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Performative Kompetenz

Ole Wollberg / 2014

Auf die nächste Kunst antwortet die nächste Kunstpädagogik. Was immer als ihre Aufgabe angenommen werden mag, muss in Abhängigkeit stehen zu den Strukturen, Funktionen, Praktiken, Begriffen, Dimensionen, … der je aktuellen Kunst. – Oder doch der jeweils nächsten? Ist Next Art schon da oder kommt sie sehr bald? Ihr Postulat schwebt zwischen Prognose und Diagnose. Unabhängig von der Frage, wie Kunst und Kunstpädagogik sich wechselseitig beeinflussen, ist Next Art Education spätestens mit diesem Band zumindest als Diskurs präsent.
Was also sind die Spezifika der nächsten Kunst, die sich in kunstpädagogischen Bildungszielen spiegeln (sollten)? Eines der wichtigsten ist womöglich die im -Extremfall bis zur Untrennbarkeit gesteigerte Verschränkung von Produktion und Rezeption. Selbst in der konventionellen Annahme eines Künstlers, des durch ihn erschaffenen Werkes und eines Publikums ist der einzelne Rezipient nicht vollends von der Werkproduktion zu trennen. Theorien ästhetischer Erfahrung oder Handlung betonen den unbedingten Anteil des -Rezipienten an der Produktion. Jan Holtmann spitzt -diesen Aspekt in seinen Sätzen zur Handlungskunst1 weiter zu mit der Formulierung: „Handlungskunst stellt nicht die Frage nach einer ihr eigenen Rezeptionsform, sondern stellt das Verhältnis Produzent/Rezipient in Frage.“2  Dieses Verhältnis in Frage zu stellen bedeutet auch, seine Auflösung zu erwägen.
Über den Werkentwurf F. E. Walthers schreibt -Michael Lingner, der „Stoff“ des immateriellen Werkes sei „vor allem auch der am Handlungsprozess beteiligte andere Mensch. […] Indem der Rezipient zum Autoren des ‚immateriellen WERKES‘ wird, welches kein von ihm verschiedenes Objekt, sondern letztlich er selbst ist, wandelt sich das Werk von einer Wahrnehmungs- zu einer Daseinsform.“3 Hier ist beschrieben, dass das eigentliche Werk erst in der individuellen Rezeption der (durch den Künstler) geschaffenen materiellen Objekte entsteht. Sie sind dem immateriellen Objekt des Werks lediglich Anlass. Immerhin sind die plastischen Objekte (in diesem Fall) materiell und ihre materielle Herstellung eindeutig dem Künstler zuzuweisen. Bereits im Kontext von Objektkunst spricht Lingner von einer -„extremen Entmaterialisierung [H. i. O.]“4. Die Position des klassischen Produzenten wird umso fraglicher, wenn selbst das Objekt der Rezeption immateriell, vielleicht gar nicht als solches einzugrenzen und unter Umständen kaum verbalisierbar ist. Immaterielle Werkbildung liegt buchstäblich im Sinne des Betrachters – oder besser: in der sinnlichen und kognitiven Responsivität des (handelnden) Rezipienten. Kunst als solche zu erkennen, zu erfahren, zu er- oder gar beleben bedeutet dann, das Kunstwerk zu gestalten. Im Extrem fällt die Produktion mit der Rezeption zusammen. Eine kategoriale Trennung beider ist dann, wie Holtmann erkennt, nicht aufrecht zu halten. Ist das Objekt der Handlungskunst die Handlung als ein Zusammenwirken von Rezeption und Produktion? Die damit einhergehende Unterstellung eines genuinen schöpferischen Potenzials der Rezeption verweist auf deren performative Struktur.
Thesen: Die nächste Kunst ist zunehmend von den Prinzipien der Handlungskunst geprägt;5 sie ist u. a. durch eine zunehmende Entmaterialisierung ihrer Objekte charakterisiert; das hat zur Folge, dass Produktion und Rezeption immer häufiger zu einem Prozess verschmelzen. Dieser Prozess ist letztlich ein produktiver; die Rolle des einstigen Rezipienten wandelt sich allmählich zu der eines (rezipierenden) Produzenten; Next Art Education ist eine entsprechend sich modifizierende Kunstpädagogik.
Setzen wir nun Bildung als finalen Gegenstand der Next Art Education, dann steht letztere vor der Aufgabe, einerseits Bildung mit Kunst (wenigstens) zu begünstigen, andererseits die Voraussetzungen für künstlerische Bildung herzustellen. Die Mehrdeutigkeit von Bildung ist bezogen auf Next Art als vorwiegend handlungsbasierte Kunst umfassender gültig denn je. Bildung ist Bilden, Entstehen, Entwickeln, Formen, Gestalten, Produzieren … Was aber sind im 21. Jahrhundert die Voraussetzungen für künstlerische Bildung? Hier ist Holtmanns 22. Satz zur Handlungskunst richtungsweisend: „Handlungskunst stellt die Frage nach dem Leistungsort der Kunst“6. Diese Frage gewinnt in der Tat an Relevanz angesichts der Verlagerung der Werkbildung auf Individuen oder Gruppen in einem unüberschaubar vernetzten Kollektiv potenzieller „Next Artists“, die sich unter Umständen nicht einmal als Künstler bezeichnen würden noch sich als solche fühlen und jedenfalls nicht dem romantischen Bild des von der Muse geküssten Künstlers entsprechen. Eine aus didaktischer Sicht vielleicht noch interessantere Frage wäre, was jene immateriell Kunstschaffenden zu leisten haben, bevor bzw. damit die Kunst leisten kann. Folgt man Torsten Meyer, „geht es um die interaktive Aneignung der verschiedenen kulturellen Codes und Formen alltäglicher Lebenswelt“7. Nur wer diese Codes erkennen und lesen kann, ist in der Lage, die nächste Kunst als solche zu erfahren und dadurch (mit) zu gestalten. Wer sie sogar schreiben und hacken kann, zählt zu jenen, die der immateriellen Werkbildung Räume verschaffen.
