Kennen Sie Carly Rae Jepsen? Sie hat bei der kanadischen Version von Deutschland sucht den Superstar im Jahr 2007 den dritten Platz belegt und gehört vermutlich nicht in einen solchen Band. In der Sekunde jedoch, als der Internet-Superstar Justin Bieber sie im Internet zu einem echten Superstar machte, erreichte Jepsen einen Status, der sie für dieses Buch qualifiziert.
Carly Rae Jepsen ist die Interpretin des Songs Call Me Maybe. Wobei man korrekterweise sagen muss: Carly Rae Jepsen ist die Interpretin einer ersten Version des Songs Call Me Maybe. Denn dieses Lied hat sich im Laufe des Jahres 2012 zu einer Art Kopiervorlage für die Kreativität des Netzes entwickelt: Remix- und Coverversionen von Justin Bieber1, Kate Perry2 und Jimmy Fallon3 sind im Internet verfügbar. Auch eine Sesamstraßen-Version4 unter dem Titel Share Me Maybe ist verfügbar sowie ein lippensynchroner Zusammenschnitt aus Reden von Barack Obama5 und Star Wars-Sequenzen6, die ebenfalls Jepsens Song ergeben. Und während dieser Text hier gedruckt wird, entstehen vermutlich noch weitere Versionen.
Der intellektuelle Weg von Justin Bieber und Carly Rae Jepsen zu Felix Stalder ist weit. Der kunsttheoretische jedoch nicht. „Wenn wir den Remix als zentrale Methode des zeitgenössischen Kulturschaffens betrachten“, schreibt der Internet-Theoretiker in seinem lesenswerten Text Who‘s afraid of the (re)mix? Autorschaft ohne Urheberschaft, „bedeutet das auch, dass wir von einem veränderten Verhältnis von Autor, Werk und Öffentlichkeit ausgehen. Der Autor steht nun nicht mehr am Anfang des kreativen Prozesses, sondern in der Mitte.“ 7
Carly Rae Jepsen steht am Anfang dieses Textes, weil sich an ihrer ersten Version von Call Me Maybe eben das auf großer Bühne zeigen lässt, was Stalder in der Theorie beschreibt: dass nämlich die „Idee des Anfangs, die Figur des Urhebers, die Behauptung, dass ein Werk gänzlich der Absicht des Autoren entspricht“, brüchig geworden ist.
Damit ist eine der Folgen benannt, die sich aus der digitalen Kopie für unsere Vorstellung von Kunst und Kultur ergibt. Durch die Ablösung der Daten von ihrem Träger sind diese kosten- und verlustfrei duplizierbar. Diese historische Ungeheuerlichkeit ist Thema meines Buchs Mashup – Lob der Kopie8. Was bedeutet es, dass wir Vorlage und Vervielfältigung einzig durch den digitalen Zeitstempel unterscheiden können? Wie verändert dieser „Wandel vom Atom zum Bit“ – wie Nicolas Negroponte es schon Mitte der 1990er Jahre nannte – unsere Vorstellung von Kunst und Kultur?
Nachhaltig und grundlegend. So viel ist auch fast zwanzig Jahre nach Negropontes Beschreibung in seinem auch heute noch lesenswerten Buch Total digital9 klar. Viel mehr aber auch nicht. Denn in Wahrheit bleiben die meisten Denk- und vor allem Geschäftsmodelle auf der Ebene der Atome stehen, arbeiten mit der Verknappung, wo Daten im Überfluss vorhanden sind, und unterscheiden weiterhin zwischen lobenswertem Original und minderwertiger Kopie.
Ich möchte versuchen, dieses Denken umzudrehen. Weil ich nicht glaube, dass der von Negroponte beschriebene Wandel umkehrbar ist. Wir werden nicht zurückkehren zum Zeitalter der Atome. Bits sind leichter zu verbreiten, günstiger herzustellen und viel bequemer zu nutzen. Sie werden nicht verschwinden.
In seinem Buch Die Information. Geschichte, Theorie, Flut fragt der Autor und Journalist James Gleick, wo man suchen müsse, wolle man Beethovens Klaviersonate in e-Moll finden. Er beantwortet sich die Frage nach dem, was Musik in Wahrheit sei, selbst mit den Worten: „Die auf Papier gedruckten Viertel- und Achtelnoten sind nicht die Musik. Musik ist keine Abfolge von Druckwellen, die durch die Luft schallen; sie ist auch keine Rille, die in Vinyl eingegraben wird oder die Mikrovertiefungsstruktur der CDs; und nicht einmal die neuronalen Symphonien, die im Gehirn des Zuhörers aufgewühlt werden. Die Musik ist die Information. Dem vergleichbar sind die Basenpaare der DNA keine Gene. Sie enkodieren Gene. Gene selbst bestehen aus Bits.“
Wenn das stimmt, müssen wir Musik, egal ob sie von Jepsen oder von Beethoven stammt, vielleicht wie Software denken. Die Digitalisierung macht aus jeglicher Form von Kunst etwas, das in seinen Eigenschaften einem Computerprogramm vermutlich ähnlicher ist als einem singulären unveränderlichen Werkstück. Software wird in Versionen ausgeliefert. Niemand macht sich auf die Suche nach dem Original Firefox-Browser. Es ist selbstverständlich, dass es Updates gibt. Neue Versionen. So wie auch Call Me Maybe weiterentwickelt und in neuen Versionen veröffentlicht wurde.
