Noch nie war es einfacher als heute, Menschen mit Kunst zu erreichen. Das WorldWideWeb1 ist aber nicht nur ein blitzschnelles globales Vermittlungsnetzwerk, sondern auch ein Ort, der die Versprechungen der Kunst der letzten hundert Jahre2 wahr werden lässt. Hier können alle gleichzeitig Publikum und Kunstschaffende sein.
Kunstvermittlung im Zeitalter von TV
Mit ihren Guckkastenbühnen3, Leinwänden4 und Bestuhlungen5 sind die Parallelen zwischen Theater/Oper/Konzert/Kino und TV offensichtlich. Obwohl das diesbezügliche Setting etwas offener ist, zählt auch das Museum zum TV-Zeitalter. Die Kunstvermittlung im Zeitalter von TV6 heisst, dass sie frontal erfolgt und die RezipientInnen die (physisch) passive Rolle des Betrachters einnehmen müssen. Als Aktion ist einzig eine Re-Aktion möglich; vor allem im Sinne von Nach-Denken.
Ausnahmen bestätigen die Regel.
Weil diese traditionellen Kunstvermittlungsformate in Häusern institutionalisiert sind, haben sie oft relativ starre Abläufe, in denen sich auch Parallelen zum klassischen Industriezeitalter ziehen lassen. Aus diesem Blickwinkel sind sie quasi Kunstvermittlungsfabriken oder -maschinen.
Die Party zwischen TV und WWW
Im Übergang zwischen Kunstinstitution und Web hat sich parallel zur rasanten Entwicklung des WorldWideWeb ein Format etabliert, das gerade bei einem jüngeren Publikum grossen Erfolg hat: Der Club.
Ich nenne dieses Beispiel nur deshalb, um anhand eines Raumsettings aufzuzeigen, wie das WWW die Kompetenzen aller Beteiligten verschiebt.
Die Beschallung des Raumes erfolgt nicht von da her, wo die Kunstschaffenden etwas Präsentieren (Konzert-/Theater-/Opernbühne & Kino-/Videoleinwand), sondern üblicherweise von vier Seiten, zentral auf den unbestuhlten Dancefloor ausgerichtet.
Das Licht rückt nicht die künstlerische Inszenierung eines Konzertes, eines theatralen Bühnenstückes oder installiertes Kunstwerkes ins rechte Licht, sondern den Publikumsraum.
Auch hier gilt: Die Ausnahmen bestätigen die Regel.
Dieses Raumsetting erfordert ganz konkrete, physische Interaktion. Die Gäste einer Party müssen mitdenken (wenn auch zeitweilige nur minimalst), um sie aktiv mitzugestalten. Gleichzeitig besteht jedoch überhaupt kein Zwang, interagieren zu müssen. Zwischen der Rolle des Beobachters, respektive der Betrachterin und derjenigen eines Akteurs oder einer Performerin liegen jedoch oft nur wenige Schritte oder Sekunden. Die Ausführungen zur Clubkultur bilden deshalb den idealen Link zur „Kunstvermittlung im Zeitalter von -Social Media“, weil Party und Social Media die Möglichkeit zur effektiven Interaktion und Mitgestaltung eint, jedoch auch die freie Entscheidung, zuzuschauen oder aktiv zu interagieren (by the way: es versteht sich von selbst, dass im WWW die Interaktionsmöglichkeiten jedes einzelnen um ein Mehrfaches grösser sind als an einer Party).
Andernorts in diesem Blog habe ich bereits ausgeführt, welche kunsthistorische Verankerung die Clubkultur gerade in Zürich hat.7
Förderung wie zu Zeiten von Kaiser und Königinnen
Wie eingangs beschrieben, macht das Web aus allen Künstlerinnen und Künstlern. Beispielsweise sind auf Youtube alle Clips, egal welcher Herkunft und Produk-tionsweise, im selben Setting und unkuratiert neben- oder übereinander zu sehen. Alle können Clips hochladen und alle können aus diesem gigantischen Pool frei auswählen. Das ist ein grosser Unterschied zum TV, aber zum Beispiel auch zum Kino oder zum Museum. Wenn nun die Zürcher Filmstiftung jährlich CHF 11 Mio. vergibt, dann, rein vom Format her, nur an einen winzigst kleinen Teil des Angebots auf Youtube, in den allermeisten Fällen an die teuersten Produktionen, die dort zu finden sind.
