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Die Moskauer Prozesse – Schlussplädoyers

Milo Rau, Ekaterina Degot, Maxim Shevchenko / 2013

Die Moskauer Prozesse von Milo Rau und dem IIPM (International Institute of Political Murder) fanden vom 1.-3. März 2013 im Sacharow-Zentrum in Moskau statt. Das Projekt zeichnet die Geschichte einer staatlich und kirchlich inszenierten Kampagne gegen unbequeme Künstler nach – mit den Mitteln des politischen Theaters.
Im selben Ausstellungsraum, in welchem die im Jahr 2003 zerstörte Ausstellung „Vorsicht, Religion“ stattfand, wurde ein Gerichtssaal aufgebaut. In einem inszenierten Schauprozess mit den wichtigsten Exponenten des russischen Kulturkampfs tritt „die Kunst“ gegen „die Religion“ an, das „dissidente“ gegen das „wahre“ Russland.
Verhandelt wurden bereits verurteile Ausstellungen „Achtung Religion“ (2003) und „Verbotene Kunst“ (2007) sowie der Fall „Pussy Riot“. Auf der Bühne standen aber keine Schauspieler, sondern Akteure aus dem realen, politischen Leben: professionelle Anwälte, ein Verfassungsrichter, Zeugen und Experten aller politischen Couleurs. Katja Samuzewitsch, verhaftetes und wieder freigelassenes Mitglied von Pussy Riot trat selbst als Angeklagte auf.
Im Stil eines Gerichtsdramas mit offenem Ausgang, in Kreuzverhören, Plädoyers und den Auseinandersetzungen am Rand des Prozesses entstand so ein verstörendes und widersprüchliches Bild des heutigen Russland: Verletzt Putins Kulturpolitik die Meinungsfreiheit und die Menschenrechte? Oder ist es doch die Kunst, die die Gefühle der Gläubigen verletzt? Wer ist Angreifer, wer Verteidiger?

Schlussplädoyer der Anklage (Ausschnitt)
Maxim Shevchenko / 2013

[…] Diese Künstler stellen avantgardistische Freiräume im politischen System Russlands dar. Diese Künstler verwirklichen, absichtlich oder nicht, nach ihrer gesunden Entscheidung oder ihrer Leichtsinnigkeit, eine Invasion in das Territorium traditioneller Werte von Völkern unseres Landes – der Orthodoxie, dem Islam, dem Judentum und der nicht-monotheistischen Religionen – dem Buddhismus und dem Glauben der Völker des Nordens. Sie zwingen die Gläubigen dazu, nicht einen Weg zu gehen, den wir selbst mit unserem blutigen 20. Jahrhundert wählen würden, sondern einen, den SIE uns zwingen zu gehen – durch Tritte, Stoße und Schläge auf unsere Völker.
[…] Vor kurzem wurde in Frankreich ein neues Gesetz verabschiedet, das das Konzept von Vater und Mutter, Mann und Frau aufhebt – für Verheiratete werden die Bezeichnungen „Partner A“ und „Partner B“ eingeführt und es erlaubt homosexuellen Paaren, Kinder zu adoptieren. Das ist ein Gesetz, das die Natur des Menschen an der Wurzel verändert. So stellt „die sogenannte Kunst“ eine politische Aggression dar, die darauf ausgerichtet ist, dass Menschen aufhören zu sein, für die ihre ethnischen und regionalen Ursprünge, ihre religiösen Ansichten ihrem Nährboden und ihrem Glauben entzogen werden, dem, was für sie selbstverständlich und heilig ist, dem, was sie zu freien und unabhängigen Menschen macht.
Ich klage die zeitgenössische Kunst an, dass sie sich an der Zerstörung der Freiheit in unserer Gesellschaft beteiligt. Sie ist beteiligt am Import der totalitär liberalen Gesellschaft in die russische Föderation, in der der Mensch kein Recht auf Religion hat. Es geht hier nicht um abstrakte Menschen, um abstrakte Räume oder um abstrakte politische Situationen. Heute ist der Kampf gegen diese Art des Denkens und Handelns – es ist ein Kampf für den Menschen in all seiner Komplexität. Wir glauben, bzw. ich persönlich glaube, dass der Mensch sich nicht aus einer Amöbe entwickelt hat, nicht aus Ciliaten entstanden ist, um ein modernes Wesen zu werden – andernfalls gibt es für ihn keine Vorstellung von Sünde. Sie versuchen, die Sünde zu institutionalisieren, ihr Menschenbild ist das eines sozialen Wesens, das das Ergebnis einiger sozialer Vereinbarungen darstellt. […]
Ich bitte die Geschworenen daran zu denken, dass Sie keine abstrakten Handlungen abstrakter Menschen beurteilen, sondern eine Bedrohung bezüglich unseres Landes; mit Ihrem Urteil geben Sie der Zukunft unseres Landes Kontur. Werden wir denn freie Völker bleiben, die ihr Schicksal gestalten werden – oder müssen wir nach IHREN Gesetzen leben, oder wird es auch bei uns in Russland keine Männer und Frauen geben, sondern „Partner A“ und „Partner B“; denken Sie daran, dass Sie genau hierüber das Urteil fällen werden.

