Kostenlos, umsonst und völlig gratis stellt unser Autor diesen Text all jenen zur Verfügung, die nicht müde werden, ihn zu fragen: „Entschuldigen Sie, könnten Sie sich vorstellen, einen Katalogtext für mich zu schreiben?“ Und damit Ruhe, bitte!
Eine der sinnträchtigsten und segensreichsten Erfindungen des Kunstbetriebs ist der Katalog zur Ausstellung. Eine Eröffnung ohne Ansprache ist vorstellbar, eine Vernissage ohne Publikum ist vorstellbar, ein Showroom ohne Werke ist vorstellbar – eine Ausstellung ohne Katalog ist es nicht. Das liegt vermutlich daran, dass der Katalog die einzige Frucht der Kunstwelt ist, die allen Beteiligten gleichermaßen schmeckt.
Für Künstler ist ein Katalog ohnehin stets eine schöne Sache. Schließlich dauert auch die gelungenste Ausstellung nicht ewig. Eine gedruckte Dokumentation bannt nicht nur die Flüchtigkeit des Augenblicks, sie legt zugleich den gnädigen Schleier historischer Verklärung über Besucherzahlen und Verkaufserlöse. Das Publikum zählt ebenso eindeutig zu den Gewinnern. Ein optisch ansprechendes Erinnerungsstück im Folioformat ist nicht nur eine Zierde für jedes Regal, es versöhnt auch nachträglich mit manch unsäglichem Vernissagegespräch, das man dafür auf sich nehmen musste.
Auch Galeristen und Museumsleute könnten sich eine Ausstellung ohne Katalog nur schwer vorstellen, belegt doch jeder neue aus dem eigenen Haus die eigene professionelle Umtriebigkeit, während jeder neue Katalog der Konkurrenz die schlechte Meinung über sie bestätigt. Selbst die Feuilletonredakteure haben ihre Freude. Wer einen Katalog auf dem Schreibtisch hat, hat einen lästigen Abendtermin weniger. Wer kurz entschlossen doch noch hingeht, hat am Büfett dann beide Hände frei. Kurz: Eine Ausstellung ohne Katalog ist schlimmer als gar keine Ausstellung. Also gibt es immer einen Katalog.
Menschen, die mit den Gepflogenheiten des Kunstbetriebs nicht vertraut sind, nehmen Kataloge mit nach Hause, blättern schnell über Zueignung, Grußworte und Abbildungen hinweg, bis sie auf dichte Buchstabenfolgen stoßen, wie sie sie von anderen Büchern gewohnt sind. Dann lehnen sie sich entspannt zurück und beginnen, aufmerksam zu lesen. Das verrät eine lautere Seele, ist aber leider auch rührend naiv.
Der Text ist in Kunstkatalogen nämlich vollkommen bedeutungslos. Wichtig ist die Ausstattung. Die Ausstattung verrät sofort, in welcher Liga der Künstler oder die Künstlerin spielt. Ein richtiger Katalog muss prächtig sein, am besten im Offset gedruckt, in Hochglanz, teilmattiert, mit Sonderfarben, Fadenheftung, geprägtem, mehrfach eingeschnittenem Titel, aus seltenen Materialmischungen und Spezialpapieren, denn all das kostet, und zwar entweder den Künstler oder die Künstlerin selbst oder aber die Galerie, den Kunstverein, das Museum.
Die einen wie die anderen haben kein Geld zu verschenken. Also investieren sie gerade so viel, wie ihnen die Kunst jeweils wert ist. Man mag das kalt und berechnend finden, aber in Wahrheit könnte man sich gar kein aufrichtigeres Verfahren zur Dokumentation von Wertschätzung ausdenken. Natürlich enthält der Katalog aus naheliegenden Gründen auch ein paar nützliche Informationen: den Namen des Künstlers oder der Künstlerin in der richtigen Schreibweise, die wichtigsten biografischen Daten, fotografische Abbildungen der ausgestellten Werke, ein Grußwort der örtlichen Kulturreferentin, manchmal auch eine klein geschrumpfte Version der Eröffnungsrede. Aber das war’s dann schon. Alles andere ist Füllmaterial.
Das Wort „Füllmaterial“ klingt in diesem Zusammenhang zugegebenermaßen leicht ehrenrührig, trifft den Sachverhalt aber ziemlich genau. Zu wahrer Pracht gehört nun einmal eine gewisse Fülle, die aber ist über Abbildungen allein schwer herzustellen. Und da man auch beim großzügigsten Layout nicht unbegrenzt leere Blätter dazwischenschießen oder die Schriftgröße aufblasen kann, bleibt immer ein leidiger Rest, für den man wohl oder übel Text auftreiben muss.
