Q010

»Zukunftsfähigkeit: 16 Thesen zur nächsten Gesellschaft

1. Die nächste Gesellschaft unterscheidet sich von der modernen Gesellschaft wie die Elektrizität von der Mechanik. Schaltkreise überlagern Hebelkräfte. Instantaneität erübrigt Vermittlung. Wo der Buchdruck noch auf Verbreitung setzt, rechnen die Computer bereits mit Resonanzen. Die Dynamik der Moderne, die noch als Geschichte, Fortschritt und Dekadenz lesbar war, löst sich in Turbulenzen auf, die nur noch Singularitäten kennt.
2. Die Kulturform der nächsten Gesellschaft ist nicht mehr das Gleichgewicht, sondern das System. Identitäten werden nicht mehr daraus gewonnen, dass Störungen sich auspendeln, sondern daraus, dass Abweichungen verstärkt und zur Nische ausgebaut werden. Gleichgewichte sind leere Zustände; sie warten auf die nächste Störung. Systeme sind von sich aus unruhig; sie verschwinden, wenn sie keinen Anschluss finden.
3. Die Strukturform der nächsten Gesellschaft ist nicht mehr die funktionale Differenzierung, sondern das Netzwerk. An die Stelle sachlicher Rationalitäten treten heterogene Spannungen, an die Stelle der Vernunft das Kalkül, an die Stelle der Wiederholung die Varianz.
4. Die Integrationsform der nächsten Gesellschaft ist nicht mehr die Geschichte in ihrer Gegenwart als Fortschritt oder Dekadenz, sondern die unbekannte Zukunft in ihrer Gegenwart als Krise. Solange man nicht weiß, wie es weitergeht, vergewissert man sich eines Stands der Dinge, auf den kein Verlass ist.
5. Die Politik der nächsten Gesellschaft ist militärisch, ökonomisch und ökologisch konservativ. Die Macht, die ihr bleibt, ergibt sich aus der Überzeugungskraft des Status quo. Sie liefert die Adressen, an die man sich wendet, wenn man einen Überblick behalten möchte, der nicht mehr möglich ist.
6. Die Wirtschaft der nächsten Gesellschaft jagt von Asymmetrie zu Asymmetrie. Es geht darum, Zeit zu gewinnen. Wirtschaften heißt, seinem Kapital einen Schritt voraus zu sein.
7. Die Kunst der nächsten Gesellschaft ist leicht und klug, laut und unerträglich. Sie weicht aus und bindet mit Witz; sie bedrängt und verführt. Ihre Bilder, Geschichten und Töne greifen an und sind es nicht gewesen.
8. Die Wissenschaft der nächsten Gesellschaft ist poetisch und mathematisch. Sie entwirft und berechnet das autonome Objekt. Sie allein ist zuständig für das Neue. Ihre Mathematik einer rekursiven Komplexität tritt an die Stelle des Kalküls, der Geometrie und der Linie.
9. Die Religion der nächsten Gesellschaft ist großartig und gnadenlos. Sie berichtet von einer Welt, die umso fremder auf den Menschen zurückschaut, je weiter dieser in sie hineinschaut.
10. Die Erziehung der nächsten Gesellschaft bleibt ratlos. Sie verlässt sich auf eine Zweiseitenform, der gemäß wichtig nur sein kann, was nicht in der Schule vorkommt.
11. Die Organisation der nächsten Gesellschaft ist kenogrammatisch. Sie definiert Leerstellen, die jederzeit anders besetzt werden können. Sie motiviert zu einer Arbeit, die nur in diesem Moment nicht austauschbar ist. Sie engagiert sich für Produkte, die den Kunden binden, indem sie ihn freisetzen.
12. Die Technik der nächsten Gesellschaft macht die Welt zur Prothese ihrer selbst.
13. Die Reflexionsform der nächsten Gesellschaft ist nicht mehr die Magie, die Macht oder das Geld, sondern die Information. Religion, Politik und Wirtschaft treten ihre Orientierungsleistung an die Massenmedien ab. Die Allianz von Nachricht, Werbung und Unterhaltung wird paradigmatisch wichtiger als die Kommunikation mit abwesenden Göttern, die Einschränkung der Willkür und die Stabilität der Instabilität.
14. Das Individuum der nächsten Gesellschaft spielt, wettet, lacht und ist ratlos. Es zählt wie in der Stammesgesellschaft, fühlt wie in der Antike, denkt wie in der Moderne und muss sich dennoch jetzt und heute an der Gesellschaft beteiligen. Es vergewissert sich seiner Gruppe, träumt von seinem Platz, berechnet seine Chancen und erlebt, wie bereits die nächste Verwicklung es überfordert.
15. Die Moral der nächsten Gesellschaft wird darin bestehen, auf die Unanschaulichkeit dieser Gesellschaft mit Augenmaß zu reagieren.
16. Die Negationsform der nächsten Gesellschaft ist nicht mehr der Rausch, die Korruption oder die Kritik, sondern die Posse, die Transformation einer Unmöglichkeit in eine Möglichkeit. Sie ist so unberechenbar produktiv wie jede Negationsform; und dies nicht etwa, weil sie nicht wüsste, was sie tut, sondern weil niemand weiß, welche Reaktionen sie herauf beschwört.«

Dirk Baecker
2011
/ Reader 1 p. 62-63