Einleitung
Kinder und Jugendliche haben ein Recht auf vollen Zugang zum kulturellen Leben sowie eigene künstlerische und kulturelle Betätigung. Dies ist ein in § 31 der UN-Kinderrechtskonvention verbrieftes Recht.1 Da Schule alle Jugendlichen und Kinder erreicht, kann sie als der zentrale gesellschaftliche Ort verstanden werden, um die Forderung der UN-Kinderrechtskonvention nach kultureller Teilhabe umzusetzen. Aktuell geraten die Schulen darüber hinaus zunehmend unter Druck, eine weitaus flexiblere individuelle Förderung der Kinder und Jugendlichen zu ermöglichen als bisher. Ausgehend von sich immer rasanter vollziehenden gesellschaftlichen und technologischen Veränderungen stehen die Schulen vor keinen geringen Anforderungen: Immer mehr liegt ihre Aufgabe darin, Jugendliche und Kinder zu einem lebenslangen Lernen zu befähigen. Damit rückt das einzelne Individuum mit seinen biografischen, sozialen und kulturellen Ressourcen und Bedürfnissen in den Mittelpunkt der schulischen Bildungsarbeit. Dies verlangt von den Schulen, ihre Flexibilität in Unterrichtsgestaltung und Lehrinhalten, in Leistungsbewertung sowie zeitlichen und räumlichen Rahmenbedingungen radikal auszubauen.
In den Schulen und in der Kulturellen Kinder- und -Jugendbildung hat sich deshalb das gemeinsame Interesse entwickelt, bisher unverbundene Arbeitsansätze – ganz im Sinne einer Kultur eines gerechten Aufwachsens – stärker aufeinander zu beziehen und damit Jugendlichen und Kindern verbesserte Ausgangsbedingungen für eine gelungene Bildungsbiografie und die Entwicklung ihrer Persönlichkeit zu bieten. Wem die Aufgabe gelingen will, die ästhetisch-kulturelle Dimension in allen Bereichen des Schullebens zu stärken, dem/der stellen sich zwei zentrale Herausforderungen. Zum einen müssen ästhetische und künstlerische Praxis für die in den Schulen arbeitenden Fachkräfte als tatsächlicher Mehrwert für ihre tägliche Arbeit erfahrbar werden. Zum anderen setzt dies eine Veränderung der schulischen Rahmenbedingungen voraus. Diese bezieht sich auf alle Ebenen der Schule: Auf die Lehr- und Lernsituationen im Unterricht ebenso wie auf den sogenannten „geheimen Lehrplan“. Sie betrifft die organisatorischen und strukturellen Rahmenbedingungen ebenso wie die Vernetzung der Schule im Sozialraum, ihre Haltung zu externen ExpertInnen und die Qualifizierung des Schulpersonals.
Wenn von der Annehmbarkeit kultureller Angebote für Schulen die Rede ist, dann muss daher berücksichtigt werden, dass sich Handlungsstrukturen in einer Schule sowohl aus den jeweils gültigen Schulgesetzen bzw. Schulformen als auch aus ihren gesellschaftlichen Funktionen der Qualifikation, Sozialisation, Selektion, Allokation und Legitimation2 ableiten. Genauso muss jedoch beachtet werden, dass jede Schule über eine eigene Schulkultur verfügt. Jede Einzelschule tritt in ihrer vielfältigen strukturellen und kulturellen Einbettung mit einer eignen Schulidentität auf. Sie ist das Produkt einer aktiven, fortlaufenden Identitätsarbeit der schulinternen Akteure und realisiert sich über Haltungen, Mentalitäten, Werte, Arbeitsweisen und Strukturen. Max Fuchs verweist auf das zentrale Gelingenskriterium für jede wirksame Schulentwicklung: „Die Einzelschule muss Subjekt und Objekt eigener Gestaltungs- und Entwicklungsprozesse sein: Die Schule besteht aus einer Vielzahl von internen Akteursgruppen (Mikropolitik), sie agiert aber auch selbst in ihrem Kontext als eigenständiger Akteur“3. Die Aufgabe einer wirksamen Schulentwicklung ist es daher, gleichermaßen für die in der Schule handelnden Menschen und für die Institution selbst, Möglichkeiten der Selbstreflexion und Weiterentwicklung zu schaffen. Schulentwicklung bedeutet daher in diesem doppelten Sinne immer Identitätsbildung.
