Kunstpädagogik wird auch in Zukunft von Fallen angezogen werden. Beschrieben wurde die Gestalt dieser Falle in einer Zeit als noch niemand ahnte, dass es einmal Kunstpädagogik geben würde. Kant beschrieb das pädagogische Paradox:
„Eines der größten Probleme der Erziehung ist, wie man die Unterwerfung unter den gesetzlichen Zwang mit der Fähigkeit, sich seiner Freiheit zu bedienen, vereinigen könne. Denn Zwang ist nötig! Wie kultiviere ich die Freiheit bei dem Zwange?“2
Zwang ist ausgerichtet auf die Erreichung von bestimmten Zielen, Erziehung hat dann einen Zweck, Bildung kann sich so nur noch zufällig ereignen. Was Kant herausstellt, gilt für alle Pädagogik. Es gibt dafür keine Lösung. Eine Lösung scheint nur möglich, indem man sich dem Problem nicht stellt oder indem man Lösung als eine Prozessform und ein Feld von Paradoxen, Ambiguitäten und Ambivalenzen versteht. Dann wird man sich in die Spannung begeben zwischen Polen; ein solcher Prozess ist schwer beherrschbar und nicht durch Messen evaluierbar, sondern nur durch Wertschätzung, die immer auch einen individuell subjektiven Kern behalten wird. Über solcherlei Wertungen muss und kann man streiten und sie letztendlich nur für eine Zeit als wirksame Fiktion anerkennen.
Ein übler Trick, dem Paradox humanistisch zu entkommen, ist die Berufung auf Moral. Damit kann Freiheit, so wird vorausgesetzt, legitim reduziert und als „Beliebigkeit“ denunziert werden. Der Frage nachzugehen ist lohnenswert: Wie kann „Beliebigkeit“ zu einem Schimpfwort werden? Ist, etwas zu belieben, denn eine Straftat, auf etwas Liebe zu richten verwerflich? Es wird es dann, wenn die Kriterienlosigkeit der Liebe, deren nicht Verallgemeinerbarkeit, deren Trotz im Bestehen auf der Einzigartigkeit, nicht aushaltbar erscheint. Auch dieses Problem kann man lösen: Man muss dafür sorgen, immer wieder in den Zustand der Verliebtheit zu geraten, damit eine psychotisch zu nennende gegenseitige Selbstverliebtheit zelebrieren. Man wird dann förmlich eins mit einem anderen Menschen oder für Minuten, Stunden, Tage mit einer Sache. Das ist ein melting pot. Dabei geht es zunächst nicht um den Anderen, also auch nicht um Zwang. Die Ergriffenen sind über den Wolken, wo die Freiheit doch grenzenlos sein soll. Vor solcher Passion und Begeisterung, die ja immer mehr oder weniger rücksichtslos ist gegen Andere und Anderes, rettet dann die korrekte Verfahrensweise, Schritt für Schritt, reversibel, gleichberechtigt, mit Unterstellung von Selbstständigkeit und quasi vertragshaften Vorgehen. Dann geht man mit Kriterien und Sanktionen abgesicherte Verhältnisse ein, mit der Verpflichtung auf eine bestimmte Art der Bearbeitung eines Gegenstandes, also von etwas Drittem, das dann überprüft werden kann. Die Raserei der Verführung, des sich Verführen-Lassens durch Neugier und Leichtsinn ist weder die Sache der Coolen, erst recht nicht die der Bürokratie, auch in dem an sich schon unmöglichen Liebesverhältnis gilt dies leicht als Übergriff, was ja schon fast Missbrauch wäre.
