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Wochenklausur. Vom Objekt zur Intervention

Wochenklausur, Wolfgang Zinggl / 2001

Das Verständnis von Kunst verändert sich nur sehr langsam. Schon vor hundert Jahren ist ihr Werkcharakter in Frage gestellt worden. Seither versuchen KünstlerInnen, Aufgaben zu übernehmen, die weit über das Herstellen von Objekten hinausgehen.
Immer wieder und jetzt schon lange kommt die Forderung, Kunst möge nicht mehr in eigens dafür ausgewiesenen Räumen verehrt werden, sie möge keine parallele Quasiwelt bilden und nicht so tun, als könne sie aus sich und für sich existieren. Sie möge sich mit der Realität auseinandersetzen, die politischen Verhältnisse aufgreifen und Vorschläge zur Verbesserung des Zusammenlebens ausarbeiten. Unkonventionelle Ideen, Innovationsgeist und Energien, die jahrhundertelang im formalen Glasperlenspiel aufgegangen waren, könnten so zur Lösung realer Probleme beitragen.
Jetzt, zu Beginn des 21. Jahrhunderts, greifen die Forderungen langsam. Die formalästhetischen Auseinandersetzungen sind ausgereizt, die selbstreferentiellen Überschläge sind inflationär geworden, und die Verehrung des Genialen ist anderen Qualitäten gewichen. Damit einher allerdings ist eine grundsätzliche Diskussion um die Funktionen von Kunst aufgebrochen: Wer macht in der Kunst was wofür?
Kunst kann viele Aufgaben übernehmen. Seitenweise, wie Stilrichtungen, lassen sich die verschiedenen Funktionen auflisten: Kunst kann ihre Auftraggeber und Produzenten repräsentieren, sie kann Identitäten stiften und pflegen, sie kann den snobistischen Hunger nach Wissen und Besitz stillen. Kunst kann die Freizeit gelangweilter Massen auffetten, sie kann als finanzielles Spekulationsobjekt dienen, sie kann Gefühle übermitteln und das Herz im Leibe vibrieren lassen. Zudem greifen viele Funktionen auch noch ineinander. Der abstrakte Expressionismus diente den Amerikanern im kalten Krieg als politisches Instrument der Kulturalisation genauso wie dem spirituellen Ausdrucksbedürfnis der jungen Maler, die ihn schufen.
Eine der Funktionen von Kunst war immer die Veränderung der Lebensverhältnisse. Das Hinterfragen irrationaler Tabus und tradierter Wertmaßstäbe und die Korrektur sozialer Bedingungen haben mit der Moderne und ihrer Verabschiedung von religiös begründeten Autoritäten auch in der Kunst an Boden gewonnen. Diese Funktion hat erstmals mit den russischen Konstruktivisten auch praktische Vertreter gefunden. Gleichzeitig zum Machtwechsel in Russland 1917 wurde eine Kunst vorgestellt, die über Agitation und Aktivismus direkten Einfluss auf das Bewusstsein und die Lebensumstände des Volkes nehmen wollte. Damit wurde ein neues Kapitel in der Kunstgeschichte aufgeschlagen.
Mit dem Bauhaus wurde dieses Thema auch in Deutschland gepflegt. Wissenschaft, Architektur, Technik und bildende Kunst arbeiteten einander zu, um möglichst viele Bereiche des Lebens nachhaltig zu gestalten. Bücher und Plakate, Fahrzeuge, Landschaften und Kleider nahmen neue, dem Zweck und der Ideologie entsprechende Formen an, um dadurch beinahe selbstverständlich die jeweils veränderte Lebensphilosophie zu etablieren. Jede formale Erneuerung der Welt, so dachten die KünstlerInnen damals, müsste auch eine kleine, der Form entsprechende Einstellungsänderung nach sich ziehen.
Und tatsächlich hat es viele Jahrzehnte lang ausgesehen, als ließe sich die Gesellschaft über die Veränderung der visuellen Umgebung, der Seh- und Hörgewohnheiten, manipulieren. Noch bis in die Sechzigerjahre hat diese Ansicht Freunde gefunden und die Frage, ob die Jugendrevolte damals von der Rock- und Popmusik beeinflusst oder gar ausgelöst wurde, oder ob die Musik ihrerseits lediglich Teil der Entladung einer längst aufgestauten Unzufriedenheit war, sorgt bis heute in soziologischen Seminaren für Stoff. Rückblickend sieht der Ansatz „Veränderung der sozialen Verhältnisse durch Veränderung der Formen“ ein wenig naiv aus. Freilich lassen sich über Formen die Einstellungen und Gewohnheiten, Denkmuster und Wertmaßstäbe marginal beeinflussen. Die ganze Werbebranche lebt von dieser These. Doch die ideologischen Prinzipien der Menschen, ihre Weltanschauungen und Werte lassen sich über Farben, Klänge und Formen nicht wirklich verändern. Kleider, könnte man sagen, machen nur in romantischen Novellen Leute.