Die Antwort auf die Frage, wie die Voraussetzungen für die Annehmbarkeit von Kultureller Bildung an Schulen verbessert werden können, ist demnach unmittelbar an die Lernprozesse der jeweiligen Schulkultur gebunden. Dass dies die gesetzgebenden und steuernden Ebenen in den Ländern und Kommunen jedoch nicht davon entbindet, entsprechende Voraussetzungen für mehr Kulturelle Bildung an Schulen zu schaffen, verdeutlicht das Qualitätstableau für Kulturelle Schulentwicklung der Bundesvereinigung Kulturelle Kinder- und Jugendbildung.4 Es bietet eine komprimierte Übersicht zu allen beteiligten Handlungsfeldern und Akteuren.
Kulturelle Bildung in der Schonraumfalle
Das Bemühen, die Erweiterung des schulischen Bildungsangebots durch kulturelle Bildungspartnerschaften nachhaltig abzusichern, zielt in der Praxis häufig auf eine Verzahnung, die eine friedliche Koexistenz der beiden Bildungswege ermöglichen soll. In diesem Umgang mit der Unterschiedlichkeit der beiden Bildungsformen liegt jedoch eine zentrale Barriere für die Entwicklung einer neuen Lernkultur in der Zusammenarbeit von Kultur und Schule. Im Sinne einer Integration eines willkommenen Anderen/Fremden, bemühen sich die VertreterInnen der Schule in der Regel, temporäre Schonräume einzurichten, innerhalb derer ein künst-lerisches Arbeiten der Kooperationspartner mit den -Kindern und Jugendlichen ermöglicht wird. Dieses Einräumen von Sonderspielräumen bedeutet für die beteiligten LehrerInnen, ihre unmittelbaren KollegInnen und letztlich das gesamte System innerhalb der Schule eine erhöhte Anstrengung. Darüber hinaus beinhaltet dieser Umgang zugleich eine Unterscheidung zwischen den „zusätzlichen“ Kunst- und Kulturprojekten und der „eigentlichen“ Schulidentität. Die künstlerischen und kulturellen Lernräume bleiben auf diese Weise von den schulinternen Entwicklungsprozessen strukturell getrennt. Eine verbesserte Annehmbarkeit von Kultureller Bildung an Schulen verlangt daher einen grundlegenden Perspektivenwechsel: Die Bedeutung der ästhetisch-künstlerischen Praxis liegt nicht nur in der Erweiterung der schulischen Bildungsarbeit durch Kooperationsprojekte. Vielmehr geht es darum, sie als zentrale Dimension des Schullebens zu etablieren, von der aus die gesamte Organisationsentwicklung wie auch die Unterrichts- und Personalentwicklung stattfinden. Diese Perspektive bedeutet, dass ästhetisch-kulturelle Praxis nicht nur zur „Kultivierung“ der Kinder und Jugendlichen eingesetzt wird. Sie verdeutlicht gleichermaßen das Ziel der Schule, sich durch ästhetisch-künstlerische Praxis selbst zu kultivieren.5
Eckpunkte für ein kulturelles Schulprofil
Ein solcher Prozess der „Selbstkultivierung“ einer Schule kann in ein kulturelles Schulprofil einmünden, für das sich elf Eckpunkte beschreiben lassen.
– Alle SchülerInnen haben regelmäßig qualitativ hochwertige Möglichkeiten zu eigener künstlerisch-ästhetischer Praxis.
– KünstlerInnen, außerschulische KulturpädagogInnen und KulturmanagerInnen gestalten als Bildungspartner gemeinsam mit LehrerInnen Unterricht. Außerhalb des Unterrichts gibt es zahlreiche Angebote künstlerischer Arbeitsgemeinschaften, die von den SchülerInnen gemeinsam mit schulischen und außerschulischen ExpertInnen umgesetzt werden.
– Alle künstlerischen Fächer werden von ausgebildeten Fachkräften unterrichtet und kontinuierlich für alle SchülerInnen angeboten.
– Kulturell-ästhetische Lernwege sind Bestandteil auch aller nichtkünstlerischen Schulfächer. Neben der Integration der Künste als Medien des Lernens und Forschens sind Prinzipien der kulturellen Bildung, wie z. B. Selbstwirksamkeit, Partizipation und Stärkenorientierung, Kernbestandteile einer neuen Lernkultur.
– Der Stundenplan ist so gestaltet, dass längere Zeit und fächerübergreifend an einem künstlerischen Vorhaben gearbeitet werden kann. Kulturell-ästhetische Bildungsangebote sind nicht ausschließlich auf den Nachmittagsbereich verschoben. Im Sinne eines umfassenden Bildungskonzepts rhythmisieren Unterricht und kulturelle Angebote einander ergänzend als gleichberechtigte Lernformen den Schultag.