In der veröffentlichten Meinung – vielleicht insbesondere unter den Bedingungen gegenwärtiger Medienkultur – geht die Tendenz in Bezug auf Grenzwertiges immer wieder den Weg der schnellen Verurteilung. Solche Rechtschaffenheitsaufregungen kann man zum Beispiel auch als shitstorm in Twitter, Facebook und ähnlichen Anwendungen finden. Ohne die Berührung der Grenze entsteht in der Kunst keine ungewöhnliche Formulierung. Wenn alle diese Schritte dorthin begründet werden müssen, kommt es nur zu Neuauflagen. Die nachträgliche Rekonstruktion eines Weges, die die Überraschung und Unstetigkeit des Beliebens einholt, ist in der Wissenschaft gefordert. Nur so ist es möglich, die Grenzwerte auch für andere beurteilbar zu machen.
Die Orientierung an Kunst könnte in der Kunstpädagogik etwas dazu beitragen, die Rechtschaffenheitsaufregung zu mildern.
Z. B. die anlässlich des Kölner Beschneidungsurteils, wo gleich Muslime, vor allem aber Juden in den Verdacht der Barbarei gerieten aufgrund rationalistisch positivistischer, juristischer Akrobatik. Dann sind da die zur Zeit nicht bewiesenen Verfehlungen des ehemaligen SPD-Bundestagsabgeordneten Sebastian Edathy, der unerlaubtes kinderpornografisches Material besitzen soll, was man aber nicht vorweisen kann. Und zusätzlich behauptet wird, dass, wer solches besitze, in der Regel auch weiterer Straftaten, insbesondere des Missbrauchs verdächtigt werden könne. Den Fall – im wörtlichen Sinne – des ehemaligen Bundespräsidenten Christian Wulff könnte man auch dazu nehmen, auch wenn seine Auftritte und sein Haus kein wirkliches ästhetisches Vergnügen waren. Und auch in der Dresdener Rede von Sibylle Lewitscharoff ging es bei aller Angreifbarkeit eigentlich um ästhetische Unterscheidungen, aber gelesen wurden, wenn überhaupt, Handlungsanweisungen und diese wurden mit aller moralischen Wucht verurteilt.
Die Fälle sind sehr verschieden, inhaltlich, im sujet: Explosionen sich überschlagenden Bescheidwissens, moralischer Sanktionierung aus der Perspektive der richtig Eingestellten. Hier zeigt sich die Gefahr, mit dem Zeigefinger zu denken. Das ruiniert den argumentativen und mit Sinnen fundierten Streit um Grenzen. Abgrenzung ist notwendig für Differenzierung und -Differenzierungsfähigkeit, also Intelligenz. Urteil und Wertung müssen sein. Aber nicht gleichzeitige -Verdammnis. Aus Damm wird leicht durch Lautverschiebung dumm. Dummheit bietet Vorteile. Der Differenzierungsfähigkeit der Sinne, der damit zusammenhängenden Differenzierungsmöglichkeit im Denken ist eine auf Ästhetik gestützte moralische Indifferenz ein Kontrapost zur Seite zu stellen, um überhaupt der Merkwürdigkeit des Einzelfalls in einiger Ruhe gewahr werden zu können.
„Die einfachste surrealistische Tat besteht darin, mit Revolvern in den Fäusten auf die Straße zu gehen und blindlings, solange man kann, in die Menge zu schießen. Wer nicht wenigstens einmal im Leben Lust gehabt hat, auf diese Weise mit dem derzeit bestehenden elenden Prinzip der Erniedrigung und Verdummung aufzuräumen – der gehört eindeutig selbst in diese Menge und hat den Wanst ständig in Schußhöhe.“3 (Breton)
Die Differenz zwischen Moral und Kunst ist hier nicht weg, sie wird in einem fiktiven Spiel außer Kraft gesetzt, nicht wirklich, sondern als Fiktion, die alle Macht zur Wirklichkeit hat, deutlich. Gerade dadurch wird Differenzierungsfähigkeit erreicht und Fragen aufgeworfen. Z. B. die nach der Verlässlichkeit der Unterscheidungen, etwa der zwischen Kunst und Leben. Kunst und Pädagogik zusammen können Aufenthaltsräume oder zeitlich akzentuiert: Moratorien schaffen, handlungsentlastet, in denen solches einmal sein kann.