Auf Zukünftiges gerichtete Kunstpädagogik muss daher die strukturellen Eigenschaften der Codierungen von Kultur fokussieren. Es muss ihr gelingen, auf einen spielerischen, aber sensiblen Umgang mit den Medien der kulturellen „Sprachen“ vorzubereiten. Aber wie kann man so etwas vermitteln?
Im Zusammenhang mit Bildungszielen ist seit einiger Zeit die Formulierung von Kompetenzen recht populär. Gibt es Cultural-Hacking-Kompetenzen? So problematisch eine Bildungskonzeption ist, die ihre Inhalte und Ziele als Pool einfacher Anwendungen formuliert, so schwierig scheint es, unter totalem Verzicht auf das fragliche Vokabular etwas argumentativ Wirksames entgegenzusetzen. Ich schlage vor, den Kompetenzbegriff weiterhin zu verwenden, ihn aber anders zu konzipieren. Ein Bildungsbegriff, der etwa die Performativität immaterieller Werkbildung berücksichtigt, verlangt die Auflösung der strukturalistischen Dichotomie aus Kompetenz und Performanz zugunsten eines performativen Kompetenzbegriffs.
In Abgrenzung zu linguistischen Ansätzen fragt Sybille Krämer: „Wie kann die Performanz nicht mehr als einschränkende Bedingung, vielmehr als eine produktive Kraft in den Blick kommen?“ 8. Sie schlägt vor, die Performativität der Sprache als Medialität zu verstehen. – „In den stummen Prozeduren der ‚lautlosen‘ Materialität der Medien, in denen unsere Sprachlichkeit sich vollzieht, ist eine Eigensinnigkeit am Werk, die […] nach dem Vorbild der unbeabsichtigten Spur zu denken ist […] Medien sind an der Entstehung von Sinn und Bedeutung also auf eine Weise beteiligt, die von den Sprechenden weder intendiert, noch von ihnen völlig kontrollierbar ist […]“9. Dieser Ansatz begreift Performanz nicht länger als mangelhafte Repräsentanz eines starren Regelwerks. Was Krämer „Eigensinnigkeit“ nennt, eröffnet der Performanz eine schöpferische Qualität, die weit über die bloße Anwendung einer Kompetenz hinausgeht. Man könnte von einem zweiten Modus der Performanz sprechen, in dem nicht die Kompetenz (im linguistischen Sinne) maßgeblich für den „Output“ ist, sondern ein teils unbewusstes Spiel mit der Wechselwirkung von (Sprach)Handlung und Medium, basierend auf Erfahrungen mit der Art, in der das Medium seine Spuren hinterlässt. Der Performanz ist dann zuzuschreiben, nicht nur Kompetenz anzuwenden, sondern auch selbst zu generieren. Im Unterschied zu Chomskys Gegenüberstellung von Kompetenz und Performanz10 sind beide viel näher beieinander zu denken – im Handeln gehen Kompetenz und Performanz wechselseitig auseinander hervor.
Was Krämer auf Sprache bezieht, lässt sich auf die Medialität kultureller Codes übertragen, allerdings unter der Bedingung eines anderen Handlungs- und -Erfahrungsraumes, denn die Medien der nächsten Kunst sind zunehmend virtuell. Die „neue Produktion“ als Hybrid aus Produktion und Rezeption funktioniert nicht als Anwendung zuvor beigebrachter Kompetenzen, sondern ist auf das spontane Wechselspiel mit den je gegebenen Umständen künstlerischen Handelns angewiesen. Kompetenz, die aus der Produktion heraus sich erstmalig zeigt, womöglich erst entsteht, ist nicht auf ihre Eignung und Angemessenheit zu hinterfragen. Denn performative Kompetenz meint eine handlungs- und situationsbezogene Interaktivität des Subjekts mit dem Gegenstand der jeweiligen Produktion und dessen Struktur. Der kunstpädagogische Erfolg schlägt sich nicht im „korrekten“ Rückgriff auf bekannte Muster oder überhaupt in der konkreten Ausprägung einer -spezifischen Kompetenz nieder, sondern vielmehr in der unangeleiteten, kreativen Handlungsfähigkeit des Subjekts.
Diese Auffassung von Kompetenz drängt sich nicht erst im Hinblick auf Next Art Education auf. Das starre Kompetenzkonzept, das etwa in den Bildungsstandards der Kultusministerkonferenz zum Tragen kommt, war der Kunstpädagogik noch nie angemessen. Da aber die Strukturen und Phänomene der nächsten Kunst immer alltäglicher zu werden scheinen, ist das Konzept der performativen Kompetenz für die Kunstpädagogik aktueller und wichtiger als in der Vergangenheit. – Übrigens auch deshalb, weil Next Art Education ein unbedingter Leistungsort der Kunst ist.