– Es sind Räume mit entsprechender Ausstattung vorhanden, die ein Arbeiten im Medium der Künste ermöglichen. Dies betrifft sowohl Arbeits- als auch Aufführungsräume.
– Neue Lernorte und Erfahrungsräume werden in das Bildungskonzept integriert. SchülerInnen und LehrerIn-nen nutzen regelmäßig die Räume und das Angebot der Einrichtungen vor Kultureinrichtungen vor Ort sowohl im Rahmen des Unterrichts als auch im Rahmen nichtformaler kultureller Angebote der Schule.
– Nicht nur im Unterricht und Ganztagsbereich wird eng mit Kultur- und Kunsteinrichtungen im Stadtteil oder der Kommune zusammengearbeitet. Die Schule ist auch selbst ein offener Ort der Begegnung und Präsentation.
– Kulturschulen verfügen über ein Lehrpersonal, dass sowohl über kulturell-ästhetische Kompetenzen als auch über die Fähigkeit verfügt, gemeinsam mit außerschulischen ExpertInnen ein ganzheitliches Bildungsangebot umzusetzen.
– Alle Mitglieder der Schulgemeinschaft sind an der Gestaltung des Schullebens aktiv und wirksam beteiligt. Für die Gestaltung von Beteiligungsprozessen werden Methoden aus Kunst und Kultur als Reflexions-, Ausdrucks- und Entwicklungswege genutzt.
– Die Schule nimmt das Subjekt in seiner Wahrnehmungs-, Gestaltungs- und Kommunikationsfähigkeit ernst, indem sie über eine Architektur verfügt, die -Begegnung ermöglicht und Kreativität anregt. Auch dies macht die Schule für alle sich in ihr bewegenden Menschen zu einem guten Ort des Lernens, Arbeitens und Lebens.
Auf dem Weg zur Kulturschule
Wenn also eine nachhaltige und wirksame Veränderung der schulischen Rahmenbedingungen als Prozess der Identitätsbildung jeder Schule stattfindet, dann sind Wertschätzung und Partizipation aller Beteiligten – Schulleitung, LehrerInnen, SchülerInnen, Eltern, Verwaltungspersonal, HausmeisterInnen, päd. Fachkräfte und KulturpartnerInnen – die Voraussetzung. In Anlehnung an den „Index für Inklusion“6 lassen sich fünf Fragen formulieren, an denen sich der Prozess einer kulturellen Schulentwicklung orientieren kann:
– Was sind Barrieren für ein Lernen mit Kunst und Kultur in unserer Schule?
– Für wen ergeben sich in unserer Schule Barrieren für ein Lernen mit Kunst und Kultur?
– Was kann dabei helfen, Barrieren für ein Lernen mit Kunst und Kultur in unserer Schule zu überwinden?
– Welche Ressourcen sind in unserer Schule vorhanden, um Lernen mit Kunst und Kultur zu unterstützen?
– Wie können zusätzliche Ressourcen mobilisiert werden, um Lernen mit Kunst und Kultur in unserer Schule zu unterstützen?
Die besondere Qualität dieser Fragen besteht nicht nur darin, dass sie alle in der Schule handelnden Menschen einbezieht. Sie ermöglichen darüber hinaus einen veränderten Umgang mit der Unterschiedlichkeit von -Kultur und Schule, indem sie die Unterschiede als Möglichkeit zu Weiterentwicklung des Schullebens aufgreifen.
Damit die Einbindung der Kunst- und Kulturprojekte in den Prozess der Identitätsbildung der jeweiligen Schule gelingen kann, sind demnach entsprechende Grundwerte und Handlungsprinzipien zu berücksichtigen, in deren Zentrum das Verständnis von Bildung als Prozess der Selbstkultivierung steht7:
– Die Schule wird als fortlaufend lernende Organisation verstanden, wobei es – gerade bei dem Prozess der kulturellen Schulentwicklung – um kulturelles Lernen mit den Mitteln der Kunst geht.
– So wie sich die Bildung des/r Einzelnen als ein Prozess der Kultivierung vollzieht, so ist auch der Prozess der Schulentwicklung ein Prozess der Selbstkultivierung der Institution.
– Im Prozess der kulturellen Schulentwicklung müssen im Sinne der Inklusion die Lernprozesse der Individuen und der Institution als einander bedingend berücksichtigt werden.
– Kulturelle Schulentwicklung wird als ein partizipativer Prozess gestaltet, der die Erfahrungs- und Mitgestaltungsmöglichkeiten aller intensiviert.