Schlussplädoyer der Verteidigung (Ausschnitt)
Ekaterina Degot / 2013

Meine Herren Geschworenen! Die Anklage verwendete häufig nicht-rechtliche Begriffe, sondern moralische oder sakrale – sie wurden ausgewählt, um Ihnen zu zeigen, dass etwas Absolutes existiert, um Ihnen Angst zu machen; das Strafgesetzbuch spricht jedoch nicht davon. Sie werden gebeten zu entscheiden, ob die Künstler den Vorsatz gehabt haben, die Schwachen und Rechtlosen zu beleidigen, die der Staat, durch Sie repräsentiert, schützen soll. Sie müssen „Nein“ sagen, und nicht nur deshalb, weil es eine solche Absicht nicht gab, sondern auch, weil es sich um eine falsche Fragestellung handelt. Sie müssen sich fragen, ob es eine tatsächliche „Beleidigung der Gefühle“ gab: „Gefühle“ sind eine nicht-rechtliche Kategorie, unbeweisbar und ziemlich gefährlich.
[…] Warum stellt der Glaube an Gott ein privilegiertes Recht dar? Wenn tatsächlich einfache Gläubige verletzt wurden, wem ist es dann zum Vorteil, dass sie einfache und unmündige, ungebildete Menschen bleiben, unfähig zu einer zivilisierten Äußerung ihrer Meinung, der Niederlage einer Ausstellung, der gewalttätige Besprengung mit Weihwasser und einem Kampf. Hier wurde von den Staatsanwälten häufig gesagt „die sogenannte zeitgenössische Kunst“; so sage ich endlich „die sogenannte Kirche“ – sie versucht uns zu überzeugen, dass es einen Bereich gibt, in dem die Äußerung seiner Meinung unmöglich ist, als ob die gesamte russisch-orthodoxe Kirche ein riesiger Altar wäre, zu dem einfache Menschen, insbesondere Frauen keinen Zugang haben.
Es ist falsch, dass zwischen Kunst und Kirche unüberwindbare Widersprüche bestehen: Gläubige, die die Verteidigung vertreten, sagten, dass der Auftritt von Pussy Riot eine göttliche Handlung war, ein Ereignis der Vorsehung, das die Gläubigen auf das vorherbestimmte Ziel lenken soll – die Befreiung.
Ich als Kunstkritikerin kann erklären, welche Kunst wir als gut erachten. Zeugen vonseiten der Anklage sprachen über ihre Reaktion zu dem Werk als „Ich bin schockiert.“, „Ich bin erschüttert.“; ich bitte Sie, sich darum Gedanken zu machen, was Kunst ist, die Menschen erschüttert – das ist erschütternde Kunst, die die Welt verändert. Dabei kann sie berühren, aber sie verursacht ein Ereignis, von dem es keinen Weg mehr zurück gibt – und die Aktion von Pussy Riot ist ein solches. Als gut erachten wir sicherlich nicht die Kunst, die süß wie ein Bonbon ist und niemals verletzt. Kunst muss verletzten – aber nicht die einfachen Menschen, sondern die Tyrannen, die Ungerechtigkeit, das Übel und die Heuchelei. Und heute nehmen weder das Kino, noch die Musik, noch genau die zeitgenössische Kunst das an sich, was den Ehrenkodex der russischen Literatur des 19. Jahrhunderts ausmachte. Die Teilnehmer von „Vorsicht, Religion“ gingen leichtsinnig an die Ausstellung heran, gaben ihre Arbeiten ohne nachzudenken ab – aber das war keine kriminelle Geste. Die Aktion von Pussy Riot ist eine verantwortungsvolle Handlung, für die die Verantwortlichen bereit sind, ins Gefängnis zu gehen.
Ich habe den Eindruck, dass Sie glauben, Kunst sei mächtig und zu allem möglichen fähig. Das ist nicht wahr. Kunst kann nur sehr wenig bewirken. Sie kann Ihre Aufmerksamkeit auf bestimmte Dinge lenken, kann zeigen, wo der Schmerz herkommt, aber sie kann den Kurs des Landes nicht ändern. Nun liegt es in Ihren Händen, Sie können verhindern, dass unser Land zu einem Gottesstaat wird. […] Deshalb rufe ich dazu auf, die Kunst und die Künstler vollständig freizusprechen.