Ergo, und das trifft nun ebenso auf Theater, Oper und Museum zu: Extrem Wenige kriegen relativ viel Geld.
Im Vergleich zur Anzahl der Produktionen, ob nun filmischer, performativer, musikalischer oder sonst welcher kreativer Art, ist das Elitenförderung8 wie zu Zeiten von Kaiser und Königinnen.
Wie könnte, sollte oder müsste jedoch die Kunstvermittlung im Zeitalter von Social Media aussehen?
Im Netz und im Zusammenspiel zwischen On- und Offline gibt es unendlich viele Möglichkeiten, Kunst, respektive Wissen zu vermitteln. Weil es hier (noch) keine verständliche Sprache gibt, dienen fiktive Wörter als Aufhänger für mögliche „Formate“. Das ist nur eine kleine Auswahl und zu jedem „Format“ gäbe es unzählige Spielformen und Unter- und Schwesterformate; ebenso zwischen den einzelnen hier beschriebenen „Formate“. Die dazu genannten Beispiele aus der Praxis sind nicht repräsentativ.
Avatarism
Tote Autoren, Musikerinnen, Schauspieler, Architektinnen, etc. pp. leben als Facebook-, Twitter-, Instagram-, etc. pp.-Avatare auf. Alle Leute, die sich mit ihnen Befreunden oder ihnen folgen, kriegen einen Einblick in deren Arbeiten, Denken und Leben. Wie bei anderen künstlerischen Interpretationen bestehender Werke (z. B. auf Bühnen), darf auch hier eine „Übersetzung“ stattfinden. Vielleicht schimmert sogar die Person durch, die den Avatar „spielt“. Wenn diese Person mit der Geschichte „seines“ oder „ihres“ Avatars sehr vertraut ist, kann sie versuchen, bei Diskussionen oder Chats mit Facebook-FreundInnen dessen oder deren Sichtweisen und Sprachen zu verwenden. Es wäre jedoch auch denkbar (und fast glaubwürdiger), wenn dabei die Person dahinter sicht-/lesbar würde und dadurch plötzlich ein Austausch „über“ und nicht mehr „mit“ dem Avatar entstünde.
Beispiel: Das Cabaret Voltaire führte vorübergehend Richard Huelsenbeck9 und Emmy Hennings10 als Facebook-Avatare. Hier wurden in erster Linie Zitate und Bilder, aber auch Anekdoten, Lebenssituationen und dergleichen beschrieben. Aus Zeit- und Geldmangel sind diese leider nicht mehr aktiv.
Storyism
Reale Menschen oder Kunstfiguren (oder irgendwo dazwischen) berichten via Blog, Twitter, Facebook, Instagram und dergleichen über ihre Entdeckungen, Erlebnisse und ihr Wirken.
Wie eingangs beschrieben, ist in solchen Formaten der Dialog und das ver(hyper)linken zentral. Eine solche Figur kann nur online existieren, jedoch auch als reale Figur auftauchen und erlebbar werden. In diese „Kategorie“ fallen jedoch zum Beispiel auch Autoren, die ihr feilen an Texten und Wortgebilden, ihr Assoziieren und ihre Inspirationsquellen sichtbar machen. Vielleicht entsteht im Austausch mit einer (kleinen) Teilöffentlichkeit eine neue Schreibform oder der Prozess als solches wird viel relevanter als irgendein abgeschlossenes Werk.
Beispiel: In der konzeptionellen Partynacht „Demo-kratische Republik TamTam“11 gab es ein Einbürgerungs-büro mit einem Einbürgerungsbeamten12. Dieser war jedoch nicht nur in der Clubnacht präsent, sondern auch auf Facebook; und berichtete dort von seinen Ambitionen, Reisen, Sichtweisen zum Thema Migration und Staatenbildung und führte dort kleinen Machtspielchen mit einzelnen Regierungsmitgliedern.