Nach dem Zweiten Weltkrieg erlebte die „gesellschaftlich engagierte Kunst“ mehrere Höhepunkte. „Wir meinen zunächst, dass die Welt verändert werden muss“, heißt es zu Beginn des Situationistischen Gründungsmanifestes Ende der Fünfzigerjahre. Ähnliche Ankündigungen und Aufforderungen zu einem Wechsel in der Politik, der Sexualität, der Wirtschaft und in der Kultur fanden sich bei zahlreichen Initiativen und Organisationen. Immer unter ihresgleichen berieten die Lettristen und Aktivisten über die gründlichste Methode der Zerstörung sämtlicher Traditionen, ständig auf der Hut vor der eigenen Institutionalisierung. Was nach der Zerstörung kommen sollte, war weniger wichtig, der Weg war das Ziel, der Konflikt mit der Hochkultur, deren Ausdrucksformen unter dem Verdacht standen, von den wirtschaftlich Herrschenden annektiert und gezielt eingesetzt worden zu sein. „Künstler, die sich auf die Reservate ihres Fachbereichs zurückziehen, sind ebenso Funktionäre der erstarrten Gesellschaft wie Facharbeiter und Aktenordner“ druckte die Subversive Aktion. Diese Aktivisten, die sich selbst als „Paraeliten“ bezeichneten, wollten das verwirklichen, was andere nicht einmal zu denken wagten. Und doch hinterließen sie, mit einigem historischen Abstand betrachtet, nicht viel mehr als Manifeste. Es blieb bei verheißungsvollen Absichtserklärungen und Sprüchen. Allerdings: Die Methode der „Konstruktion von Situationen“ findet Nachfolger bis heute.
Gleichzeitig zu Situationisten und Lettristen entwickelte sich die Konzeptkunst: Nicht mehr das Objekt, sondern die dahinter liegende Idee war das, was in der Kunst zählen sollte. Sieht man von ersten Vorläufern wie dem österreichischen Dichter H.C. Artmann in den Fünfzigern ab, war die erste wichtige Phase der Konzeptkunst zur Zeit des Vietnamkriegs, der Ermordung von Martin Luther King und Malcolm X. Es war die Zeit der Studentenunruhen, des kontinuierlichen Kampfes um Bürgerrechte und des wachsenden Feminismus. Die generelle Infragestellung von Wertmaßstäben und Autoritäten führte neben allerlei spaßigen Ausprägungen und selbstreferentiellen „Kunstbetriebsanalysen“ vor allem zu einem deutlichen Interesse am Politischen. Von den „klassischen“ Positionen ausgehend, entwickelten deshalb die Post-Konzeptualisten ihre Formen der Auseinandersetzung mit Rasse, Klasse, Nation und Geschlecht. Aber auch sie verharrten im traditionellen Kunstkontext insofern, als sie lediglich über die üblichen Ausstellungs- und Präsentationsmöglichkeiten ihre Anliegen vermittelten, – einem spezifischen Kunstpublikum, das zum Großteil ohnehin ihre Ansichten teilte. Eifrig fotografierte und inszenierte Stellungnahmen zu Rassismus, Feminismus oder Homosexualität, wenn sie lediglich in den Kunsträumen zum Besten gegeben wurden, erreichten immer dieselben Menschen, die sich nichtsdestotrotz gerne gegenseitig korrekte Haltung bewiesen. Und doch muss dieses Kunstverständnis als wichtiger Wegbereiter des politischen Aktivismus heute verstanden werden.
Auch die Aktionskunst leistete einen wesentlichen Beitrag auf dem Weg zum Aktivismus. Ursprünglich als kathartische Befriedigung unerfüllter Triebwünsche des Individuums gedacht und als Befreiung des Subjekts von konventionellen Zwängen, wandelte sich der Aktionismus bald und erkannte die Ursache vieler individueller und psychischer Probleme in gesellschaftlichen Ungerechtigkeiten. Der Wunsch nach Katharsis konnte oft nicht erfüllt werden, weil den Beteiligten die Sinnlosigkeit jedes Urschreis bewusst wird, ganz gleich, aus welchen Tiefen er auch kommen mag, wenn die sozialen Bedingungen keine Chance auf Verbesserung der subjektiven Befindlichkeit bieten.
