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Warum ist es wichtig – heute – Bilder zerstörter Menschenkörper zu zeigen und anzuschauen?

Thomas Hirschhorn / 2012

Ich werde in acht Punkten zu erklären versuchen, warum es wichtig ist – heute – Bilder zerstörter Menschenkörper anzuschauen, wie solche, die ich verwendet und in verschiedene Arbeiten wie „Superficial Engagement“ (2006), „Concretion“ (2006), „The Incommensurable Banner“ (2007), „Ur-Collage“ (2008), „Das Auge“ (2008), „Crystal of Resistance“ (2011), „Touching Reality“ (2012) und „Collage-Truth“ (2012) integriert habe.

1. Herkunft
Die Bilder zerstörter Menschenkörper sind von Nicht-Fotografen gemacht worden. Die meisten wurden von Zeugen, Passanten, Soldaten, Sicherheitsoffizieren, Polizeibeamten, Rettungsdienst- und Erste-Hilfe-Kräften aufgenommen. Die Herkunft der Bilder bleibt ungeklärt und ist oft nicht verifizierbar, es fehlt die Quellenangabe, was auch immer eine „Quelle“ nach unserem Verständnis ist. Diese ungeklärte Herkunft und diese Nichtverifizierbarkeit spiegeln die heutige Unklarheit wider. Das ist, was mich interessiert. Oftmals ist die Herkunft nicht garantiert – aber was kann in unserer heutigen Welt überhaupt eine Garantie beanspruchen, und wie kann „unter Garantie“ noch einen Sinn abgeben? Diese Bilder werden im Internet zum Herunterladen zur Verfügung gestellt, sie haben den Status eines Zeugnisses und sind von ihren Urhebern aus vielen verschiedenen Gründen ins Netz gestellt worden. Darüber hinaus wird die Herkunft dieser Bilder nicht angegeben und manchmal ist sie unklar – mit einer undeutlichen, vielleicht sogar manipulierten oder gestohlenen Adresse, wie dies häufig für Vieles gilt, was heute im Netz und in sozialen Netzwerken zu finden ist. Wir werden jeden Tag damit konfrontiert. Die unbestimmte Herkunft stellt einen der Gründe dar, warum es wichtig ist – heute – solche Bilder anzusehen und zu zeigen.

2. Redundanz
Die Bilder zerstörter Menschenkörper sind in ihrer Redundanz wichtig. Was redundant ist, ist genau dies, dass heute eine solch unermessliche Menge von Bildern zerstörter Menschenkörper existiert. Redundant ist hier nicht die Wiederholung desselben, weil es immer ein anderer Menschenkörper ist, der zerstört wurde und als solcher redundant erscheint. Es geht nicht um Bilder, sondern um Menschenkörper, um den Menschen, von dem das Bild ein Zeugnis darstellt. Die Bilder sind redundant, weil es redundant an sich ist, dass Menschen zerstört werden. Redundanz – an sich – ist hier wichtig. Ich will dies als etwas Entscheidendes verstehen und ich will diese Redundanz als eine Form ansehen. Wir wollen die Redundanz solcher Bilder nicht akzeptieren, weil wir die Redundanz von Grausamkeit dem Menschen gegenüber nicht akzeptieren wollen. Dies ist der Grund, warum es wichtig ist, sich die Bilder zerstörter Menschenkörper – heute – in ihrer Redundanz zu zeigen und anzuschauen.

