Herbst 2012 im italienischen Badeort Moneglia an der ligurischen Küste. Das Meer ist blau, die Luft lau, der Wein rot. Ferienstimmung, wenn auch gegen Saisonende. Eine Begegnung in einem Lebensmittelgeschäft inmitten von erlesenen Weinen, frisch zubereiten Salaten und Pasta-Spezialitäten, Schinken, Salami, Hart- und Weichkäsen, Tomaten, Trauben, Feigen und Melonen und all den weiteren Herrlichkeiten, die Italien im Herbst für Gaumen, Nase und Auge zu bieten hat.
Wir beginnen ein Gespräch mit einem älteren Italiener aus Mailand, der wie wir Kunde im Laden ist und es genau so wenig eilig hat wie wir. Vor der Krise, so meint er seufzend, seien um diese Jahreszeit mehr Leute nach Moneglia gekommen. Vor der Krise, so wenden wir ein, das geht doch gar nicht. Ist in Italien nicht immer Krise? – Wir lachen beide über den Witz, der eigentlich keiner ist, und das weiß auch unser italienisches Gegenüber. Böse ist er uns nicht, und beide finden wir die passenden Zutaten für ein Abendessen.
Damit ist auch eine meiner Ideen zum Ausgangsthema „Kunst nach der Krise“ angesprochen. In der Kunst ist immer Krise. Irgendwie. Und die Vorstellung, dass die Krise einmal ein Ende hat, entspricht eher einer eschatologischen Heilserwartung, als einer realistischen Diagnose.
Irrtum, wird hier mancher einwenden: Kunst und Kultur boomen wie noch nie, allenthalben entstehen neue Einrichtungen, Konzertsäle, Kunstmuseen, Sponsoren reißen sich um große Künstler; Universitäten, Fachhochschulen und andere Bildungseinrichtungen verzeichnen ungebrochenen Zulauf, und Kunstmessen melden Jahr für Jahr neue Rekordumsätze.
Das ist die eine Seite. Es gibt eine andere oder vielleicht sogar mehrere andere Seiten. Und vielleicht ist das Debakel um den Neubau der Elbphilharmonie in Hamburg mehr als nur das Resultat einer kommunalen Fehlplanung, sondern ein Menetekel, ein Zeichen an der Wand: Größer, schöner, teurer – ein Turmbau zu Babel. So geht‘s nicht weiter. Dass es nicht so weiter geht, zeigt ein Blick in die Niederlande, wo eine neue Regierung die Subventionen für kulturelle Einrichtungen radikal zusammenstreicht.
Wer mit Kultur- und Kunstschaffenden spricht, erhält nicht den Eindruck von einem Boom, ganz im Gegenteil. Wer nicht zur dünnen Elite gehört, arbeitet gratis oder für eine Entschädigung, die weit unter dem liegt, was europäische Sozialpolitiker und Gewerkschaften als Mindestlöhne ansehen. Diese Kulturschaffenden bilden den Bodensatz eines Kultur-Prekariats, das nicht kleiner wird. Es mag Unterschiede geben: Klassische Musik scheint einen höheren Marktwert zu haben, auch wenn es nur um eine Darbietung im kleinen Kreise etwa bei einer Abdankung geht. Popmusiker – gemeinhin als kommerziell verschrien – spielen schon mal für eine Gage, die andere Leute für ein gepflegtes Abendessen einsetzen. Bildende Künstler finanzieren ihre Ausstellungen oft selber, und fotografieren kann ohnehin jeder selber, also brauchen wir davon gar nicht zu reden. Komplexe Projekte wie Theatertourneen – auch in der freien Szene – und Filmproduktionen kommen etwas besser weg. Produktionen, die das nötige Geld nicht finden, kommen gar nicht auf die Schiene.
