Passt in jede Hosentasche und produziert die maximale Utopie: Das Seelen-Katapult ist eine Souveränitäts-Maschine, die unsere Gesellschaft neu definiert, bevor sie verloren geht. Gleichzeitig ist es ein weltveränderndes High-Tech Produkt, beendet den Untergang des Kapitalismus und bringt das lang ersehnte Wachstum 3.0 an den Start. Auf dem Weg dorthin muss man ein halbes Essay durch die Hölle der Gegenwart wandern, um sich dann genau so lange im Paradies der Zukunft sonnen zu können.
Dystopie
Fakt ist: Der vernunftbegabte Verstand als intellektuelle Grundlage des aufgeklärt-emanzipierten Individuums, verbunden mit der anteilnehmend-sozialen Empathie humanistischer Herzensbildung, wird durch die hegemoniale, neoliberale und kommerzielle Zwecksetzung der Lebenswelten der Gegenwart konsequent zergliedert und in kleinstmöglichen bis ins Schizophrene gesteigerten mentalen Effizienzeinheiten mit jeweils größtmöglichem Gewinn verkauft. Ein digital-mediales Dauerfeuer von wechselweise belastenden und entlastenden Inhalten, von Dos and Don’ts, A-B-C-D-E-Prominenten, Diät-, Sex- und Sportergebnissen liefert den Beat dazu. Symbol und Symptom dieses Zustands ist der so opportunistisch-rationale wie chronisch-überforderte und pathologisch-gefühlsgestörte Burn-out-Bürger in der erbarmungslos ratternden Mühle des demographischen Wandels. Wobei ein und derselbe sowohl als surfender Silver Ager wie auch als alkoholisierter Sozialfall in Erscheinung tritt. Je nachdem auf Trab gehalten vom Wellness-Trip der neuesten Medikamente oder vom fürsorglich-fordernden Monstrum einer allgemeinen Schicksalsverwaltung, die das künstlich verknappte Universalmedium Geld an all jene verteilt, die zum Konstrukt der volkswirtschaftlichen Wertschöpfung keinen kalkulierbaren Beitrag mehr leisten.
Den professionellen Kommentatoren bleibt in dieser Situation nur sorgenfrei-sorgenvoll ihr Handwerk zu pflegen und sich entweder auf Affirmation, Eklektizismus, Ironie oder die neue-alte, calvinistisch-nüchterne und technokratisch-informierte Ernsthaftigkeit zu spezialisieren. Das Wehklagen führt dabei eine traurig-bequeme und sich ständig mit dem eigenen Populismus verkrachende Existenz der nicht eingelösten Alternativen. Malte man dieses Sittengemälde, dann ähnelte die westliche Gegenwart den Gemälden von Brueghel: Einem Kampf zwischen Karneval und Fasten, zwischen (noch) Schlaraffenland und dem bereits absehbaren Triumph des Todes. Denn der weitere Verfall ist offensichtlich. Wir sind auf einem Irrweg, der anscheinend erst bis zum bitteren Ende gegangen werden muss, um als solcher erkannt und überwunden zu werden. Wobei schon heute in apokalyptischen TV-Formaten das Fegefeuer geprobt wird: Ein sonnenbebrillter Vulgär-Vitalismus, in dessen Ring der jeweils formbarste Charakter gewinnt, um bereits während der Preisverleihung angezählt, weggeräumt und der medialen Reste-Verwertung zugeführt zu werden.
Die entscheidende Frage heißt darum: Wie viel Geduld wollen wir damit noch haben? Wie viel Lebenswelt, Zeit und Zukunft lassen wir das überforderte System 1.0 noch vernichten? Wie lange gestatten wir seiner deformierten Casino-Clique weiter, die Werte 2.0 zu enteignen und die civitas maxima einer Gesellschaft 3.0 zu verspielen?
Es ist klar: Ohne klug organisierte Sterbehilfe wird sich diese beschämend ratlose conditio humana, die jede Souveränität und Würde im Furor der mit Nullsummen ins Leere gespiegelten Egos verloren hat, noch jahrzehntelang dahinschleppen und als infektiöse Ideologie mit immer neuen Casting-Shows versuchen, weitere Generationen, Erdteile und Kulturen anzustecken. Das haben diese aber ganz sicher nicht verdient. Und nicht selten scheint es so, als wären auch die Protagonisten froh, wenn endlich mal die Ablösung kommt, um sie aus dem quälenden Endlosjingle ihres sinnlos gewordenen Mantras zu befreien. Soweit und drastisch die Gegenwart als Dystopie.