„So groß ist das Entsetzen, das sich des Menschen bei der Entdeckung des Bildes seiner Macht bemächtigt, dass er in seinem eigenen Handeln sich von ihm abwendet, sobald dieses Handeln ihm jenes Bild unverstellt [franz. nue, KJP] zeigt. Das jedenfalls geschieht im Fall der Psychoanalyse. Die prometheische Entdeckung Freuds war ein solches Handeln“4.
Kunstpädagogik stellte also die Frage: Was tun mit der Macht, was ist die Macht? Und sagt: Man muss das nicht verschweigen. Artikulation ist die einzige Möglichkeit, dem Totalitarismus der Tat auszuweichen, sich nicht von der eigenen Ohnmacht gegen die Macht und dem Erschrecken von der eigenen Macht zerrieben zu werden.
„Die fast unlösbare Aufgabe besteht darin, weder von der Macht der anderen, noch von der eigenen Ohnmacht sich dumm machen zu lassen.“5 (Adorno)
Indifferenz, die sich zumindest eine Zeitlang der abschließenden Bewertung, des moralischen Urteils, enthält, wäre dann eine Errungenschaft, die sich eine Berührung auch mit dem Bösen, Ekligen, Schlechten, der Macht, der Gewalt, der Schuld ermöglicht. Indifferenz wäre Gelassenheit, die Bewegungen aufzunehmen versucht, die von dem her kommen, was irritiert. Einlassen, ohne in der Angst zu vergehen, gleich angesteckt zu werden.
In der Raumzeit der Berührung (Takt ist das Fremdwort dafür) ginge es um die Möglichkeit zu unterscheiden zwischen (Straf)Tat und Phantasie, zwischen Tun und Wünschen, Ekel, Freude, Erregung. Und das bei gleichzeitiger kritischer Distanz zum Sachverhalt und der Lust daran, Widersprüche und Widerstreite, vielleicht auch Paradoxien auszuhalten, ohne in Gleich-gültigkeit zu verfallen. Gelassenheit spürt den verschiedenen Geltungsmöglichkeiten nach, prozessiert also nicht im Modus der Gleichgültigkeit. Das Anstößige wird zum Anstoß (auch energetisch) und muss die Energie nicht gleich wieder vergeuden, indem die geballte und geballerte Abwehr auf den Plan gerufen wird, die nur noch so gerade eben vor dem Mordaufruf zurückschreckt, den Rufmord aber genussvoll betreibt. Um was zu tun: Sich als unschuldigen Menschen herauszustellen.
„Nun, mein vortrefflicher Freund, sagte Herr C …, so sind Sie im Besitz von allem, was nötig ist, um mich zu begreifen. Wir sehen, daß in dem Maße, als, in der organischen Welt, die Reflexion dunkler und schwächer wird, die Grazie darin immer strahlender und herrschender hervortritt. – Doch so, wie sich der Durchschnitt zweier Linien, auf der einen Seite eines Punkts, nach dem Durchgang durch das Unendliche, plötzlich wieder auf der andern Seite einfindet, oder das Bild des Hohlspiegels, nachdem es sich in das Unendliche entfernt hat, plötzlich wieder dicht vor uns tritt: so findet sich auch, wenn die Erkenntnis gleichsam durch ein Unendliches gegangen ist, die Grazie wieder ein; so, daß sie, zu gleicher Zeit, in demjenigen menschlichen Körperbau am reinsten erscheint, der entweder gar keins, oder ein unendliches Bewußtsein hat, d. h. in dem Gliedermann, oder in dem Gott.