1.) Jan Holtmann, „Sätze zur Handlungskunst“, in: Johannes M. Hedinger, Torsten Meyer (Hg.), What’s Next? Kunst nach der Krise, Berlin 2013, S. 258f.
2.) Holtmann 2013, a. a. O., S. 259.
3.) Michael Lingner, „Immaterielle Werkbildung. Strategien ästhetischen Handelns V: Franz Erhard Walther“,  Kunst+Unterricht, 156, 1991, S. 16f.
4.) Lingner 1991, a. a. O.
5.) Vgl. Holtmann 2013, a. a. O.
6.) Holtmann 2013, a. a. O., S. 258.
7.) Torsten Meyer, Next Art Education. (KPP 29) Schriftenreihe „Kunstpädagogische Positionen“, hg. von A. Sabisch et al., Hamburg 2013, S. 29. Vgl. auch Torsten Meyer, „Next Art Education. Erste Befunde“, in:Hedinger/Meyer 2013, S. 377–384.
8.) Sybille Krämer,  „Sprache – Stimme – Schrift: Sieben Gedanken über Performativität als Medialität“, in: Uwe Wirth (Hg.), Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt/M. 2002, S. 323–346, hier S. 329.
9.) Krämer 2002, a. a. O., S. 332.
10.) Vgl. z. B. Noam Chomsky, Aspects of the Theorie of Syntax. Cambridge 1965.

[Dieser Text findet sich im Reader Nr. 2 auf S. 360.]

[Es sind keine weiteren Materialien zu diesem Beitrag hinterlegt.]

Ole Wollberg

(*1988), Studium der Erziehungswissenschaft, Kunst, Romanistik an der Universität Hamburg und Hochschule für Bildende Künste Hamburg. Derzeit Promotionsstipendiat an der Fakultät für Erziehungswissenschaft an der UHH, dort Mitarbeit im Arbeitsbereich „Forschungs- und Le[]rstelle“, Lehrauftrag im Fach Kunst am Walddörfer Gymnasium, Hamburg-Volksdorf. Arbeitsschwerpunkte: Tacit Knowing, Kompetenzbegriff in der Kunstpädagogik, Präsenz und (Re)Präsentation.

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