In den Siebzigerjahren endlich wurde die Forderung nach gesellschaftspolitischer Relevanz von Kunst konkret in die Tat umgesetzt. Auf vielfältigste Weise. Das alternative Fernsehprogramm Ulrike Rosenbachs sollte die Menschen von den Monopolen der Medienzaren emanzipieren, Videotechnik wurde von Richard Kriesche zur Rehabilitation behinderter Kinder eingesetzt – lange bevor die Medizin auf diese Idee gekommen war –, Barbara Steveni und John Latham von der Artist Placement Group trugen Verbesserungsvorschläge in der Erziehungspolitik an ihre Regierung heran. Joseph Beuys definierte die Stellung der Kunst in der Gesellschaft über den Begriff der Sozialen Plastik neu, Hans Haacke zeigte, wie über Eingriffe politische Prozesse beeinflusst werden können, Klaus Staecks Agitprop-Plakate dienten der Aufklärung über Zusammenhänge von Wirtschaft und Macht, und Gruppen wie die Art Workers Coalition sagten dem herkömmlichen Kunstbetrieb mit seinen rigiden Zulassungskriterien den Kampf an.
Voller Euphorie und nicht ohne eine Portion von Selbstüberschätzung (der/die KünstlerIn als Seher, Schamane, Heilsbringer, revolutionärer Guru) wollten diese KünstlerInnen, so war man sich in avantgardistischen Zirkeln einig, Beiträge zur Verbesserung des Zusammenlebens liefern: in der Psychologie, der Soziologie, bei Heilmethoden oder im Strafvollzug. Die Avantgarde wollte lebendige Orte für ihr Schaffen wählen, nicht mehr für die Ewigkeit arbeiten und andere als die konditionierten Publikumsschichten ansprechen.
Zuletzt ging es dann aber nicht ohne die alten Institutionen. Die Museen, die Kunstzeitschriften, die Galerien und Kunstschulen integrierten sämtliche Formen sogenannter „Antikunst“ geradezu spielend. Selbst die subversivsten Formen des Aktionismus und des Neo-Dada wurden vereinnahmt, und letztendlich blieben doch nur wieder Objekte. Relikte von Aktionen, Fotos und Skizzen wurden zu Fetischen hochstilisiert und gehandelt. Für die meisten Menschen damals – und das gilt bis heute – hat Kunst eben mit Werken zu tun. Sie muss etwas sein, das sich sehen, angreifen und einpacken lässt. Alles andere kann nicht verkauft, gesammelt und bewahrt werden.
Andere Qualitäten als die unmittelbar sinnlich wahrnehmbaren, die doch immer an Objekte gebunden sind, wurden nur langsam aufgebaut. Immerhin gaben die Siebzigerjahre einen Weg vor, wie sich die Kunst nach Verlassen der Mimesis, des Ausdrucksbedürfnisses, der Abstraktionsvarianten und der Formfrage überhaupt weiter entwickeln könnte. Mit Fluxus, mit Happenings, Performances und Aktionen, mit den ironischen Varianten der Ready-Mades und mit der Konzeptkunst wurde ein tiefer Zweifel an der Vorstellung deutlich, Kunst könne sich lediglich im Objekt festmachen. Konzept und Idee, die hinter jeder materiellen Verwirklichung als die eigentliche künstlerische Leistung – selbst beim Tafelbild – diskutiert wurden, gewannen gegenüber einem Kunstbegriff, der sich lediglich im Material manifestiert, an Boden. Und damit war natürlich auch der gesamte Komplex der Produktionsbedingungen in Frage zu stellen.
Dann, in den Achtzigerjahren, schien alles vorbei zu sein. Sämtliche Erfolge und Bemühungen sozialpolitisch engagierter Kunst wurden beiseite geschoben. Immer wieder und mit wachsendem Erfolg wurde den Visionen eine Kunst ohne jeden Zweck gegenüber gestellt. Es traten wieder die kontemplativen Funktionen der Kunst in den Vordergrund und die Gegenstände, die zu ihr führen sollten: die Kunstheiligtümer.
