Eine im Alltag häufig zu vernehmende Aussage wie „Das sieht ja mega behindert aus!“ trägt i. d. R. das darin verwendete Eigenschaftswort als ein „dis“qualifi-zierendes Adjektiv. „Behindert“ wird als eine Art „coole“ Bezeichnung im gegenwärtigen jugendkulturellen Sprachgebrauch verwendet, jemanden oder etwas zu be- bzw. abzuwerten. Der eindeutig negative Impetus soll im Folgenden „reframed“, d. h. ins Positive gewendet werden, um am Beispiel eines Fotografen – mit Behinderung – mit seinen künstlerischen Arbeiten über Kinder – mit Behinderung – Impulse für einen inklusiven Kunstunterricht zu skizzieren, um sich nicht der mentalen Schwerkraft gegenüber nötigen schul-strukturellen Veränderungen zu ergeben. Im Übrigen -beziehen sich kunstpädagogische Beiträge selten bis gar nicht auf die seit 2009 in der Bundesrepublik Deutschland verbindliche UN-Konvention1 über die Rechte von Menschen mit Behinderungen und den daraus resultierenden Bedingungen für den Fachunterricht, als ob geradezu eine mystische Exklusivität inklusiv orientierter Impulse bestünde, der man sich nicht recht zu nähern weiß.
Es stellt sich die Frage, ob ein Perspektivwechsel in der kunstpädagogischen Fachdidaktik wirklich nötig ist bzw. warum er besonders, v. a. an Gymnasien, akzentuiert werden muss. Auch wenn Gymnasien tendenziell weniger mit integrativen Strukturen assoziiert werden, sind auch hier heterogene Szenarien gegeben: Es kann durchaus vorkommen, dass eine 6. Klasse im Fach Kunst in einer einzigen 45-Minuten-Einheit pro Woche zu unterrichten ist, damit vor dem Hintergrund des Mangelfaches überhaupt eine Vermittlung im bildnerisch–ästhetischen Bereich angeboten werden kann. Bei 34 Schülerinnen und Schülern konnte bislang auch ein Kind mit Autismus, ein Kind mit Hämophilie, der sog. Bluterkrankheit, und ein Kind mit der Diagnose Mukoviszidose vertreten sein. Parallel dazu stehen 31 weitere Kinder in der Lerngruppe unter der (kunst-)pädagogischen Leitidee einer individuellen -Förderung und Subjektorientierung bei gleichsamer Kompetenzorientierung gemäß der curricularen Vor-gaben durch die Kultusministerkonferenz; dabei sind Defizite in der räumlichen Ausstattung noch gar nicht bei den Lehr-Lern-Voraussetzungen berücksichtigt -worden.
Zum Diskussionsstand
Der Diskussionsstand in der Kunstdidaktik zur Inklusion geht eher von einer heilpädagogischen Ausrichtung für integrative Schulformen aus.2 Wenn die Perspektive von der Regelschule aus eingenommen wird, dann spielen insbesondere Aspekte von Diversität wie eine inter-/transkulturelle Kunstpädagogik eine Rolle3, obwohl ein offenes definitorisches Verständnis von Inklusion zur Überwindung defizitärer Kategorisierungen4 bzw. zur Überwindung von Diskriminationen aller Risikogruppen5 gemeint sein sollte. Eine dazu explizit veranstaltete Teileinheit des Bundeskongresses der Kunstpädagogik BuKo 126 in Nürnberg stand zwar unter der Prämisse einer Inklusionspädagogik, konzentrierte sich jedoch vornehmlich auf Unterschiede von Sprache, Milieu, Bildungsgrad, Alter, Migration etc. Ein Bezug zu Schülerinnen und Schülern mit Behinderungen wird dabei nicht genannt.