Cloudism
Sammlungen, Stiftungen und Privatpersonen stellen ihre Werke ins Netz und lassen diese beschreiben und bearbeiten. Diese Werkbeschriebe und -remixes können eine „Werkwolke“ oder „Urheberwolke“ bilden (online, aber zum Beispiel auch in einer Ausstellung) und erneut beschrieben und bearbeitet werden. Das kann so weit gehen, dass in dieser Wolke ausgehend von einem Text oder Bild zum Beispiel Pläne für ein Haus oder ein minimaler Eingriff in eine Wohnsituation entsteht. Im Zeitalter des WWW versteht es sich von selbst, dass in jedem einzelnen Beitrag in dieser Cloud das Potential steckt, eine eigenständige Wolke zu bilden.
Beispiel: Das Werk von Paul Klee wäre eigentlich seit 2011 urheberrechtsfrei. Um dies zu feiern,13 suchten das Dock1814 und die digitale allmend15 hochaufgelöste Klee-Werke, wurden jedoch nicht fündig. Nicht mal das mit öffentlichen Geldern finanzierte Zentrum Paul Klee16 war fähig, Klee-Bilder zur Verfügung zu stellen. Daraufhin griffen sie auf ein vorhandenes Tool im Web zurück, das in einer einfachen Form sichtbar macht, wie eine solche Wolke aussehen könnte (in diesem Falle assoziativ durch Fundstücke aus dem Netz geformt); via eine Eingabe von „Paul Klee“ auf der Website www.oamos.com17.
Channelism
Im WahnsinnigWeitenWeb18 gibt es unzählige Kanalformen. Der mit Abstand bekannteste ist jedoch der Youtube-Channel (und Vimeo).
Auch hier wäre es der grösste Fehler, wenn nur ans Senden gedacht würde. Senden = TV/Kino/Theater/Oper/Konzert/Museum. Durch dieses Programm kann gescrollt werden, die einzelnen Beiträge können bewertet und diskutiert werden und im Idealfall gibt es die Möglichkeit, dass Dritte Videoantworten oder -beiträge hinzufügen können.
Zurück zum englischen Begriff „Channel“: Demnach ist es weder Sender noch Kanal, sondern am ehesten ein interaktives Programm oder als Weg oder Flussbett zu verstehen. Beispiel: Volkslesen.tv19 ist kein Youtube-Channel, sondern ein eigenständiges (Video-)Blog. Hier lesen mehr oder weniger zufällig ausgewählte Menschen kurze Ausschnitte aus ihren Lieblingsbüchern vor. Im letzten Jahr war der Initiant und Kurator des Kanals in Zürich20 und hat 55 Zürcherinnen und Zürcher vor der Kamera ihr Passagen lesen lassen.
Platformism
Hier dreht sich alles um den Rahmen oder eben um die Plattformen, wo was wie präsentiert und diskutiert wird.
In den vorhergehenden „Formaten“ ging es darum, dass sie mehr oder weniger von Vermittlerinnen und Vermittlern bespielt, kuratiert oder inhaltlich gelenkt werden. Wenn jedoch alle Künstlerinnen und Künstler, respektive auch Kunstvermittelnde sind, steht schnell die Frage im Raum, welche Präsentations- und Diskursplattformen sie bespielen können.
Am naheliegendsten sind die global bekanntesten Plattformen Youtube, Facebook, Instagram, Soundcloud und verschiedene Blogsysteme. Diese sind in ihrer inhaltlichen Offenheit (im Vergleich zur Bespielbarkeit von Kunstinstitutionen) unschlagbar; mal abgesehen von den zentralistischen und kommerziellen Strukturen dieser Systeme.
Beispiel: Eine thematische Basis muss nicht per se schlecht sein. Im Gegenteil; eine solche kann helfen, um eine neue Plattform zu lancieren. Dabei kann ein bekannterer „Brand“ hilfreich sein. Auf der Social Media Plattform von Lady Gaga21 treffen sich Menschen, die sich gerne selber (als Kunstwerk) inszenieren. Sie tun dies leider viel zu oft viel zu nahe an ihrem Idol; aber es ist ein gutes Beispiel für ein thematisches Setting einer solchen Plattform.
