SG: Johannes, was macht die Kunst?
JH: Der geht es ganz gut. Ich komme gerade recht vergnügt von der documenta in Kassel zurück, wo ich ein paar schöne Entdeckungen gemacht habe. Zudem hat es mich auch selbst bestätigt, sowohl als Künstler wie Forscher.
Wie unterscheidet sich dein Blick als Künstler auf die Gegenwartskunst von deiner Sicht als Forscher?
Eigentlich gar nicht so stark. Seit bald 20 Jahren erklärt mir zwar immer mal wieder ein Galerist, Kurator oder sonstiger Experte, dass ich mich für die eine oder andere Seite entscheiden müsse. Aber a) gibt es nicht nur zwei Seiten und b) ergeben mehrere Perspektiven auch mehr Dimensionen und Komplexität. Mit einer gezielten Tiefenbohrung käme man vermutlich schneller zum sogenannten Ziel. Ich bin aber ein Anhänger des Breitwandhorizontes und der transdisziplinären Vielstimmigkeit.
Was bedeutet das genau?
Wer Umwege geht, wird ortskundig! Je länger man unterwegs ist, desto mehr kommt alles zusammen, ergibt mehr Sinn. Natürlich ist das schizophren, aber produktiv. Künstlerische Praxis, Forschung, Lehrtätigkeit, Vermittlung, Gespräche wie dieses hier und das Leben überlagern sich bei mir ständig.
Du hast gesagt, du seiest «vergnügt» aus Kassel zurückgekommen. Warum?
Die Kuratorin Carolyn Christov-Bakargiev hat anders als ihre drei Vorgänger weder an die postkoloniale Debatte angedockt, geopolitische Missstände aufgedeckt, noch formaltheoretische Seminare abgehalten. Auch die in der Kunst ständig wiederaufgekochten Theorien und Philosophien der Postmoderne wurden höflich verabschiedet. Man experimentiert und blickt neugierig in die Zukunft, das ist sehr erfreulich.
Konkreter?
Die documenta-Chefin pfeift auf Codes und Diskurstheorie, verschickt lieber Hundekalender, mischt scheinbar kunstferne Positionen aus Quantenphysik bis Agrarwirtschaft ins Teilnehmerfeld und versteht die documenta als Ort «kollektiven und anonymen Gemurmels». Statt Programm ist Prozess angesagt, Christov-Bakargiev fordert einen offenen, urteilsfreien Umgang und propagiert den «degrowth», eine Wachstumsrücknahme, sowie den «kognitiven Kapitalismus». Sie habe kein Konzept, kokettierte Christov-Bakargiev wiederholt – und dieser Plan geht ziemlich gut auf. Bei der «documenta 13» stehen politisches Engagement und das Laissez-faire der Natur unverkrampft nebeneinander. Zudem hatte ich noch bei keiner der vier letzten Ausgaben so sehr das Gefühl, endlich mal in Kassel zu sein und nicht auf einer x-beliebigen, globalen Biennale oder Kunstmesse.
Woran lag das?
Vielleicht an einer weiteren Tendenz der Gegenwartskunst: anstelle des ausgestellten Objektes rückt wieder vermehrt der Betrachter in den Fokus. Ein Trend, der wegführt vom Artefakt und Referenziellen, hin zum Aktionistischen, Situativen, ja vielleicht gar zum Romantischen, Auratischen und Einzigartigen. Nach 40 Jahren Video und 20 Jahren Internet hat die Gegenwartskunst eine Wende hin zum Realen und zur Natur eingeleitet. Die Erfahrung des Betrachters wird zunehmend wichtig. Und ohne nun allzu sehr Schiller und Kant zu reanimieren: Der Mensch darf endlich wieder Mensch sein.
Einen ähnlichen Turn habt ihr selbst mit eurer künstlerischen Arbeit mit Com&Com vollzogen, als ihr vor rund drei Jahren das postironische Manifest veröffentlicht habt. Um was geht es und wie kam es dazu?