3. Unsichtbarkeit
In den Zeitungen, Illustrierten und Fernsehnachrichten sehen wir heute kaum Bilder zerstörter Menschenkörper, da sie sehr selten gezeigt werden. Diese Bilder sind nicht sichtbar und unsichtbar. Die Annahme ist, dass sie die Sensibilität des Betrachters verletzen oder bloß den Voyeurismus befriedigen, und der Vorwand besteht darin, uns vor dieser Gefahr zu schützen. Aber diese Unsichtbarkeit ist nicht harmlos. Die Unsichtbarkeit bildet die Strategie, die Kriegsanstrengung zu unterstützen, oder sie zumindest nicht zu beeinträchtigen. Es geht darum, den Krieg akzeptabel und seine Auswirkungen ermessbar zu machen, wie dies z. B. vom ehemaligen US-amerikanischen Verteidigungsminister (von 2001–2006) Donald Rumsfeld formuliert wurde: „Der Tod hat die Tendenz, einer deprimierenden Ansicht des Kriegs Vorschub zu leisten.“ Aber gibt es wirklich eine andere Ansicht des Kriegs als eine deprimierende? Bilder zerstörter Menschenkörper anzusehen und sie zu zeigen, ist eine Möglichkeit, sich gegen Krieg sowie gegen seine Rechtfertigung und Propaganda zu engagieren. Seit dem 11. September 2001 ist dieses Phänomen der Unsichtbarkeit verstärkt worden. Diese Unsichtbarkeit, nicht als ein gegebenes Faktum oder als eine „Schutzmaßnahme“ zu akzeptieren, ist ein Grund, warum es wichtig ist – heute – solche Bilder anzusehen.

4. Die Tendenz zur Ikonisierung
Die Tendenz zur Ikonisierung existiert noch heute. Ikonisierung ist die Gewohnheit, das Bild, das „hervorsticht“, das „das Wichtige“ ist, das „mehr sagt“, das „mehr zählt, als die anderen“, „auszuwählen“ bzw. zu „finden“. Mit anderen Worten: Die Tendenz zur Ikonisierung ist die Tendenz, ein Schlaglicht auf etwas zu werfen. Es ist das alte klassische Verfahren, eine Hierarchie zu begünstigen und sie auf autoritäre Weise aufzuoktroyieren. Dies ist keine Wichtigkeitserklärung gegenüber etwas oder einem Einzelnen, sondern eine Wichtigkeitserklärung gegenüber Anderen. Das Ziel ist, eine scheinbar gemeinsame Wichtigkeit, ein gemeinsames Gewicht, ein gemeinsames Maß zu etablieren. Aber die Tendenz zur Ikonisierung und zum „Ein-Schlaglicht-auf-etwas-werfen“, hat den Effekt, die Existenz von Unterschieden, des Nicht-Ikonischen, des Redundanten und des Nicht-Hervorstechenden zu verneinen. Im Bereich von Bildern des Kriegs und des Konflikts führt dies dazu, dasjenige Bild, das für andere „akzeptierbar“ ist, auszuwählen. Es ist das „akzeptable“ Bild, das für ein anderes Bild, für alle anderen Bilder, für etwas Anderes und sogar für das „Nicht-Bild“ steht. Dieses Bild bzw. diese Ikone muss selbstverständlich das Richtige, das Gute, das Gerechte, das Erlaubte, das Ausgewählte – das konsensstiftende Bild sein. Dies macht die Manipulation aus. Ein Beispiel ist das (auch von Kunsthistorikern) vieldiskutierte Bild des „Situation-Room“ in Washington während der Eliminierung von Bin Laden durch die „Navy SEALs“ im Jahr 2011. Ich lehne es ab, dieses Bild als eine Ikone zu akzeptieren, ich lehne seine Ikonisierung ab, und ich lehne die Tatsache ab, dass dieses Bild – wie alle anderen „Ikonen“ – für etwas Anderes als für sich selbst steht. Die Tendenz zur Ikonisierung zu bekämpfen, ist der Grund, warum es wichtig ist – heute –Bilder zerstörter Körper zu zeigen und anzuschauen.

5. Die Reduktion auf Tatsachen
In der heutigen Welt der Tatsachen, der Information, der Meinung und der Kommentare wird vieles darauf reduziert, faktisch zu sein. Das Faktum ist das neue „goldene Kalb“ des Journalismus, und die Journalistin oder der Journalist will ihm die Zusicherung und Garantie von Wahrheitstreue geben. Aber mich interessiert die Verifizierung einer Tatsache nicht. Mich interessiert die Wahrheit als solche. Die Wahrheit, die keine verifizierte Tatsache oder „korrekte Information“ einer journalistischen Geschichte ist. Die Wahrheit, die mich interessiert, leistet Widerstand gegen Tatsachen, Meinungen, Kommentare und gegen den Journalismus. Die Wahrheit lässt sich nicht reduzieren. Deshalb sind die Bilder zerstörter Menschenkörper irreduzibel und widerstehen der Tatsächlichkeit. Ich leugne Tatsachen und die Tatsächlichkeit keineswegs, aber ich will der Textur heutiger Tatsachen widerstehen. Die Gewohnheit, die Ereignisse auf Tatsachen zu reduzieren, stellt einen bequemen Weg dar, die Wahrheit zu vermeiden. Dieser Neigung zu widerstehen, entspricht der Dynamik – die dazu führt – die Wahrheit zu berühren. Bedingungslose Akzeptanz der Tatsachen will uns die faktische Information als „das Maß“ aufoktroyieren, statt dass wir mit unseren eigenen Augen hinschauen und sehen. Ich will mit meinen eigenen Augen sehen. Der Widerstand gegen die heutige Tatsachenwelt macht es notwendig, Bilder zerstörter Körper zu zeigen und anzuschauen.