Der Umschwung kam gar nicht so sehr von der an Utopien weiterhin interessierten KünstlerInnenschar. Er kam auch nicht von der Kritik. Es war vielmehr jene mächtige Szene, die Kunst weiter als Handelsware betrachten musste, weil sie über diese Kunst ihren Unterhalt bestritt. Es war die große Schar von Spekulanten und Sammlern, die ihre Felle und Leinwände davon schwimmen sah. Ihnen schlossen sich konservative Kunstlehrer an, die alte, eingeübte Ansichten nicht ändern wollten und all die Institutionen, die ihre Ausstellungshallen gerne wieder mit Besuchern gefüllt hätten. Sie wollten der veränderten Kunstanschauung nicht folgen. Lieber wählten sie die Variante der Wiederholung von hundertmal Dagewesenem, und lieber packten sie weiterhin Waren ein und aus. Eine Kunst, die demgegenüber nichts im Sinn hat, als ihr Potential zur Verbesserung missliebiger Verhältnisse einzusetzen, war eben nicht geeignet, Rendite zu machen. Sie konnte das ästhetisch anfällige Auge nicht entzücken, und sie konnte keine Gefühle von Erhabenheit wecken.
Anders zur selben Zeit in Polen. Eine Aktionsgruppe, orange gekleidet, trat 1988 auf die Straßen und rief den regierenden General Jaruzelski per Megaphon zum König aus. Das war kein plakativer Antikommunismus, sondern eine raffinierte Strategie, mit der diese KünstlerInnen der Doppelmoral des Regimes auf den Leib rückten. Sie proklamierten auch einen „internationalen Tag des Spitzels“, an dem sie zu hunderten mit schwarzen Brillen und hochgestelltem Kragen auftauchten, Passanten anhielten und Pässe kontrollierten. Ein andermal sangen sie pathetische Hymnen zum Lobe der roten Armee und verlasen das Orange Manifest des Sozialistischen Surrealismus. In diesem Manifest wird der Polizist zum Kunstwerk erklärt, als einzelner oder noch besser im formierten Rudel, das auf die Aktivisten losdrischt: je wilder, desto Kunst.
Auch im Westen hielt die Phase der Selbstherrlichkeit marktorientierter Kunstproduktionen nicht ewig an. Und in den Neunzigerjahren kam es dann auch tatsächlich neuerlich zum Umdenken und zu einer Rückbesinnung auf die gesellschaftliche Verantwortung der Kunst. Die in der Postmoderne zelebrierte Autonomie erwies sich als Popanz, dem unzählige Paläste und Museumsneubauten errichtet wurden, der den Händlern zwar zunächst schwindelerregende Umsätze, danach aber auch Inflation und Einbußen bescherte. Mit realpolitischen Auseinandersetzungen hatte diese Kunst nichts am Hut. Die Auswirkungen konservativer Wirtschaftspolitik, der schleichende Sozialabbau, zunehmende Migrationskonflikte und die generelle Unsicherheit nach dem Ende der Ost-West-Balance wurden nach dem Zusammenbruch des Marktes und der Entauratisierung der Kunst daher wieder zu bestimmenden Faktoren der Kunstproduktion. Seither entwickelt sich die bildende Kunst vor allem in zwei Richtungen. In eine Kunst, die von Wirtschaftsinteressen und Quotendenken bestimmt ist, die mit Spektakel Publikumsmassen anlockt – und in eine Kunst, die unabhängig von Profiten und Populismen als Möglichkeit agiert, die gemeinsamen Lebensbedingungen zu überprüfen und zu verbessern. Letzteres klingt ein bisschen altruistisch und missionarisch. Zu altruistisch für die Kunst, die doch jenseits des alltäglichen Krams so ganz frei und ungezwungen bleiben möchte. Und doch fällt immer mehr KünstlerInnen die Entscheidung leicht, wenn angesichts zahlreicher Funktionen von Kunst die Wahl nicht auf die Befriedigung von Freizeitbedürfnissen, sondern auf eine Mitgestaltung des Zusammenlebens fällt.
Im Unterschied zu den Vorstellungen in den Siebzigerjahren geht es bei den heute tätigen Aktivisten nicht mehr um die generelle Weltveränderung. Und es geht auch nicht mehr um die gnadenlose Durchsetzung ideologischer Linien, wie das Joseph Beuys mit der Umwandlung einer ganzen Gesellschaft in eine Soziale Plastik im Sinn hatte, oder wie das die russischen Konstruktivisten machen wollten, die Futuristen und viele andere Manifestanten der Moderne. Die aktivistische Kunst am Ende des Jahrhunderts überschätzt sich nicht mehr. Aber sie unterschätzt sich auch nicht. Sie trägt einen bescheidenen Teil bei. Es wäre auch falsch, in einer Abwicklungsgesellschaft, der jede Grundsatzdiskussion abhanden gekommen ist, gerade von der Kunst zu erwarten, dass Entscheidendes verändert werden kann.