Eine ironische Haltung steht seit ihrem letzten Höhepunkt in der Postmoderne nur noch dafür, Wahrheiten zu verschleiern, Problemen aus dem Weg zu gehen und jeden Schwachsinn damit zu rechtfertigen, dass es ja nicht ernstgemeint sei. Ironie verkam mehr und mehr zu einer Art Haftungsausschluss oder Fluchtmanöver angesichts jeder denkbaren Verantwortung. Ironie spielte Ende der 1990er Jahre eine wichtige Rolle in unserer Arbeit, aber wir wurden bald mal müde, ständig mit den Augen zu zwinkern, kunstvoll zu zweifeln und alles mindestens im zweiten Grad zu dekonstruieren. Viele Menschen wollen heute wieder ungebrochen, direkt und positiv bejahend durchs Leben gehen, die Dinge sehen, wie sie sind, Nähe und Emotionalität zulassend Wahrheiten suchen und Verantwortung übernehmen. Mit dem distanzierenden Gestus der Ironie ist dies nicht machbar. Postironie ist eine Haltung, ein Statement, eine Positionierung.
Wie ironisch ist das gemeint: Kann Com&Com überhaupt ohne Ironie auskommen?
Postironie heisst nicht todernst. Unsere neuen Arbeiten sind nicht komplett ironiefrei, auch der Humor bleibt, nur geht es weniger um Dekonstruktion, sondern um das aktive, neugierige Erforschen von Unbekanntem bzw. um das Zusammenbringen von verschiedenen Welten und Kontexten. Nachdem wir uns jahrelang hinter dem industriellen und oft digital hergestellten Werk verbergen konnten, nehmen wir nun selbst Stift, Pinsel oder Messer in die Hand. Für uns war «Postironie» eine Befreiung, eine Neuausrichtung unseres Kunstbegriffes, ein Paradigmenwechsel. Seit 2009 steht praktisch der gesamte Output unter diesem Verständnis, sowohl die einzelnen Kunstwerke als auch die mehrteiligen Projekte, Texte, Vermittlung etc. Zuerst war Postironie nur ein Name, eine Behauptung. Heute ist es eine gelebte Realität, auch wenn wir diese teils erst schaffen mussten. Oder mit Walter Benjamin: «Es ist von jeher eine der wichtigsten Aufgaben der Kunst gewesen, eine Nachfrage zu erzeugen, für deren volle Befriedigung die Stunde noch nicht gekommen ist.»
In eurem aktuellen Projekt «Bloch» reist ihr mit einem Baumstamm um die Welt. Um was geht es und wo seid ihr auf eurer Reise?
«Bloch» ist ein Projekt, das Volkskultur und zeitgenössische Kunst verbindet und auf einem alten Appenzeller Fastnachtsbrauch basiert, bei dem der letzte im Winter gefällte Fichtenstamm in einer eintägigen Prozession zwischen zwei Dörfern hin- und hergezogen und am Ende an den Meistbietenden versteigert wird. Meistens wird der Baum von Einheimischen gekauft und zu Schindeln oder zu Möbeln verarbeitet. Diesmal hat jedoch Com&Com das Bloch – so nennt man die unteren fünf astlosen Meter eines Baumes – erworben und geht mit ihm auf eine Weltreise mit Stationen auf allen Kontinenten. Nach ersten Stops in Bern und Berlin bereiten wir uns derzeit auf die Reise nach China vor, wo Bloch im Rahmen der kommenden Shanghai Biennale auftreten wird.
Einen Baum um die Welt reisen lassen? Das kann nicht die ganze Idee sein …
Der Baum ist Bindeglied und Kristallisationskern. An jedem Ort wird dann in Zusammenarbeit mit lokalen Künstlern eine völlig neue Bloch-Aktion entwickelt, die auf lokalen Traditionen und Bräuchen basiert. Dadurch wandelt sich der ursprüngliche Brauch und seine Bedeutung, Kulturaustausch findet statt und etwas Neues wird geschaffen. Die künstlerischen Aktionen werden teils von Gesprächen, Ausstellungen und gesellschaftlichen Veranstaltungen sowie einer Website und einem Dokumentarfilmteam begleitet.
Exportiert ihr den Brauch oder den Baum, quasi ein «Ready Made 2.0»?