6. Opfer-Syndrom
Sich die Bilder zerstörter Menschenkörper anzuschauen, ist wichtig, weil es zu meinem Verständnis beitragen kann, dass die unermessliche Tat nicht die des Anschauens ist. Was unermesslich oder inkommensurabel ist, ist die Zerstörung, die stattgefunden hat – dass ein Mensch, ein Menschenkörper zerstört wurde, ja, dass eine unermessliche Anzahl von Menschen zerstört wurde. Es ist wichtig – jenseits von allem anderen – dies zu verstehen. Erst dadurch, dass ich in der Lage bin, diese unermessliche Tat zu berühren, kann ich der nachkommenden Frage widerstehen: Ist dies ein Opfer oder nicht? Und wessen Opfer? Oder ist dies vielleicht ein Täter, ein Terrorist? Geht es überhaupt nicht um das Opfer? Und vielleicht sollte dieser zerstörte Menschenkörper nicht als Opfer betrachtet bzw. gezählt werden? Zerstörte Menschenkörper als Opfer oder Nicht-Opfer einzuordnen, ist ein Versuch, sie ermesslich zu machen, statt darüber nachzudenken, dass all diese Körper das Unermessliche sind. Das Opfer-Syndrom ist das Syndrom, das will, dass ich dem Unermesslichen eine Antwort, eine Erklärung, einen Grund gebe und letztendlich feststelle, wer der „Schuldige“ und wer der „Unschuldige“ ist. Der einzige überlebende Terrorist bei den Bombay-Terroranschlägen von 2008 sagte vor dem Gericht, das ihn zum Tod verurteilte: „Ich glaube nicht, dass ich unschuldig bin.“ Ich denke, das Unermessliche in dieser Welt hat keinen Grund, keine Erklärung und keine Antwort. In dieser unermesslichen Welt muss ich die Versuchung der Ermesslichkeit ablehnen und ich will die Klassifizierung in Opfer oder Nicht-Opfer nicht akzeptieren. Ich will nicht durch das neutralisiert werden, was die Welt kommensurabel machen will. Ich weigere mich, mir alles durch den Kontext erklären und es auch dadurch entschuldigen zu lassen. Ich will mich nicht durch „den Kontext“ neutralisieren lassen. Die Bilder zerstörter Menschenkörper zu zeigen und anzusehen ist – heute – wichtig, weil ich angesichts des Opfer-Syndroms nicht resignieren will.

7. Die Irrelevanz der Qualität
Diese Bilder – weil sie von Augenzeugen aufgenommen wurden – haben keine fotografische Qualität. Das interessiert mich. Es ist die Bestätigung, dass unter Bedingungen der Dringlichkeit und in Not so etwas wie Qualität nicht notwendig ist. Ich glaubte immer an „Qualität = Nein! Energie = Ja!“. Hier gibt es keinen ästhetischen Ansatz außer dem Ziel, das Bild aufzunehmen. Die Bedingungen von „Qualität“ sind irrelevant angesichts des Unvorstellbaren. Bilder von zerstörten menschlichen Körpern zeigen dies auf. Kein technisches Know-how ist vonnöten. Kein Fotograf ist notwendig. Das Argument von der „fotografischen Qualität“ ist das Argument der Abseitsstehenden, der Nicht-Anwesenden, das Argument das im Namen des „Qualität“-Arguments „Abstand“ einzuhalten und „Kontrolle“ zu sein, ausdrückt. Aber es gibt – heute – keine Kontrolle mehr. Was vonnöten ist, ist vielmehr Zeuge zu sein, da zu sein, hier zu sein und jetzt hier zu sein, anwesend zu sein, zum „richtigen Zeitpunkt“ am „richtigen Ort“ anwesend zu sein. Die meisten Bilder werden mit kleinen Kameras, Smartphones oder Mobiltelefonen aufgenommen. Sie passen zu unserer Art und Weise, das „Alles“ und „Nichts“ im Alltagsleben zu bezeugen und es sofort „publik“ zu machen. Die Irrelevanz der Qualität dieser Bilder ist eine klare Kritik am „embedded“ Fotojournalismus und dem Journalismus im Allgemeinen. Die Irrelevanz der Qualität macht es wichtig – heute – solche Bilder zu zeigen und anzuschauen.