Lernangebote für alle Kinder
Zu klären ist, inwiefern die unterrichtliche Rahmung für das Fach Kunst beschaffen sein muss, damit nicht nur der vermeintlich „begabte“ Anteil profitiert, sondern im Sinne eines multiplen Intelligenzbegriffs nach Howard Gardner7 Kunstunterricht für alle Schülerinnen und Schüler motivierend bereitgestellt wird. Gerade die Hände und deren feinmotorische Schulung stehen in der bildnerisch-ästhetischen Bildung u. a. im Vordergrund. Die Schulung der Hand als das schaffende Erkenntnisinstrument kann bisweilen bei Schülerinnen und Schülern mit einer körperlichen Behinderung oder gar bei Fehlen eben jener Teilextremität das kunstdidaktische Planen und Durchführen von Unterricht vor eine Herausforderung stellen, wie man dem Spannungsfeld zwischen dem Einzelnen und dem Klassenverband gerecht werden kann. Es beginnt mit einer selbstverständlichen Umsetzung einer möglichst gegenseitigen Durchdringung von rezeptiven, produktiven und reflexiven Anteilen im Unterrichtsgeschehen, damit kompensatorische, aber auch sich gegenseitig stabilisierende Effekte ressourcenorientiert für das Lernpotenzial der einzelnen Schülerinnen und Schüler ausgelöst werden können.
Alternative Dokumentationsformen, auch als Grundlage für eine Leistungsbeurteilung, sind dann kein selbst erstelltes „Bild“, sondern vielleicht ein Portfolio, ein Lerntagebuch, eine Bildmap o. ä.. Hierfür benötigen allerdings Kunstpädagoginnen und -pädagogen Kenntnisse darüber, für welche Wege und mit welchen Mitteln sie facilitatorische Arrangements treffen können. Es geht hier um eine Durchdringung von fachdidaktischen und allgemeindidaktischen Ansätzen, um die bestmögliche Vielfalt im Sinne einer konsultativen Lernbegleitung zu gewährleisten. Allein aus dem Präfix der Kunst heraus lässt sich ein – inklusiver – Kunstunterricht heutzutage nicht mehr rechtfertigen, sodass ein „offener Bildbegriff“ Zugänge zur historisch gewachsenen Interdependenz von Bildern aus der Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler und der sog. Hochkultur einlösen muss.
Kognitive Verengung durch PISA
Die Erziehungswissenschaftlerin Dorit Bosse verweist auf die besondere Bedeutung des angelsächsischen Literacy-Konzepts im Rahmen der funktional-pragmatisch ausgerichteten internationalen Vergleichsstudien wie PISA. Sie benennt als Beispiel einer fachspezifischen Lese- und Schreibfähigkeit im Sinne des Gebrauchswertes von Bildung die Reading Literacy, Mathematical Literacy, Scientific Literacy und die Computer Literacy.8 Fähigkeiten wie ein empathisches Eintauchen in Stimmungen, sinnstiftende Momente der für Jugendliche bedeutsamen Identifikation würden hingegen vernachlässigt und -erhielten durch die Verknappung der Stundentafel zugunsten der sog. Kernfächer weniger Beachtung. „Ge-lungene Bildung bedeutet heute eine Kultivierung des Individuums, das sich in der Welt beheimatet fühlt und zugleich für Widersprüchliches, Brüchiges und das Nichtiden-tische empfänglich ist. […] Aesthetical Literacy ist ein menschliches Vermögen, das neben den anderen Literacy-Bereichen mit über die Zukunft entscheiden wird.“9
Dabei bietet sich die visuell gestaltete Sprache der -Bilder zu einem – nonverbalen – Dialog an, worauf der Kunstdidaktiker Ernst Wagner insbesondere für Sprachbarrieren von (Nicht-)Migrantinnen und Migranten -verweist.10 Verbale Sprachbarrieren als Facette einer -inklusiven Kunstpädagogik können jedoch ebenso bei Kindern im Allgemeinen auftreten, z. B. Sprach- und Sprechschwierigkeiten wie Stottern, nach traumatischen Ereignissen oder einer Kinderlähmung (Polio), bei Autismus, sensorischen oder körperlichen Entwicklungsverzögerungen.11
Fotografie als Ausdrucksmittel für – inklusiven – Kunstunterricht entdecken