Wer an dieser Stelle den Ruf nach mehr Geld – vom Staat, von der privaten Kulturförderung – erwartet, wird enttäuscht. Mehr Geld würde wohl das Angebot weiter erhöhen, aber den Kulturschaffenden nicht zu einem größeren Einkommen verhelfen. Die fiebrige Erregungskurve dieses Systems würde ganz einfach steigen. Die Nachfrage nach Kultur mag zwar groß sein. Sie ist aber letztlich endlich, denn die zur Verfügung stehende Zeit des Publikums ist begrenzt. Multitasking geht vielleicht in den eigenen vier Wänden, in der Öffentlichkeit funktioniert sie nicht. Der Mensch ist auch im Zeitalter der Quantenmechanik so gebaut, dass er nur ein Konzert, eine Ausstellung oder einen Film auf einmal anschauen kann. Jene, die am lautesten „mehr, mehr!“ rufen, sind vielleicht gar nicht jene, welche das kulturelle Angebot auch genießen wollen. Sie rufen vielleicht nur aus politischer Opportunität!
Kulturelles Schaffen hat in der gegenwärtigen westeuropäischen Gesellschaft einen hohen Stellenwert zu haben. Und das dürfte sich nicht so schnell ändern. Woran liegt das? Der hohe Wert der Kultur scheint gewissermaßen zur DNA unserer Gesellschaft zu gehören. Dazu kommt so etwas wie ein kategorischer Imperativ: Jeder muss von diesem Manna zehren können. Jahrzehnte von Kulturförderung, Kunstvermittlung, Musikpädagogik, Medien- und Filmerziehung sind nicht spurlos an uns vorbei gegangen. Auch die Hochschulen und andere Bildungseinrichtungen haben von diesem Segen profitiert. Es wäre interessant, die Zahlen für den Ausbau der kunst- und kulturbezogenen Ausbildungsgänge in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg zu analysieren. Schon den Kindergärtnern wird beigebracht, wie wertvoll kreatives Schaffen ist. Die Botschaft ist angekommen. Josef Beuys‘ Imperativ „Jeder ist ein Künstler“ hat Früchte getragen. Heute ist jeder ein Künstler, der selbstbewusst sein Publikum sucht und nach Förderung ruft!
Wer sich als Künstler oder Kulturschaffender in dieses System begibt, weiß in der Regel, worauf er sich einlässt. „Lasst, die ihr eintretet, alle Hoffnung fahren“, mag man ihm mit Dante zurufen, meist ist es aber dafür zu spät. Kulturschaffen gleicht einem Gang durch die Wüste. Oasen gibt es unterwegs, aber sie dienen bestenfalls den Pausen. Keine Kulturförderung kann dies ändern, es sei denn, man kehrt zum System der Staatskunst zurück, wie es in kommunistischen Ländern praktiziert wurde. Die Entscheidung dafür ist genauso freiwillig wie der Gang ins Kloster. Und wer dann nach Jahren der Arbeit, des Betens und der Askese erfahren muss, dass er oder sie nicht für diese Welt gemacht ist, muss seufzend den Satz hören, den Generationen von Abtrünnigen gehört haben: Viele sind berufen, aber nur wenige auserwählt.
Warum haben Kunst und Kultur in der Gesellschaft von heute einen derart hohen Stellenwert? Die Antwort ist einfach: Sie produzieren Sinn. Sie stellen Fragen, auf die es oft keine Antworten gibt, sie ermöglichen manchmal neue Blicke und manchmal auch nur eine neue Verwirrung. Manchmal sind sie heilsam, manchmal nicht. Diese Art von Antworten ist offenbar adäquat. Die Sinnfrage wurde in der Vergangenheit von der Religion beantwortet. Kunst ersetzt und ergänzt sie. Dass die Religion abgedankt hat, wäre eine vermessene Idee eines postmodernen Geistes. Die weltweiten Zahlen sprechen eine andere Sprache und am schnellsten wachsen offenbar die christlichen Glaubensrichtungen. Der moderne Mensch ist aber in Sachen Sinnproduktion pluralistisch. Deshalb verträgt es auch mehrere Sinngeneratoren.