Und doch. Richtig dosiert, kann sie mehr verändern als angenommen wird. Sie muss sich allerdings sehr konkreten Veränderungsstrategien widmen. In Krankenhäusern den Patienten über künstlerische Gestaltung der Wände Genesung wünschen, Asylanten österreichische Literatur vorlesen oder am Theater die Mutter Courage im Kostüm einer Kosovo-Albanerin auftreten zu lassen, sind nichts als nette Alibihandlungen des schlechten Gewissens. Die Serie könnte fortgesetzt werden. Mit „Obdachlosenkunst“ zum Beispiel. Tania Mourad sprühte mit Sand auf Fensterscheiben die Zeichen der Vagabunden „Hier gibt es Essen“ und „Hier wirkt eine gastfreundliche Frau“. Und sie reichte konsequent Gratis-Croissants, bevor sie wieder in ihr Alltagsleben zurückkehrte. Es gibt Rockmusik und Texte zur Wohnungsnot, in denen sich „Mieternot“ auf „Spekulantenbrot“ reimt, und es gibt einen Designer, den in New York lebenden Krzysztof Wodiczko, der laufend Vehikel für die New Yorker Winers und Homeless entwarf. Auf Supermarktwagen aufgebaute, utopisch anmutende Allzweckfahrzeuge, die Stadtstreicher vor sich herschieben sollten, in denen sie Leergutflaschen stauen und die sich abends zu einer Einmann-Schlafkoje aufklappen lassen. Der Ansatz Wodiczkos, er sucht nach Lösungen innerhalb des Bestehenden, nicht nach Utopien, ist sicher bemerkenswert. Und doch werden seine Wagen zuletzt nur in Museen präsentiert. Das lässt den Verdacht der Benutzung sozialer Notstände zur Schaffung „wertvoller Exponate“ aufkommen. Dass sie von den Betroffenen tatsächlich verwendet werden, ist gar nicht vorstellbar: Da ergeben sich allein schon ganz banale Abstellprobleme.
Die gesellschaftliche Erneuerung ist eine Aufgabe der Gegenwartskunst nach der Kunst der Behandlung von Oberflächen. Es dürfte die lohnendere Arbeit sein, vor den Oberflächen die tragenden Konstruktionen zu verbessern. Die Chance dieser Kunst besteht allerdings darin, dass sie der Gemeinschaft etwas bieten kann, das auch Wirkung erzielt. Wenn etwa am Wiener Gürtel, statt vieler großer Skulpturen aus Metall und Kunststoff, Holz oder Beton, die dort aufgestellt werden hätten sollen, die dringendsten Anliegen der Prostituierten wahrgenommen werden, die dort ihrer Arbeit nachgehen, um vielleicht eine kleine Verbesserung ihrer sozialen Situation herbeizuführen, dann wird der Unterschied zwischen einer privaten Geschmackskultur und einer öffentlich sozialen Kunst deutlich. Anlässe und Möglichkeiten für konkrete Eingriffe aus der Kunst sollten nicht gleich mit moralisierendem Übereifer verwechselt werden. Als Handlungsmöglichkeit beinhalten sie ein nicht zu unterschätzendes politisches Kapital und stehen der traditionellen Bearbeitung von Materialien in keiner Weise nach. Die Gruppe WochenKlausur geht von dieser Funktion der Kunst und ihren historischen Wegbereitern aus. Sie stellt sich präzise Aufgaben und versucht in zeitlich begrenzten Intensiveinsätzen Lösungen für erkannte Probleme zu erarbeiten.

Wiederabdruck
Dieser Text erschien zuerst in Zinggl, Wolfgang (Hrsg): WochenKlausur. Gesellschaftspolitischer Aktivismus in der Kunst. Springer, New York, 2001.

[Dieser Text findet sich im Reader Nr. 1 auf S. 621.]

[Es sind keine weiteren Materialien zu diesem Beitrag hinterlegt.]

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Wolfgang Zinggl

(*1954) ist ein österreichischer Kulturwissenschaftler, Künstler und Abgeordneter zum Nationalrat (Grüne). Seit 2004 Kultursprecher der Grünen im Österreichischen Nationalrat; 1997–2004 Leiter der kulturpolitischen Institution „Depot Wien“; 1997–2000 Österreichischer Bundeskunstkurator; 1989–1999  diverse Lehrtätigkeiten an Universitäten. 1993 Gründung und Leitung der handelsorientierten Künstlergruppe „WochenKlausur“, die seither u. a. Sprachschulen im Kosovo, die medizinische Versorgung  der Obdachlosen in Wien, ein Altenzentrum in Italien oder eine Agentur für Upcycling in Chicago aufgebaut hat. Web: http://www.wolfgangzinggl.at, http://www.wochenklausur.at/

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