Doch Kultur-Pessimismus war gestern: Keine Aufklärung ohne Inquisition, keine Revolution ohne Passion. Die Utopie kommt dialektisch auf die Welt: als Innovationssprung.
Utopie
Dieser elementare Innovationssprung ist nur noch wenige Jahre entfernt: Das Seelen-Katapult wird den Kern einer neuen Gesellschaft formen. Als digital device bildet es die Potenz aus Alphabetisierung, Buchdruck, Computer, Mobiltelefon und World Wide Web, indem es deren Qualitäten und Infrastrukturen vereint und verbunden mit seiner originären Funktion auf ein neues und globales Level führt. Das Seelen-Katapult verändert unser Bewusstsein und bildet den Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit des postmodernen Individuums. Es ist ein Medium, das unsere Wahrnehmung mit den weiterentwickelten Technologien der Elektroenzephalografie (EEG) revolutionieren wird: Es führt Interaktivität auf eine neue Stufe und macht jeden potentiell zum Sender, der bisher nur Empfänger war. Es befreit uns aus der Informationsflut der Gegenwart, die zugleich Ursache und Lösung der Krise des Systems ist, weil sie die bestehenden ökonomischen, kulturellen, sozialen und politischen Institutionen und Praktiken zerbersten lässt: Aktuell generieren die digitalen Prozessoren und Systeme eine Eigenlogik, die unser individuelles und gesellschaftliches Leben immer weiter verformt und entfremdet. Der Grund dafür ist, dass uns die Interfaces zum Anschluss der Prozessoren an den menschlichen Bewusstseinsstrom fehlen. Denn medientheoretisch gesehen meißeln wir im fahlen Licht der Bildschirme mit Fingern und Tastaturen immer noch Zeichen in Stein, während die Rechner parallel und in der wireless cloud vernetzt, ganze Lebenszyklen und Identitätseinheiten in Form von Daten, Apps, Programmen miteinander tauschen. Wir kennen nicht einmal einen Bruchteil davon, da wir sprichwörtlich nur die Schatten an der Wand der Höhle sehen. Erst das Seelen-Katapult wird das grundlegend ändern, indem es Informationen und Emotionen von überkommenen Trägermedien und Eingabeinstrumenten befreit und uns in Weiterentwicklung der Transkraniellen Magnetstimulation (TMS) per Neurostream und Bioport direkt an die biologischen und digitalen Datenströme und -strukturen koppelt. Dabei werden seine Baupläne Open-Source zur Verfügung stehen, die Hardware dezentral im Internet der Dinge produziert und die Software interkulturell und plattformübergreifend von hochspezialisierten Nerds genauso wie von pubertierenden Highschool-Students entwickelt. Für Seelen-Katapulte wird es so viele Hersteller und Händler geben, wie es heute Verlage und Buchläden gibt.
Darum darf die Utopie so euphorisch formuliert werden, wie die Dystopie polemisch ist. Sie lautet: Sobald die ersten Seelen-Katapulte funktionieren, beginnt eine Kulturrevolution, deren überbordende Erkenntniskraft eine Renaissance der menschlichen Kultur und Gesellschaft einläuten wird. Über den Kapitalismus zu Beginn des 21. Jahrhunderts und seine Krisen im Sandkasten des Bewusstseins werden wir dann ebenso heiter sprechen, wie über unsere heutige Angst, es neu lesen zu lernen. Auch das Seelen-Katapult wird dann sicherlich ganz anders heißen, doch seinem Namen gerecht: Es holt unsere entkoppelten Seelen da ab, wo sie zur Zeit noch gefangen sind und katapultiert sie in eine helle Zukunft, die man sofort erfinden müsste, wäre sie nicht fast schon da.
Wiederabdruck
Dieser Text erschien am 20. April 2013 in der taz.lab, einer Beilage der taz.
[Dieser Text findet sich im Reader Nr. 1 auf S. 422.]