Nach drei Tagen fällte ein nach dem Zufallsprinzip ausgewähltes Schöffengericht aus 7 Moskauer Bürgerinnen und Bürgern ihr Urteil. Sie mussten zwei Fragen beantworten:
1. Haben die Angeklagten Taten begangen, die die Würde von Gläubigen verletzt und Hass gegen Gläubige geschürt haben. Frage 2. Wenn ja, hatten die Angeklagten den Vorsatz, Hass gegen Gläubige zu  schüren oder ihre Gefühle zu verletzen. Wenn Sie eine dieser Fragen verneinen, bedeutet das die Unschuld der Angeklagten, weil der Straftatbestand Vorsatz voraussetzt.
Nach einstündiger Beratung teilte die Jury mit, dass bei der ersten Frage drei der Schöffen den Tatvorwurf der Beleidigung von Gläubigen zurückgewiesen hätten, drei ihn bejaht hätten und einer sich enthalten habe. Bei der zweiten Frage, also der nach dem Vorsatz, sei die Jury mit einer Mehrheit von 5 zu 1 bei einer Enthaltung zu der Meinung gelangt, dass es einen solchen Vorsatz zur Beleidigung von Gläubigen nicht gegeben habe.

Ausschnitte aus „Moskauer Prozesse“, 1.-3. März 2013, Sakharov Centre Moskau
Übersetzung: Darja Shatalova

[Dieser Text findet sich im Reader Nr. 1 auf S. 403.]

http://www.the-moscow-trials.com/
http://international-institute.de/wp-content/uploads/2013/01/130107_PI_Moskauer-Prozesse[1].pdf
http://www.tagesspiegel.de/kultur/pussy-riot-stoerung-des-prozesstheaterstuecks-in-moskau/7867822.html
http://international-institute.de
http://www.althussers-haende.org
http://www.youtube.com/user/iipmBerlin

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Milo Rau

(*1977, Bern), arbeitet als Autor, Regisseur und sozialer Plastiker. Er studierte Soziologie, Germanistik und Romanistik in Zürich, Berlin und Paris u. a. bei  Pierre Bourdieu und Tzvetan Todorov. Den internationalen Durchbruch brachte das Theater- und Filmprojekt Die letzten Tage der Ceausescus (2009). Hate Radio (2012) wurde zum Berliner Theatertreffen und zum Festival d’Avignon eingeladen. Es folgten Breiviks Statement (2012), Die Moskauer Prozesse (2012/13) und aktuell Die Zürcher Prozesse. Seit Januar 2008 leitet Milo Rau das IIPM (Institut für theoretische und künstlerische Reenactments). Web: http://international-institute.de, http://www.althussers-haende.org/

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Ekaterina Degot

(*1958) ist Kunsthistorikerin, Autorin und Kuratorin. Ihre Arbeit konzentriert sich auf ästhetische und soziopolitische Themen in Russland, vorwiegend in der Post-sowjetischen Ära. Sie lehrt an der Moskauer Rodtschenko-Schule für Fotografie und Multimedia  und der Staatlichen Universität in Moskau. Seit 2008 ist sie Redakteurin/Herausgeberin von OpenSpace.ru, einem unabhängigen russischen Online-Magazin zu Kunstnachrichten, Kunstkritik und Kulturanalyse. Aktuell ist sie Mitherausgeberin von Post-Post-Soviet?: Art, Politics and Society in Russia at the Turn of the Decade (mit Marta Dziewanska, et al.), 2013, und leitet zusammen mit David Riff die erste „Bergen Assembly“ in Bergen, 2013. Degot lebt und arbeitet in Moskau.

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Maxim Shevchenko

(*1966) ist ein russischer Fernseh- und Radiojournalist, Publizist, Politologe und Experte in ethno-kulturellen Fragen und Strategien sowie in Religionspolitik.

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