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RLF und der Kapitalistische Realismus

Friedrich von Borries / 2013

Jan, ein Marketingexperte, will ein neues Unternehmen gründen. Es heißt RLF, Akronym für das »richtige Leben im falschen«. Dieses Unternehmen will Produkte verkaufen, die das Lebensgefühl »Protest« vermitteln. Um mehr Wirksamkeit zu erzielen, möchte Jan sein unternehmen als Konzeptkunstwerk tarnen. Sein Partner hierfür ist der Künstler Mikael Mikael.

»Was ist für dich an RLF eigentlich Kunst?«, fragt Jan deshalb etwas unvermittelt.
»Auf die Frage habe ich schon länger gewartet«, antwortet Mikael nach einer langen Pause. »Für dich ist das eine geniale Marketing-Idee.«
Jan will ihm widersprechen, aber Mikael wiegelt mit einer eindeutigen Handbewegung jede Form von Unterbrechung ab. »Ja, ja, ich weiß, du willst damit auch die Welt verändern. Volles Risiko gehst du dabei nicht. Du bist und bleibst ein Werber, der die Idee auch verkaufen will. Das ist auch okay. Aber mach dir nichts vor. «
Jan nickt. »Ich mach mir schon nichts vor. Echt nicht. Ich will nur endlich etwa sinnvolles machen.« Er hält einen Moment inne. »Das machen Werber nämlich meistens nicht, verstehst du?«
»Klar. Kann ich schon nachvollziehen. Hast bestimmt auch Recht, so aus deiner Perspektive. Aber für mich geht es um was anderes«, fährt Mikael fort. »Ich will nicht die Welt verändern.«
»Aber worum geht es dir denn. Ich dachte, du bist auch so ein Weltverbesserer?«
»Ich bin Künstler. Kunst kann nicht die Welt verbessern. Echt nicht. Jedenfalls nicht so wie Politik. Kunst ist nur Kunst, mehr nicht. Kunst macht keine Revolutionen. Das ist Politik und Wirtschaft. Aber Kunst kann die Welt darstellen, wie sie ist und wie sei seien könnte. Und damit den Menschen die Augen öffnen. Dann begreifen die mehr, Sachen, die sie vorher gar nicht auf dem Schirm hatten.« Er schaut Jan ins Gesicht. »Kuck dich doch an. Du erlebst das doch gerade. Kunst. Du fängst an, Dinge zu denken, die du vorher nicht gedacht hast. Du bekommst eine Gefühl … ein Gefühl, sagen wir ein Gefühl für das Wirkliche und für das Mögliche. Das, was seien könnte, aber noch nicht ist.«
Jan nickt.
»Genau«, fährt Mikael fort. »Das trifft es echt gut. Das Wirkliche und das Mögliche. Ich meine, das ist ja auch echt ein Riesenunterschied, den muss man sich aber trotzdem erstmal bewusst machen. Oder halt erleben, und das kann Kunst.«
»Und was ist das dann für Kunst?«, wiederholt Jan seine Frage.
Mikael wartet einen Moment, bevor er antwortet. »Ich würde sagen, es ist eine zeitgemäße Form von Realismus.«
»Realismus?«
»Ja, im doppelten Sinne …«

I

Realismus. Bezeichnet unter anderem eine im 19. Jahrhundert aufkommende Form von Bilden der Kunst und Literatur. Entgegen den idealisierenden und historisierenden Darstellungen des Klassizismus und der Romantik versuchte realistische Kunst, die alltägliche Wirklichkeit möglichst sachlich abzubilden. Die Hinwendung zum Realismus war oftmals politisch motiviert und sollte die Widersprüche der damaligen Gesellschaftsordnung zu Tage treten zu lassen.