Mithin, sagte ich ein wenig zerstreut, müßten wir wieder von dem Baum der Erkenntnis essen, um in den Stand der Unschuld zurückzufallen? Allerdings, antwortete er, das ist das letzte Kapitel von der Geschichte der Welt.“6 (Kleist)
Ich habe eine fixe Idee: die Auseinandersetzung mit der Schuld.7 Kann Schuld nicht akzeptiert werden als ein beim Denken, Fühlen und Handeln notwendiges Verfehlen, dann muss man auf Teufel komm raus unschuldig bleiben oder zumindest Reservate der Unschuld erhalten. Diese Reservate werden in Kindern gesucht und die Kunst soll manchmal auch dafür stehen. Gelingt es nicht unschuldig zu bleiben – und das gelingt nie –, kommt dazu noch die Scham oder Unfähigkeit diese Schuld gegenüber anderen zu artikulieren, dann wird aus der Schuld das Schuldgefühl. Das macht so träge und dumm, dass man entweder darin versinkt oder sich durch Aufbrausen, Ausklinken, Rechthaberei, vor allem aber moralische Rechtschaffenheit retten muss.
Wenn man jetzt sagen würde: Lernziel in der Kunstpädagogik wäre, ambiguitätstolerant zu werden, Ambivalenzen aushalten zu können, Paradoxe durch die eigene Existenz zusammenzuhalten, dann ist man fast schon wieder in einem Erlösungsgerede. Der Kunst soll ein weiteres Mal heilbringende Funktion delegiert werden, um die Pädagogik zu entschuldigen oder zu entschulden.
Die Kunst gibt es aber nun nicht. Sie entsteht erst durch Berührung, treffen und verfehlen. Anwendung der Kunst macht schon schuldig. Kunstpädagogik ist eine Anwendung von Kunst, ohne die die Kunst nicht existieren würde.
An den Veränderungen der gesellschaftlichen Funktion von Kunst kann die Kunstpädagogik nicht vorbeigehen. Sie kann Kunst nicht nehmen, wie sie in Erscheinung tritt – sie muss sowieso erst angewandt werden. Teile von Kunst sind wegen mangelnder Kritik der Gefahr der Selbstbezüglichkeit erlegen oder der realabstrahierenden Marktlogik. Letztere bringt in einer Doppelgesichtigkeit, ähnlich wie die Pädagogik, Kunst zur Geltung (zumindest zur Geldung), kann sie aber auch aus der Selbstbezüglichkeit herausholen und nutzen. Beides kann in der Anwendung Kunst zerstören.
Wie durch den Markt Kunst vielleicht hübsch wird, aufgehübscht zur Erzielung von Gewinn als Parkposition fürs Kapital (das erschöpft und ermüdet vom Marktreiben nicht mehr weiterkann).
Kunstpädagogik hat Mitleid mit der Kunst. Sie kann aber auch die Passion, die zur Kunstaktion geführt hat, in die Wahrnehmbarkeit zurückführen. Durch ihre -Fixierung auf pädagogische Ziele bemerkt sie Zusammenhang, wo keiner sein kann, macht Sinn. Jede Wahrnehmung von Kunst ist Post-Produktion. Die zu arti-kulieren ist wichtiger denn je: Nicht alles so nehmen, wie es auf einen einknallt, sondern aufnehmen, wirbeln und weitermachen.
Anders formuliert: Kunstpädagogik wäre Arbeit an der Fiktion, an den eigenen Lieblingsvorstellungen, an den Verarbeitungsformen, wie sie gesellschaftlich moralisch nahegelegt werden, an den Beziehungsaufnahmen, ob bewusst oder unbewusst, also an der Bespielung der Raumzeit zwischen den individuellen Subjekten.
Und das geht, indem man Einbildungen durch Bilder stören lässt.