– Nicht nur die Organisation der Einzelschule ist als ein soziales System zu verstehen. Auch der/die Einzelne muss im Prozess der Schulentwicklung im Wechselspiel der verschiedenen Persönlichkeitsdimensionen (Kognition, Emotion etc.) berücksichtigt werden.
– Der Prozess der „Selbstkultivierung“ der Schule verlangt einen schulinternen Prozess der Selbstreflexion der eigenen Schulkultur als symbolische Ordnung, die das Handeln der sich in der Schule bewegenden Menschen beeinflusst und die zugleich von ihnen gestaltet wird. Hierbei benötigen Schulen eine Moderation und Beratung durch qualifizierte Fachkräfte.
– Weil der Prozess der kulturellen Schulentwicklung eine Einbindung der Kunst- und Kulturprojekte in die Identitätsarbeit der Schule beabsichtigt, erfolgt er von Beginn an unter Einbeziehung ästhetisch-künstlerischer Zugänge.
Wiederabdruck
Dieser Text erschien zuerst in: Bockhorst/Reinwand/Zacharias (Hg.), Handbuch Kulturelle Bildung. München 2012.
1.) Bundeszentrale für politische Bildung, Menschenrechte. Dokumente und Deklarationen. Bonn 2004, S. 178.
2.) Vgl. Helmut Fend, Theorie der Schule. München/Wien/Baltimore 1980.
3.) Max Fuchs, Tom Braun, „Zur Konzeption und Gestaltung einer kulturellen Schulentwicklung“, in: Tom Braun (Hg.), Lebenskunst lernen in der Schule. Mehr Chancen durch Kulturelle Schulentwicklung. München 2011, S. 228–260, hier S. 249; vgl. Helmut Fend, Schule gestalten. Systemsteuerung, Schulentwicklung und Unterrichtsqualität. Wiesbaden 2008.
4.) Abbildung abrufbar via QR-Code am Ende des Textes.
5.) Vgl. hierzu auch Eckart Liebau, „Schulkünste“, in: Eckart Liebau, Leopold Klepacki, Jörg Zirfas (Hg.), Die Kunst der Schule. Über die Kultivierung der Schule durch die Künste, Bielefeld 2009, S. 47–65.
6.) Deutschsprachige Ausgabe: Ines Boban, Andreas Hinz, Index für Inklusion. Lernen und Teilhabe in Schule der Vielfalt entwickeln, o. O. 2003. www.inklusionspaedagogik.de/content/blogcategory/19/58/lang,de [20.12.2011]
7.) Nach Fuchs/Braun 2011, a. a. O., S. 249f. und Tom Braun, Max Fuchs, Viola Kelb, Auf dem Weg zur Kulturschule I. Bausteine zu Theorie und Praxis der Kulturellen Schulentwicklung. München 2010, S. 101.
Literatur
Tom Braun, „Inklusion als systematischer Ansatz einer Kulturellen Schulentwicklung“, in: Ulrike Stutz (Hg.), Kunstpädagogik im Kontext von Ganztagsbildung und Sozialraumorientierung. Zu einer strukturellen Partizipation in der kunstpädagogischen Praxis. München 2013.
Tom Braun (Hg.), Lebenskunst lernen in der Schule. Mehr Chancen durch Kulturelle Schulentwicklung. München 2011.
Tom Braun, Max Fuchs, Viola Kelb, Brigitte Schorn, Auf dem Weg zur Kulturschule II. Weitere Bausteine zu Theorie und Praxis der Kulturellen Schulentwicklung. München 2013.
Olaf-Axel Burow, Positive Pädagogik. Weinheim 2011.
Adriana Büchler, Elisabeth Karrer, Jörg Jaberg (Hg.), Schule muss schön sein. Facetten des ästhetischen Bildungsauftrags. München 2007.
Max Fuchs, Die Kulturschule. Konzept und theoretische Grundlagen. München 2012.
Michael Göhlich, System, Handeln, Lernen unterstützen. Eine Theorie der Praxis pädagogischer Institutionen. Weinheim/Basel 2001.
Werner Helsper, Jeanette Böhme, Rolf-Torsten Kramer (Hg.), Schulkultur und Schulmythos. Opladen 2001.
Burkhard Hill, Tom Biburger, Alexander Wenzlik (Hg.), Lernkultur und kulturelle Bildung. München 2008.
Viola Kelb, Kultur macht Schule. Innovative Bildungsallianzen – Neue Lernqualitäten. München 2007.
[Dieser Text findet sich im Reader Nr. 2 auf S. 52.]