8. Abstandnahme durch Hypersensibilität
Ich bin sensibel, und ich will sensibel sein. Gleichzeitig will ich aufmerksam sein und bleiben. Ich will nicht Abstand nehmen, ich will nicht wegschauen und ich will meinen Blick nicht abwenden. Manchmal höre ich von Betrachtern oder Betrachterinnen, wenn sie auf Bilder zerstörter Menschenkörper stoßen: „Ich kann mir dies nicht anschauen, ich muss mir dies nicht ansehen, ich bin zu sensibel.“ Das ist die Bemühung, einen bequemen, narzisstischen und exklusiven Abstand zur heutigen Wirklichkeit, zur Welt zu halten. Zu unserer Welt, zu der einmaligen und zur einzigen, zu unserer Welt. Beim Diskurs der Sensibilität – eigentlich der Hypersensibilität – geht es darum, den eigenen Komfort, die eigene Ruhe, den eigenen Luxus zu bewahren. Diejenigen nehmen Abstand, die sich – mit ihren eigenen Augen – nicht mit der Unermesslichkeit der Wirklichkeit konfrontieren wollen. Abstand zur Wirklichkeit ist niemals ein Geschenk, es ist etwas, das sich ein paar wenige erlauben zu nehmen, um ihre Exklusivität unversehrt zu halten. Hypersensibilität ist das Gegenteil des „nicht-exklusiven Publikums“. Um sich mit der Welt zu konfrontieren, um mit ihrem Chaos, ihrer Unermesslichkeit zu kämpfen, um zu koexistieren in der Welt und um mit dem Anderen zu kooperieren, muss ich mich ohne Abstand mit der Wirklichkeit konfrontieren. Deshalb ist es notwendig, Sensibilität – die für mich bedeutet, „wach“ und „aufmerksam“ zu sein – von der Hypersensibilität zu unterscheiden, einer Hypersensibilität, die „Selbsteinschließung“ sowie „Ausschließung“ bedeutet. Um der Hypersensibilität zu widerstehen, ist es wichtig – heute – Bilder zerstörter Menschen-körper zu zeigen und anzusehen.


Translated from the English by Dr Michael Eldred, Köln

Wiederabdruck
Der Text war Teil der Ausstellung Thomas Hirschhorn / „Collage Truth“ / Galerie Susanna Kulli Zürich vom 12. Januar bis 25. Februar 2013 und ist im Buch „Critical Laboratory. The Writings of Thomas Hirschhorn“, MIT/October Books, Cambridge, Mass. (USA) 2013 enthalten.

 

[Dieser Text findet sich im Reader Nr. 1 auf S. 247.]

[Es sind keine weiteren Materialien zu diesem Beitrag hinterlegt.]

Thomas Hirschhorn

(*1957 in Bern, CH), Künstler, lebt in Paris. Nach dem Studium in der Grafikklasse an der Schule für Gestaltung und Kunst in Zürich (1978–83) schließt er sich dem französischen Grafikerkollektiv „Grapus“ an und zieht 1984 nach Paris. Ab Mitte der 1990er Jahre werden seine Collagen und Assemblagen raumgreifender. Installationen und Videoarbeiten sind oftmals auch als Kunst im öffentlichen Raum konzipiert. Hirschhorns Auffassung von Kunst als politisch-sozialem Engagement will Zusammenhänge sichtbar machen und den Betrachter mit ihnen konfrontieren.

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