Anythingism
Im Prinzip lässt sich fast unendlich vieles im Netz bauen; vom Game22 über Datenwolken bis hin zu Wissenslandschaften. Und mit etwas Fachkenntnissen sind die unterschiedlichsten Algorithmen der grossen Player im Netz (zuvorderst Google) mehr oder weniger durchschaubar; wodurch sie auch von Nischenplayern für ihre Zwecke benutzt werden können.
Wie in den vorgenannten „Formaten“, setzt auch hier einzig das Budget die Grenzen. Wenn jedoch online glaubwürdig Kunst vermittelt werden soll, dann muss von ähnlichen Budgets ausgegangen werden, wie beim Bauen und betreiben einer Kunstinstitution.
Beispiel: Mit rebell.tv23 betrieb Stefan M. Seydel24 von der Ostschweiz aus ein kleines deutschsprachiges Medienhaus mit Sitzen in Berlin und Wien25 (wegen fehlender Investoren inzwischen leider offline). Rebell.tv verfügte über unterschiedliche Rubriken und Kanäle; vom Kernstück Blog/Vlog über Print und Podcast bis hin zu einem Online-Magazin (btw: DAS26 sagte ich zum Ende von rebell.tv).
Wiederabdruck
Dieser Text erschien zuerst am 31.5.2013 als Blogeintrag unter http://milieukoenig.ch/tagged/neue-formen-der-kunstvermittlung.
1.) http://alogofortheinternet.tumblr.com [3.1.2015]. Alle Links abrufbar via QR-Code am Ende des Textes.
2.) www.kettererkunst.de/lexikon/die-erweiterung-des-kunstbegriffs.shtml [3.1.2015]
3.) http://de.wikipedia.org/wiki/Guckkastenb%C3%BChne [3.1.2015]
4.) http://de.wikipedia.org/wiki/Leinwand_(Begriffskl%C3%A4rung) [3.1.2015]
5.) www.google.ch/search?q=theaterbestuhlung&hl=de&safe=off&tbo=d&tbm=isch&source=lnms&sa=X&ei=GtcDUe2jOsmChQekooHgAw&ved=0CAcQ_AUoAA&biw=1256&bih=779 [3.1.2015]
6.) http://milieukoenig.ch/post/47099330995/weiter-arbeiten-an-den-gleichungen-museum-tv [3.1.2015]
7.) http://milieukoenig.ch/post/47099313300/deshalb-ist-es-besonders-bitter-dass-die-dada-23409 [3.1.2015]
8.) http://de.wikipedia.org/wiki/Elitef%C3%B6rderung [3.1.2015]
9.) www.facebook.com/richard.huelsenbeck1 [3.1.2015]
10.) www.facebook.com/emmy.hennings.5 [3.1.2015]
11.) www.motherland.ch/about [3.1.2015]
12.) http://motherland.ch/about/einbuergerungsbeamter [3.1.2015]
13.) http://allmend.ch/2010/12/1-1-2011-public-domain-jam-neujahresbrunch [3.1.2015]
14.) www.rotefabrik.ch/de/dock18 [3.1.2015]
15.) http://allmend.ch [3.1.2015]
16.) www.zpk.org [3.1.2015]
17.) www.oamos.com/search/?mus=2&lin=2&ati=2&lan=de&que=paul+klee&sliderDiv1_value=6&mus=1&lin=1&ati=1 [3.1.2015]
18.) www.youtube.com/watch?v=WcQbl6bMyeE [3.1.2015]
19.) http://volkslesen.tv/vl [3.1.2015]
20.) http://vimeo.com/56816860# [3.1.2015]
21.) https://littlemonsters.com [3.1.2015]
22.) http://en.wikipedia.org/wiki/Journey_(2012_video_game) [3.1.2015]
23.) http://rebell.tv [3.1.2015]
24.) http://dissent.is/2013/08/18/ueber-diesen-zettelkasten [3.1.2015]
25.) http://medienwoche.ch/2011/02/18/ruhe-in-unruhe-rebell-tv/#more-886
26.) www.kleinreport.ch/news/ich-moechte-den-medienmachern-beim-denken-zusehen-63025.html [3.1.2015]
[Dieser Text findet sich im Reader Nr. 2 auf S. 215.]