Das wären dann Bildungsprozesse: das, was schon (ein-)gebildet ist, einer „neuerlichen Prüfung“8 zuzuführen. Auch marktförmige Kunst unterliegt nicht unbedingt der utilitaristischen Logik der Erzielung von „Kompetenzen“ und der Erreichung von „Standards“, ist aber gar nicht so selten Zeugnis der Herausschiebung der Grenzen der Darstellbarkeit. Kunstwerke können auch gelten als Spuren der Konstitution individueller Subjektivität unter gegenwärtigen Bedingungen. Die in Kunstwerken verzeichneten Spuren, die kunstinternen Lösungen sind als Ergebnis von je individuell subjektiver Forschung oft den Sozialisations- und Entwicklungstheorien voraus – allerdings in einer Fremdsprache formuliert.
Durch die Anwendung von Kunst werden Unterrichtsgegenstände produziert, eigens Objekte für die Pädagogik, etwas, worauf man gemeinsam sehen kann, Objekte und Objektivität. Objektivität und damit abgrenzbare Objekte entstehen an der Stelle, wo die symbolischen Strukturen und die Vorstellungs- und Urteilkraft, mit denen das forschende Individuum operiert, mit den Darstellungs- und Aufzeichnungstechniken und dem Aufgezeichneten im Stoffwechsel oder Austausch mit Anderen (Geselligkeit) in Reibungsverhältnisse gerät. Dabei entsteht eine Irritation (= neue Erfahrung / Empirie), die die bisherigen symbolischen und imaginären Konstruktionen (Theorien) differenzieren, manchmal radikal verändern. Unbewusst und ungewusst Subjektives wird artikulierbar – zum Objekt. Es wird Wissen hervorgelockt und geschaffen – Objektivität.
Kunstpädagogik und in ihr einzelne Werke, Prozesse, Filme, Performances usw. werden zu Teilchenbeschleunigern für die überholungsbedürftigen Einbildungen: Die neuen Bilder müssen überrascht werden, damit sie an einem Screen, an einer Schnittstelle etwas von ihren Bildungen preisgeben. Dieser Prozess kann in einer Klasse ein gemeinsamer werden, Erfahrungen können geteilt werden.
In diesem Verständnis von Empirie zählen Kunstwerke, auch Filme, z. B. „gute“ Spielfilme als verdichtet-inszenierte Dokumente gesellschaftlicher Erfahrung. In einer künstlerischen Formulierung werden sie zudem zu Wissen um die Singularität. Diese liegt nicht frei da, sondern ist geborgen in zur Verallgemeinerung tauglichen Artikulationen. Wenn sie reizvoll sind, neugierig machen, dann wirken sie so schnell und durchschlagen ausgefeilte Abwehrmechanismen. Wenn ein rundum behütetes Experimentierfeld besteht (Institution Schule könnte das werden), dann kann man die Chance nutzen, Vorstellungen, innere Bildern und Phantasmen sich so bilden zu lassen, dass sie bewusst erfahrbar werden.
Dabei bergen Bild- und Zeitmächtigkeit von Bildern aller Art Chancen durch Verstörung oder Erheiterung (Sprich: Lockerung der Besetzung, Aufstörung erzwungener Wahrnehmungs- und Denkweisen) hergebrachte Vorstellungen von Beziehungsaufnahme, standardisierte Unterstellungen zu erwischen und diskutierbar und oft leichter öffentlich zu machen.
Das, was Nancy übers Kino und den Film sagt, gilt wohl strukturell für einige Möglichkeiten der Befassung mit Bildern: Wir können in Kunstwerken, Nancy sagt „im Kino“, unsere eigene Einbildungskraft sozusagen wie ein Bild vor uns sehen. Im Kino kommt noch direkt, im medientechnischen Sinn, auch die Bewegung hinzu, strukturell gilt das aber auch für andere Bildproduktionen: „Mit dem Kino aber ist die Bewegung eingeführt worden – nicht so sehr die der Objekte oder der Leute, die da gefilmt werden. Man glaubt ja immer noch, das Urbild der Bewegung im Film sei der Zug. Aber die wirkliche Bewegung im Kino ist meine Bewegung, die mir die Leinwand nicht nur präsentiert, sondern die sie mir erlaubt: eine Bewegung, in der ich mich mir selbst annähere.