Der Umgang mit Fotografie als ein „neues-altes Medium“ gilt lange noch nicht als selbstverständliches Ausdrucksmittel im Kunstunterricht, wozu ein außerschulisches Beispiel im Besonderen angeführt werden soll, wie man andere Vermittlungswege gehen könnte: Der Psychologe Matej Peljhan ist 1967 in Ljubljana/Slowenien geboren und arbeitet derzeitig in einer Einrichtung für Kinder mit Behinderungen sowie als Fotograf. Als er selbst ein Kind war, wurde ihm beim Spielen durch detonierte Bombenreste aus dem 2. Weltkrieg der rechte Unterarm abgerissen. Seitdem sieht er nur noch mit einem Auge. Ab 2009 erarbeitet sich der Autodidakt Fotografie als bildnerisch-ästhetisches Ausdrucksmittel und setzt sich als sog. „Outsider-Artist“ u. a. mit dem Bild vom Menschen in der Gesellschaft auseinander. In Anlehnung an Leonardo Da Vincis Darstellung vom perfekten, wohl geformten Körper stellt er seinen zur Diskussion bzw. reformuliert einen zeitgemäßen inklusiven Ansatz zum Menschenbild.12 Zuletzt erlangte der Fotograf internationale Aufmerksamkeit, indem er 2013 eine Fotoserie mit einem 12jährigen Jungen aufgenommen hat, der an Muskelschwund leidet. Luka kann viele alltägliche Tätigkeiten, wie es für Gleichaltrige gewönlich ist, nicht ausführen. Aus diesem Grunde hat Matej Peljhan mit einer Art „Trompe-l’œil“-Effekt den Jungen in Bewegung versetzt. Die Reihe heißt „Le Petit Prince“ wie der gleichnamige Roman von Antoine de Saint-Exupéry. Der physisch stark eingeschränkte Junge wird dabei auf einer zweidimensionalen Fläche als Hintergrund so inszeniert, als ob er seine gewünschten Tätigkeiten wie Skateboarden, Schnorcheln oder Breakdancen täuschend echt erleben würde.13
„Man kann und sollte über Handicaps reden, ohne dabei jedes Mal pathetisch zu werden. Meine Fotos sollen auf keinen Fall Mitleid erregen“ (Peljhan, im Interview mit Krüger 2013). Aus diesem Grunde nobilitiert er sein Anliegen u. a. durch die crossmediale Bezugnahme auf die sog. Hochkultur der Bildenden Kunst, indem er eine in der Kunstgeschichte übliche Strategie des -„Tableau Vivants“ wählt, bei der er Menschen mit Behinderungen in kunsthistorischen Vorbildern neu inszeniert.14 Diese Vorgehensweise des Zitierens ist eine bildnerische Strategie, die auch im inklusiven Unterricht umgesetzt werden kann.15
Fotografie als Gestaltungs- und Ausdrucksmittel für Kinder und Jugendliche mit Förderbedarf in pädagogischen oder therapeutischen Kontexten einzusetzen, hat Matej Peljhan dazu veranlasst, mit einem Kollegen das „Institut für Fotografie-Therapie“ in seinem Heimatort zu gründen. Auf YouTube zeigt er z. B., wie über eine Sprachsteuerung eine Digitalkamera Befehle von Jugendlichen mit körperlichen Einschränkungen erhalten kann. Luka hat in der Zwischenzeit seine ästhetische Ausdrucksfähigkeit erweitert und zusammen mit den slowenischen Hip-Hop-Vertretern Datura, Wudisban und V.I.B.E. einen Rap aufgenommen, über den auf YouTube, Facebook und MTV-Slowenien berichtet wurde.16
Eine verbindlich gesetzte Fortbildungskultur in allen Bundesländern wäre ein denkbarer Anstoß, tradierte Strukturen für das Fach Kunst – inklusiv – neu zu -denken.
1.) Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS), Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen. Bonn 2011.
2.) Vgl. u. a. Georg Theunissen, Michael Schubert, Starke Kunst von Autisten und Savants. Über außergewöhnliche Bildwerke, Kunsttherapie und Kunstunterricht. Freiburg im Breisgau 2010, S. 141.
3.) Vgl. u. a. Ernst Wagner, Auf dem Weg zu einer interkulturellen Kunstpädagogik, Didaktisches Forum, Schroedel Kunstportal, 2009; www.schroedel.de/kunstportal/didaktik_archiv/2009-09-wagner.pdf [22.07.2013]; Barbara Lutz-Sterzenbach, Ansgar Schnurr, Ernst Wagner (Hg.), Bildwelten remixed. Transkultur, Globalität, Diversity in kunstpädagogischen Feldern. Bielefeld 2013, S. 11–23.
