Religion. Kunst ist die Anmaßung, alles tun zu können, aber nicht wirklich oder konsequent. In der Kunst können sich erklärte Dilettanten austoben und erklärte Profis auf eine bloße Skizze beschränken. Man kann darin das Idyll eines herrschaftsfreien Raums erkennen – um den Preis seiner Machtlosigkeit – oder einer ungestümen Interdisziplinarität – nur bleibt es in der Regel ein Nebeneinander. Weshalb es Kuratoren braucht, die die Bezüge zwischen den künstlerischen Positionen und darüber hinaus sich als Metakünstler erst herstellen. Kunst kann statt Interdisziplinarität nur abzubilden, sich in diese auch als ein weiteres Feld einbinden lassen, insofern man von ihr eben gerade keinen unmittelbaren Nutzen erwartet. Sie verliert bei einer solchen beratenden Einbindung allerdings leicht ihre Autonomie.
Was sich kompensatorisch in der Kunst breit macht, ist ein historisches Interesse an moderner Kunst, die noch den Anspruch hegte, der Gesellschaft auch inhaltlich die Zukunft zu weisen. In dieser Tendenz gleicht sie der Philosophie, die, als sie im Zuge der akademischen Präzisierung ihren alten Anspruch auf eine umfassende Welterklärung nicht mehr erfüllen konnte, begann, sich vor allem noch mit ihrer eigenen Geschichte auseinanderzusetzen. Anfang des 20. Jahrhunderts trat die künstlerische Avantgarde, die keinen wissenschaftlichen Standards unterlag, an ihre Stelle, um nun ebenfalls immer neu seziert und partiell reanimiert zu werden. Das fügt sich ein in die Tendenz, die Kunst, die sich längst nicht mehr durch das Beherrschen handwerklicher Fertigkeiten bestimmt, als akademisches Fach wissenschaftlichen Kriterien zu unterwerfen. Das kann, analog zu der Entwicklung der Literaturwissenschaften und der jüngeren Disziplin Creative Writing, zur weitgehenden Verschmelzung des Fachs Kunst mit dem der Kunstgeschichte führen. Die Befähigung eines Künstlers zur Lehre bemisst sich nicht mehr daran, in wie wichtigen Museumssammlungen und Ausstellungen seine Werke vertreten sind, sondern daran, wie weit er auch publizistisch auf die Kunstgeschichte einzuwirken vermag. Er kann das in kunstgeschichtlichen Abhandlungen tun, aber auch als Forscher, der beispielsweise die Wirkung seiner und anderer Ausstellungen auf die Rezipienten untersucht.
Die in der Lehre entwickelten Kriterien relevanter Kunst ersetzen nicht nur die Museen als Filter, sondern innerhalb einer in der ganzen Breite nach künstlerischer Artikulation drängenden Freizeitgesellschaft wird Kunst häufig überhaupt nur noch in der Lehre wahrgenommen: in Hinblick auf die eigene Künstler-Werdung. Bleibende Wirkung erzielt ein Künstler nur noch als Artists’ Artist. So wie sich auch Geisteswissenschaftler in der Regel nur an andere beziehungsweise angehende Geisteswissenschaftler richten.
Wer in diesem Szenario ausgeklammert bleibt, sind die Sammler. Um sich nicht als habgierig oder spekulativ zu diskretieren, haben sie gelernt, auch ihr Sammeln als eine kunsthistorische beziehungsweise künstlerische Praxis zu begreifen, bei der sie in ihrem Dilettantismus jedoch Kuratoren beziehungsweise Künstler zweiter Klasse bleiben. Mit der Entwertung musealen Sammelns für die Kunst werden, wie auch schon durch die Digitalisierung musikalischer und literarischer Datenträger, enorme Sammelfelder brachgelegt. Was bleibt, ist, künstlerische Prozesse und Ereignisse ähnlich wie im Theater oder in der Oper im voraus als Mäzen zu unterstützen. Doch ein passiv-uneigennütziges Mäzenatentum hat in den letzten Jahren an Attraktivität eingebüßt.
Kunst, die Sammler einbezieht, gilt tendenziell als kunsthistorisch minderwertig, da repräsentativ. Doch jede Sammlung wirkt wenn nicht in einzelnen Werken, dann um so mehr als Ganzes repräsentativ und degradiert jedes einzelne Kunstwerk zu einem repäsentativen Fragment, das, wenn es nicht mehr passt, einfach wieder abgestoßen werden kann. Da die meiste käufliche Kunst keine Chance hat, jemals der Willkür der Sammler zu entkommen und zu museal-ewigen Weihen zu finden, und unausweichlich ihre Sammler repräsentiert, warum soll sie nicht dauernde öffentliche Präsenz gerade unter Einbindung eines Sammlers erringen? Nur muss sie ein solches Ausmaß und eine solche Robustheit annehmen – noch größer und stabiler als die ägyptischen Pyramiden –, dass sie einer musealen Verstärkung und Sorge und auch der Entwicklung einer stringent-dynamischen, Jahre und Jahrzehnte währenden Künstlerpersona nicht bedarf. Dass sie nicht einmal sichtbar sein muss, um auch noch in hundert Jahren von den Menschen intellektuell überlegenen Nachfahren als gewichtig erinnert zu werden.
Während die anderen Künste von der Bildenden Kunst in Radikalität und Expansivität nur lernen können, traue ich ihr bereits den nächsten Schritt zu, hin zu einer neuen, profanen Universalität, vielleicht sogar über Artgrenzen hinweg. Denn die Bildende Kunst ist nicht an Sprache gebunden und kann auch rein intuitiv verstanden oder zumindest missverstanden werden.

Wiederabdruck
Deutsche, leicht überarbeitete Fassung des Vorworts von Ingo Niermann, Erik Niedling: The Future of Art: A Manual, Berlin: Sternberg Press 2011.

[Dieser Text findet sich im Reader Nr. 1 auf S. 412.]

[Es sind keine weiteren Materialien zu diesem Beitrag hinterlegt.]

Ingo Niermann

(*1969, Bielefeld/D) ist Schriftsteller und lebt in New York. Zuletzt erschienen die Bücher Solution: Love (Hrsg., 2013), Drill dich (2011), The Future of Art: A Manual (mit Erik Niedling, 2011), Deutscher Sohn (mit Alexander Wallasch, 2010), Dubai Democracy (2010) und Metan (2007, mit Christian Kracht). Seit 2008 gibt Niermann die englischsprachige Buchreihe Solution heraus. Web: http://ingo-niermann.com/

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