Denn anders als bei Atomen ist dies mit Bits sehr leicht möglich. Die Daten sind von ihrem Trä-ger gelöst und bewegen sich. Der vormals feste, robuste und kaum bewegliche Eisblock ist plötzlich im Überfluss da und gleichzeitig auch verschwunden: Er ist aufgetaut.
Kunst als Software zu denken, heißt, den Prozess der Verflüssigung zu denken, den spätestens seit der Beschreibung durch Zygmunt Baumann unsere Gesellschaft erfasst hat. Das Liquide ist für Baumann (flüchtige Moderne) die zentrale Metapher um das Spezifische der Gegenwart zu beschreiben. Und so gilt, was der Soziologe allgemein formuliert hat, vielleicht auch sehr konkret für verflüssigte Kunst und Kultur: „Flüssigkeiten bewegen sich mit Leichtigkeit. Sie sind im Gegensatz zu Festkörpern nicht leicht aufzuhalten – manche Widerstände umfließen sie, andere lösen sie auf oder werden von ihnen aufgesogen oder sickern durch sie hin-durch. Das Zusammentreffen mit Festkörpern kann ihnen nichts anhaben, diese jedoch verändern sich, werden feucht oder durchnässt.“10
Für Künstler ist das eine im Grunde gute Vorstellung: ihre Kunst kann sich so leicht, so unaufhaltsam wie noch nie verbreiten. Sie kann Widerstände umfließen, durchsickern und durchfeuchten. Sie ist umgekehrt aber auch nur schwer zu stoppen, eine Verknappung und Begrenzung ist nur zu hohen Kosten möglich. Ein bisschen so wie Aufwand von Nöten ist, um einen gewöhnlichen mitteleuropäischen Fluss komplett zufrieren zu lassen.
Wenn wir Kunst in dieser Form denken, verändert das nicht nur die Vorstellung von Originalität und die Rolle der beteiligten Akteure (Kreative, Mittler, Öffentlichkeit), es führt vor allem dazu, dass wir in der Digitalisierung auch Chancen für neue Denk- und Geschäftsmodelle entdecken können: Die Freie Software- und die Open Source-Bewegung haben gezeigt, wie solche Modelle im Bereich der klassischen Software funktionieren können. Die kollaborative Enzyklopädie Wikipedia überträgt dieses Modell auf Text-Inhalte. Beiträge in der Wikipedia liegen stets in Versionen vor, sie sind bearbeit- und editierbar. Sie sind gemeinschaftlich erstellt, und ihre Entstehung lässt sich nachverfolgen.
Ich glaube, dass es sich lohnt, auch auf anderen Gebieten, diesem Denkmuster zu folgen und den Prozess in den Vordergrund zu rücken und nicht einzig über ein Produkt nachzudenken. Und dafür zumindest ist Call Me Maybe ein gutes Beispiel.
1.) http://www.youtube.com/watch?v=JdxloBJ_nxM [3.1.2012].
2.) http://www.youtube.com/watch?v=2zxzDqtXzVU [3.1.2012].
3.) http://www.youtube.com/watch?v=lEsPhTbJhuo [3.1.2012].
4.) http://www.youtube.com/watch?v=-qTIGg3I5y8 [3.1.2012].
5.) http://www.youtube.com/watch?v=hX1YVzdnpEc [3.1.2012].
6.) http://www.youtube.com/watch?v=dBM7i84BThE [3.1.2012].
7.) Stalder, Felix: Who‘s afraid of the (re)mix? Autorschaft ohne Urheberschaft, unter: http://felix.openflows.com/node/235 [3.1.2012].
8.) Gehlen, Dirk von: Mashup. Lob der Kopie, Berlin: Suhrkamp 2011.
9.) Negroponte, Nicholas: Total digital: die Welt zwischen 0 und 1 oder die Zukunft der Kommunikation, München: Bertelsmann, 1995.
10.) Baumann, Zygmunt: Flüchtige Moderne, Suhrkamp 2003.
[Dieser Text findet sich im Reader Nr. 1 auf S. 208.]