So kann man im Kino einem Gesicht ganz nah sein und dann von ihm zurücktreten. […] Um in die Nähe, in eine Art Berührung zu geraten, kommt das Bild aus der Vorstellung und geht dazu über, zu rühren, indem es mit dem Auge alle Sinne berührt. […] Was auf der Leinwand geschieht, zielt in der Intensität des Strebens weniger darauf, etwas vorzustellen, als vielmehr, etwas darzustellen, zu präsentieren.“9
1.) Zusätzliches Bildmaterial zu diesem Beitrag ist via QR-Code am Ende des Textes verfügbar. Abb. 1: Foto Karl-Josef Pazzini; Abb. 2: Anne-Lise Coste, “professionalization is killing art” (2008), online verfügbar in der Bilddatenbank „eMuseum“ (Zürcher Hochschule der Künste und Museum für Gestaltung, Zürich) unter http://sammlungen-archive.zhdk.ch/view/objects/asitem/id/95575 [4.1.2015]
2.) Immanuel Kant, Über Pädagogik. Königsberg 1803.
3.) André Breton, „Zweites Manifest des Surrealismus“, in: Ders., Die Manifeste des Surrealismus. Reinbek 1968 [1930], S. 56.
4.) Jacques Lacan, Funktion und Feld des Sprechens und der Sprache in der Psychoanalyse. Schriften I. Olten/Freiburg 1973, S. 71–171, hier S. 78.
5.) Theodor W. Adorno, Minima Moralia. Frankfurt/M. 1951, S. 67.
6.) Heinrich von Kleist, Über das Marionettentheater. Internetausgabe. Version 12.07, 2007 Kleist-Archiv Sembdner, Heilbronn. Zuletzt gedruckt 5.12.2007 09:42, Seite 8 von 9.
7.) Siehe Karl-Josef Pazzini, „Schuld abladen verboten. Kinder haften für ihre Eltern“, in: Johannes M. Hedinger, Torsten Meyer (Hg.), What’s Next? Kunst nach der Krise, Berlin 2013, S. 419f.
8.) Freud schreibt in seiner unvollendet gebliebenen Arbeit „Abriss der Psychoanalyse“ (1938/1940): „Es ist interessant, dass sich in dieser Situation die Parteibildung gewissermassen umkehrt, denn das Ich sträubt sich gegen unsere Anregung, das Unbewusste aber, sonst unser Gegner, leistet uns Hilfe, denn es hat einen natürlichen ‚Auftrieb‘, es verlangt nichts so sehr, als über die ihm gesetzten Grenzen ins Ich und bis zum Bewusstsein vorzudringen. Der Kampf, der sich entspinnt, wenn wir unsere Absicht erreichen und das Ich zur Überwindung seiner Widerstände bewegen können, vollzieht sich unter unserer Leitung und mit unserer Hilfeleistung. Es ist gleichgiltig, welchen Ausgang er nimmt, ob er dazu führt, dass das Ich einen bisher zurückgewiesenen Triebanspruch nach neuerlicher Prüfung annimmt, oder ob es ihn wiederum, diesmal endgültig, verwirft. In beiden Fällen ist eine dauernde Gefahr beseitigt, der Umfang des Ichs erweitert und ein kostspieliger Aufwand überflüssig gemacht worden.“ In: Sigmund Freud, „Abriß der Psychoanalyse: Die Psychoanalytische Technik“, in: Ders., GW XVII, 1940 [1938], S. 63–138, hier S. 104f.
9.) Jean-Luc Nancy, „Zum Sinn der Kunst. Gespräch mit Hans-Joachim Lenger und Christoph Tholen“, Lerchenfeld #22, 2014, S. 12f.
[Dieser Text findet sich im Reader Nr. 2 auf S. 241.]