Die Herstellung des entsprechenden Füllmaterials gilt traditionell als Aufgabe für die Sorte kunstinteressierter Autoren, die man im Betrieb gern etwas abfällig als „Theoretiker“ bezeichnet. Es lässt sich leider nicht nachvollziehen, woher diese Auffassung rührt, mit Sicherheit aber stammt sie nicht von den Betroffenen. Sie dürfte vielmehr ein Spiegel der Meinung sein, die man von ihnen hat, und die ist wenig schmeichelhaft.
Man hält Theoretiker nämlich in der Regel für desperate Eunuchen, die zwar das gleiche ausgeprägte Geltungsbedürfnis treibt, ohne das man sich auch nicht die Mühe machen würde, eine Karriere als Künstler oder Kurator einzuschlagen, die aber selbst weder in der Lage wären, einen Pinsel zu halten, ohne sich dabei die Schuhe zu bekleckern, noch fähig, eine Ausstellung auf die Beine zu stellen. Derart unglücklich vom kreativen Hauptgeschäft abgeschnitten, sind sie schließlich damit zufrieden, wenigstens verbal ein wenig assistieren zu dürfen, und zwar, nachdem sie sich der Form halber zunächst ein wenig geziert haben, bereitwillig und in beliebiger Länge. Dabei muss ihnen selbstverständlich klar sein, dass sie ausschließlich deshalb zum Mitmachen aufgefordert wurden, weil alle anderen Lösungen teurer gewesen wären.
Sie haben auch nicht empfindlich zu reagieren, wenn niemand jemals mit ihnen über irgendwelche Inhalte spricht, sondern immer nur über Abgabetermine und Zeichenzahlen. Sie sollten schließlich wissen, dass sich im Grunde kein Mensch dafür interessiert, was sie zu sagen haben, sofern nur das Lob kataraktartig über Künstler und Werke herniederregnet sowie ausgiebig von den „Synapsen der Gesellschaft“, „ästhetischen Interventionen“ und der „Markierung von Orten“ die Rede ist.
Dieses Arrangement mag womöglich eine demütigende Komponente haben. Aber da der gemeine Theoretiker, wie man glaubt, den Sack voller Gelehrsamkeit, der ihm aus Studienzeiten übrig geblieben ist, nun einmal nirgendwo anders leeren kann, ohne Unwillen zu erregen, wird er sich den Umständen schon fügen und sich mit dem Gedanken trösten, es könnte einer „seiner“ Künstler irgendwann einmal die große Karriere machen, in deren Sog es ihn dann mit nach oben spült.
Nun bin ich zufällig auch einer dieser Theoretiker, und als solcher ständiger Adressat ebenso freundlicher wie hartnäckiger Katalogtextanfragen. Das ist in meinem Fall besonders merkwürdig, weil es belegt, dass die Anfrager, sofern sie nicht allesamt tollkühne Desperados sind, kein Wort von dem gelesen haben können, was ich je geschrieben habe. Dementsprechend unerquicklich gestalten sich die unvermeidlichen Anschlussgespräche.
Da es wenig Sinn haben dürfte, diese missliche Situation durch weitere ungelesene Erklärungen aus der Welt schaffen zu wollen, versuche ich es probehalber einmal anders herum und stelle hiermit den vorliegenden Text gegen ein Belegexemplar für jeden Ausstellungskatalog kostenfrei zum Abdruck zur Verfügung. Er ist zeitlos, behandelt ausgiebig die „Synapsen der Gesellschaft“, die „ästhetischen Interventionen“ und die „Markierung von Orten“, nennt dabei weder Namen noch Positionen, ist also uneingeschränkt einsetzbar, steht dazu jederzeit termingerecht zur Verfügung und passt mit etwas mehr als 7000 Zeichen in alle branchenüblichen Formate.
Im Gegenzug bitte ich inständig, mich mit der Frage „Könnten Sie sich vorstellen, einen Katalogtext für mich zu schreiben?“ künftig zu verschonen.
Wiederabdruck
Dieser Text erschien in: Monopol – Magazin für Kunst und Leben, 1.8.2009,
http://www.monopol-magazin.de/artikel/2010954/schreibstreik.html [8.9.2013].
[Dieser Text findet sich im Reader Nr. 1 auf S. 163.]