4.) Peter Tiedeken, „Kunst und Inklusion – Aktive Mitgestaltung statt passiver Teilhabe“, Zeitschrift für Inklusion, 1–2, 2012.
5.) Rolf Werning und Jessica Löser, „Inklusion“, in: Rolf Balgo, Winfried Palmowski und Martin Sassenroth (Hg.), Sonderpädagogik. Lernen, Verhalten, Sprache, Bewegung und Wahrnehmung, München 2012, S. 297.
6.) BuKo12 – Bundeskongress der Kunstpädagogik 2010–2012. Nürnberg-Paper: Interkultur – Globalität – Diversity: Leitlinien und Handlungsempfehlungen zur Kunstpädagogik/Kunstvermittlung remixed, www.buko12.de/wp-content/uploads/2012/08/Part08_Nuernberg-Paper.pdf [22.07.2013]
7.) Howard Gardner, „Neue Bestandteile in der Kunstpädagogik“, in: Rolf Niehoff, Rainer Wenrich (Hg.), Denken und Lernen mit Bildern. Interdisziplinäre Zugänge zur Ästhetischen Bildung, München 2007, S. 31ff.
8.) Dorit Bosse, „Zur Bedeutung des Ästhetischen für den Bildungsprozess“, in: Dies. (Hg.), Gymnasiale Bildung zwischen Kompetenzorientierung und Kulturarbeit, Wiesbaden 2009, S. 233–240; Elmar Anhalt, „Was bedeutet gymnasiale Bildung heute?“, in: Susanne Lin-Klitzing, David di Fuccia, Gerhard Müller-Frerich (Hg.), Aspekte gymnasialer Bildung. Beiträge zu gymnasialer Bildungstheorie, Unterrichts- und Schulentwicklung, Bad Heilbrunn 2012, S. 43.
9.) Bosse 2009, S. 240, Hervorhebung im Original.
10.) Wagner 2009, S. 1.
11.) Werner Leitner, Alexandra Ortner und Reinhold Ortner, Handbuch Verhaltens- und Lernschwierigkeiten. Weinheim/Basel 2008, S. 346ff.
12.) Vgl. Abb. 1: Matej Peljhan, About Perfection (Selbstporträt), aus der Serie „Metamorphis“, o. A., online verfügbar auf whtsnxt.net, via QR-Code.
13.) Vgl. Abb. 2: Matej Peljhan, Luka beim Skateboarden, aus der Serie „Le Petit Prince“, 2013, und Abb. 3: Matej Peljhan, Luka beim Basketball Spielen, aus der Serie „Le Petit Prince“, 2013; online verfügbar auf whtsnxt.net, via QR-Code.
14.) Vgl. Abb. 4: Matej Peljhan, Tableau Vivant, aus der Serie „Metamorphosis“, o. A.; online verfügbar auf whtsnxt.net, via QR-Code.
15.) Siehe hierzu auch das Projekt „August Sander – Sich zur Schau stellen“ der Anna-Freud-Schule in Zusammenarbeit mit der SK Stiftung Kultur in Köln als Gewinner des Bildungspreises 2013 der Deutschen Gesellschaft für Photographie (DGPh). Die Kölner Schule ist die einzige weiterführende Förderschule für Körperbehinderte in NRW, die einen Abschluss nach den Richtlinien der gymnasialen Oberstufe anbietet (www.dgph.de/presse_news/pressemitteilungen/die-gewinner-des-dgph-bildungspreises-2013-stehen-fest, 22.07.2013); siehe auch Anna-Maria Loffredo, „Mach Dir ein Bild von einem Bild – fotografische Nachbilder kunsthistorischer Vorbilder“, BDK-Mitteilungen 3, 2009, S. 18–20.
16.) www.youtube.com/watch?v=Bq0TE8uF3Ks [22.07.2013]
[Dieser Text findet sich im Reader Nr. 2 auf S. 184.]