Es geht nicht darum, kulturimperialistisch eine fertige Produktion oder einen bestehenden Brauch rund um den Globus zu senden, sondern einzig diesen Baum. Das alleine löst bei jedem eine eigene Assoziationskette aus. Daran können dann neue Geschichten und Dialoge andocken. «Bloch» ist ein offenes, unfertiges Werk. Wir wissen heute noch nicht, wie es in China oder in zwei Jahren aussieht. «Bloch» ist eine Einladung, eine Bühne und Experiment. Man könnte auch den Begriff «Postproduktion» verwenden: Ein durch den ursprünglichen Brauch bereits aufgeladenes Kulturobjekt wird mit Hilfe vieler weiterentwickelt. Im Zuge dieser Bedeutungsaufladung werden wir zu Kuratoren, Stichwortgebern, Regisseuren und Produzenten. «Bloch» ist eine Inszenierung mit vielen Kapiteln und einem offenen Ende. Am Ende der Tour soll das Bloch zwar wieder in die Heimat zurückkehren, eventuell stellen wir es gar wieder in den Wald, woher es kam. Vielleicht wird «Bloch» aber auch nie fertig sein, ewig reisen oder in der Antarktis verlorengehen.
Der Baumstamm wiegt rund zwei Tonnen. Was bedeutet das für eure Reise nach China?
Reisen und arbeiten mit «Bloch» entschleunigt. Es ist relativ umständlich, mit zwei Tonnen Übergewicht eine Weltreise zu planen. Da gibt es viele Probleme, von denen man teils erst an der Grenze erfährt. Fast jedes Land hat unterschiedliche Zollauflagen oder verlangt ein anderes Schädlingszertifikat, Australien lässt theoretisch gar kein Holz ins Land, das ist nun eine Herausforderung. In Europa reisten wir mit einem Anhänger und eigenem Zugfahrzeug auf der Strasse, nach Asien wird Bloch samt Anhänger im Container verschifft. Dieser Anhänger ist nun aber in China wieder nicht zugelassen usw. – Solche Prozesse formen die Arbeit unweigerlich. Und nicht selten führen logistische oder andere Zwänge zu ästhetischen Entscheidungen. So hat uns etwa die Schädlingsproblematik dazu genötigt, das Bloch zu schälen.
Ist so eine administrative Einschränkung künstlerisch produktiv?
Ja. Es gibt einen Punkt, an dem dich das Material in eine Richtung führt, die du nicht kontrollierst. Auf einem bestimmten Level macht das Ding, das du machst, dich. Selbst bei immaterieller Arbeit. Das ist gut so.
Man kann in euer «Bloch»-Projekt investieren und «Bloch Shares» kaufen. Wo seht ihr den Return on Investment?
Zu Finanzierungszwecken gründeten wir die internationale Bloch- Gesellschaft IBG und gestalteten eine auf 100 Exemplare limitierte, nummerierte und handsignierte Bloch-Kunstedition. Mit dem Erwerb erhält der Käufer ein Wert-Papier im doppelten Sinne: einerseits ein Kunstwerk von Com&Com mit dem ihm eigens zugeschriebenen Wert, andererseits einen Anteilsschein am Bloch. Wird Bloch dereinst nach seiner Weltreise verkauft, erhält der Inhaber einen Hundertstel des Verkaufserlöses. Die Kunstedition darf auch nach Auszahlung behalten werden.
So finanziert ihr auch die Weltreise des Stammes?
Nur teilweise. Die reinen Produktions- und Betriebskosten werden sich am Ende auf weit über 200 000 CHF belaufen, unsere Arbeit nicht miteingerechnet. Nicht zu vergessen die bis heute rund 40 Kollaborateure, die Bloch nicht nur mit Energie, sondern auch mit Wert aufladen. Eigentlich ist Bloch heute schon fast unbezahlbar. (lacht)
Ihr präsentiert aktuell in St. Gallen eine Auswahl eurer jüngsten Arbeiten unter dem Titel «Holzweg»: Auf welchen Holzwegen ist Com&Com unterwegs?
Holzwege sind scheinbar zufällige, von Holzfällern und Jägern geschaffene Wege im Wald, die oft unvermittelt abbrechen oder sich im Dickicht verlieren. Der Titel der Ausstellung verweist zudem auf eine Sammlung von Schriften Martin Heideggers, die uns lehren, die gewohnten Wege zu verlassen und uns auf Holzwege zu begeben, wenn wir in den Wald des Seins eindringen möchten. Es gibt eine Anekdote, wonach Martin Heidegger und Carl Friedrich von Weizsäcker auf einem Spaziergang durch den Stübenwasener Wald feststellten, dass sie sich auf einem Holzweg befinden. Erstaunt stellen sie fest, dass sie an der Stelle, an welcher der Weg endet, auf Wasser gestossen waren. Da soll Heidegger gelacht haben: «Ja, es ist der Holzweg – der führt zu den Quellen!»