Zwei weitere Ingredienzen kommen dazu: Kommunikation in Echtzeit und Globalisierung. Sie gehören zusammen wie Huhn und Ei. Was heute in Shanghai hip ist, wird morgen in Frankfurt gezeigt. Oder umgekehrt. Wer im Kulturbetrieb Erfolg haben will, ist schon heute ein moderner Nomade. Er reist seinen Engagements nach. Computer, Internet und Smartphones werden diese Entwicklung nicht bremsen, im Gegenteil, sie wird noch schneller. Glasfaserkabel und Satellitenverbindungen sind die Nervenstränge der globalisierten Welt.
Aus diesen Zutaten speist sich die Kunst des 21. Jahrhunderts. Wer meint zu wissen, was daraus entsteht, muss sich darauf gefasst machen, dass genau das Gegenteil eintrifft. In der Quantenphysik funktioniert das wunderbar, wie wir von Schrödingers Katze wissen. Schrödingers Katze ist gleichzeitig tot und lebendig. Ein Paradox. Man kann das nicht verstehen, man muss das einfach zur Kenntnis nehmen. Das Entweder-oder ist nichts als ein bequemes diskursives Muster. Leider ist es falsch. Gemeint ist, dass Aussagen wie „Das e-Book wird sich gegenüber dem traditionellen Buch durchsetzen“ ebenso falsch sind wie „Die Malerei wird im 21. Jahrhundert wieder mehr geschätzt als die elektronische Kunst“ unbrauchbar sind. Stattdessen: Scheinbar zufällige, unmotivierte Bocksprünge – mal da, mal dort. Angetrieben von der Erregungskurve einer Gesellschaft. Und vielleicht ist der Zufall nur scheinbar, weil keiner das zugrundeliegende Muster erkennt, versteht, durchschaut.
Kunst und Kultur reagieren auf gesellschaftliche Entwicklungen, neue Verfahren, neues Wissen, neue Praktiken. Und viele dieser neuen Entwicklungen kamen in den letzten Jahrzehnten aus der Wissenschaft und der Technik. Standen zunächst Elektronik und Computer im Vordergrund, so rücken in der letzten Zeit vermehrt die so genannten Lebenswissenschaften in den Fokus: Biologie, Chemie, Biochemie, Medizin.
Wir haben uns beim Migros-Kulturprozent in den vergangenen Jahren intensiv mit dem Do-it-yourself-Verfahren in der elektronischen Kunst befasst. Zuletzt entstand 2013 ein Band zum Thema „Home Made Bio Electronic Arts“. Eine der zentralen Aussagen des Bandes ist die Feststellung, dass solche Do-it-yourself-Verfahren für eine Auseinandersetzung mit einer neuen, schwierigen Materie stehen. Allerdings gibt es auch hier verschiedene Optionen: Man kann ganz in die Materie eintauchen und eigene Versuchsanordnungen entwickeln, man kann aber auch ohne selber Hand anzulegen konzeptionelle Entwürfe präsentieren. Trotzdem wäre es vermessen zu behaupten, dass dem Do-it-yourself-Prinzip die Zukunft gehört. Ich würde es eher als eine mögliche künstlerische Praxis anschauen. Dasselbe ließe sich auch vom Hacking sagen, eine Praxis, die ohnehin mit jener des Do-it-yourself verwandt ist. Hacking meint ja nichts anderes als mit Tricks zu einem Resultat zu kommen. Eine Anordnung für etwas zu benutzen, für das sie möglicherweise nicht gebaut ist. Das muss nicht notwendigerweise illegal sein. Kunst stellt die Fragen der Gegenwart. Dazu gehören auch Fragen der Vergangenheit. Kunst als Experiment schließt die Gefahr ein, dass das Experiment misslingt oder abgebrochen wird. Darin bildet die Kunst des 21. Jahrhunderts auch die Welt des 21. Jahrhunderts ab. Das Experiment kann jederzeit misslingen. Die Krise ist Teil des Systems.
So wird es auch in Italien sein. Und ich freue mich auf neue kulturelle, musikalische und gastronomische Streifzüge im Süden Europas!
[Dieser Text findet sich im Reader Nr. 1 auf S. 286.]