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»Aber es gibt noch einen anderen Realismus als den Begriff, den du aus der Kunstgeschichte kennst. In der Zeit, in der in der Malerei von Realismus gesprochen wurde, und damit etwas sozial-utopisch-revolutionäres gemeint war, begannen auch Politiker von Realismus zu sprechen.«
»Du meinst Bismarck? Real-Politik?«
»Genau. Und heute reden die Politiker ja auch davon, -realistisch zu sein. Es gibt ja ein Utopieverbot, wir sollen ja alle nicht in Alternativen zum bestehenden System denken.«
»Aber was hat das mit deiner Arbeit zu tun?«, setzt Jan an. »Du machst weder Malerei noch Politik, sondern …«
»Nein, natürlich nicht«, unterbricht Mikael. »Aber das, was ich mache, bildet die Realität so ab, wie sie ist. Sie doppelt sie, indem sie etwas Neues hinzufügt. Durch diese Zuspitzung wird die Realität lesbarer. Deshalb ist RLF ja kein Kunstwerk im geschützten Raum des Kunstbetriebes, sondern auch ein Unternehmen.« Jan schaut Mikael verwundert an. »Ja, ich hab schon ein Interesse daran, dass RLF ein Unternehmen ist«, fährt Mikael fort, »das Erfolg hat. Das ist der Realismus, von dem ich spreche. In einer Welt, in der alles total ökonomisiert ist, ist Kunst eben auch ein Unternehmen. Oder eine Marketing-Idee. Was weiß ich. So was halt, so was ist der Realismus der Gegenwart. Also, das ist Realismus wie in der Malerei des 19. Jahrhunderts, nur eben mit den heutigen Mitteln.«
Jan nickt zustimmend.
»Und weil ich ja ein Utopist bin, frage ich mich natürlich, wie man heute die Welt verändern kann. Das wird dann unser Mikronation-Projekt. Aber dafür brauchen wir erstmal das Geld, denn das sollen ja auch nicht bloß Entwürfe und Ideen sein, sondern wirkliche Räume.«
»Und da fragst du dich, wie du mit Kunst die Realität verändern kannst?«
»Genau. Und das Mittel, das wir heute haben, um in die Menschen einzudringen, ist nun mal der Konsum. So funktioniert heute die Welt. Wenn du mehr machen willst, als nur darstellen, abbilden, reflektieren und kritisieren, musst du ja in die Leute eindringen. Eine Krankheit. Für dich ist die Kunst das trojanische Pferd, für mich die Produkte und das Marketing. Mir ist egal, ob RLF als Kunst wahrgenommen wird oder nicht.« Mikael lacht.
Jan schüttelt den Kopf. »Nein, ich kann das schon verstehen.« nachdenklich läuft er neben den schweigenden Mikael her. Letztlich denkt Mikael ähnlich wie ich, denkt Jan, nur von einem ganz anderen Standpunkt. Dem entgegengesetzten Standpunkt.
»RLF«, setzt Mikael noch mal an, »kann wie ein
Virus in den Kapitalismus eindringen, den Code der Konsumenten verändern, während sie die Produkte von RLF freiwillig konsumieren. Wie eine Krebszelle, die die Helferzellen des Körpers aktiviert, um ihn zu zerstören, und dann produziert der Körper seine eigenen Krebszellen, zersetzt sich selbst, genauso soll RLF funktionieren und den Kapitalismus von innen zerfressen …«
Inzwischen ist der Wohnwagen von Mikael wieder in Reichweite. Jan weiß nicht, was er auf Mikaels lange Ausführungen antworten soll. Er hat verstanden, dass Mikael seine Ziele mit den Mitteln verfolgt, mit denen sie in seiner Agentur Produkte verkaufen. Verführung und Manipulation. Nur dass das für Mikael Kunst ist.

Auszug aus dem Roman »RLF«, der sich zwischen Realität und Fiktion, Literatur, Kunst und Marketing bewegt und im Sommer 2013 bei Suhrkamp erschien..

[Dieser Text findet sich im Reader Nr. 1 auf S. 90.]

[Es sind keine weiteren Materialien zu diesem Beitrag hinterlegt.]

Friedrich von Borries

(*1974), Prof. Dr., ist Architekt und lehrt Designtheorie und kuratorische Praxis an der Hochschule für Bildende Künste Hamburg. Von 2001 bis 2003 unterrichtete er an der Technischen Universität Berlin, von 2002 bis 2005 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Stiftung Bauhaus Dessau. 2007 bis 2008 war er Gastwissenschaftler an der ETH Zürich und am MIT Cambridge sowie Gastprofessor an der Akademie der bildenden Künste Nürnberg. 2003 bis 2009 leitete er gemeinsam mit Matthias Böttger das Büro raumtaktik in Berlin. Außerdem war er Research Fellow am Goldsmiths College in London, Mitglied der Jungen Akademie an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und der Deutschen Akademie für Naturforscher Leopoldina (2007 bis 2012) sowie Generalkommissar für den Deutschen Beitrag auf der XI. Architekturbiennale (2008) in Venedig; Web: http://www.friedrichvonborries.de/

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