Passt diese Geschichte tatsächlich zu eurer künstlerischen Arbeit?
Das «Postironische Manifest» markierte für uns einen solchen Weg ins Ungewisse, der uns letztlich zu einer Quelle führte. Ohne diesen radikalen Bruch, alles Alte hinter uns zu lassen, wären wir nie auf ein Projekt wie «Bloch» gekommen. Auch dass wir seit ein paar Jahren vermehrt mit Bäumen und Holz arbeiten, klingt im Titel an.
Verfolgt ihr eigentlich mit eurer Kunst einen bestimmten Zweck?
Persönlich glaube ich, dass Kunst autonom ist gegenüber dem praktischen Zweck. Der einzige Zweck von Kunst sollen die Aufrechterhaltung geistiger Freiheit und die Herstellung von Kommunikation sein. Dazu zähle ich auch ästhetische Erfahrung. Das Kunstwerk als Körper ermöglicht dabei eine praktische Form von Erkenntnis. Es ist aber nicht mein Ziel, die Erwartung an Kunst vollständig neu zu programmieren; das wäre nur ein Aufguss aller Avantgardevorstellungen. Mit der teile ich allerdings den Wunsch, Gewissheiten zu erschüttern.
Wie kann ich mir das konkret vorstellen?
Mich interessiert, wo ich die Bilder oder Objekte finde, die nicht nur auf eine Vergangenheit verweisen, sondern formal wie inhaltlich auf der Höhe der Zeit sind; die eine Autorität haben, die über den Moment hinausragt und die Fähigkeit hat, Sinnhaftigkeit, Gegenwartsanalyse und Massenappeal in sich zu vereinen. Dafür schaffen wir Laboratorien voller kreativen Dilettantismus – wie Bloch. Das Projekt scheint als Ganzes sinnlos, ist aber in seiner Art abgeschlossen, ganz im Sinne von Kant: zweckhaft, ohne Zweck.
Wie wird sich deiner Meinung nach das Kunstsystem in Zukunft weiterentwickeln?
Im Zuge der Globalisierung wurde Kunst grenzüberschreitend und zu einer lingua franca, die einem gemeinsamen Anliegen auf eine Weise entgegenkommt, wie es den an Sprache gebundenen kulturellen Äusserungen kaum möglich wäre. Alte Bindungen wie Religion, Dorfstruktur usw. sind weitgehend aufgebrochen. Die metropolitane Gegenwartskunst ist im Begriff, eine Weltreligion zu werden. Kunstevents schaffen ein Gemeinschaftsgefühl quer über soziale Schichten hinweg. Systemisch wird uns der Kunstmarkt noch eine ganze Weile erhalten bleiben – und noch mächtiger werden. Aber es formieren sich Gegenmodelle, neue Formate, Methoden, Schauplätze und Akteure entwickeln sich. Der Kreationsprozess und der Autorenbegriff wird noch weiter gedehnt, Gattungen und Künste noch stärker gemischt, Ordnungen und Formate durchbrochen und mit dem Leben verschränkt.
Wenn du den Kunstbegriff derart erweiterst, wird Kunst dann nicht beliebig?
Vielleicht brauchen wir die Disziplin namens Kunst gar nicht. Die documenta-Chefin spricht denn auch nicht mehr von Künstlern, sondern Teilnehmern: «Wir brauchen nur einen Haufen Teilnehmer, die tun, was sie wollen, und diese Sorte Kultur produzieren.» Der amerikanische Kunstkritiker Jerry Saltz gab dieser Sorte im «NY Magazine» denn auch bereits einen Namen: «Post Art».
Wiederabdruck
Das Interview erschien zuerst in: Schweizer Monat, Ausgabe 999 / September 2012. S. 64–67. Was macht die Kunst?
[Dieser Text findet sich im Reader Nr. 1 auf S. S. 237.]