Vielleicht steht demnächst eine Auseinandersetzung der Kunst mit all den Schulden an, dem Verkauf der Zukunft der kommenden Generation.
Das Problem: Die doppelte Ökonomie ist am Ende. Der ungeheure Gnadenschatz aus dem Opfer Christi ist aufgeklärt. Der Papst ist in dieser Hinsicht pleite. Er hat nichts mehr zu verteilen bzw. Scheine auszustellen auf die Ewigkeit, wo alles, was nicht aufging, ausgeglichen werden kann.
Diese Funktion haben die Europäische Kommission und die Europäische Notenbank übernommen. Der trauen aber die Ratingagenturen nicht. Der Glaube (Kredit) wankt.
Die Zukunft ist verkauft, vorwiegend die Zukunft der Kinder, nachdem schon die Vergangenheit in deren Prozessform als symbolisches und kulturelles Kapital vom ökonomischen Kapital nicht mehr pfleglich neu erzeugt wird. Man könnte die gegenwärtig in Machtpositionen Sitzenden als Vampire bezeichnen, natürlich von der vegetarischen, jedenfalls humanistischen Sorte.
Die Frage bleibt: Wohin mit der Schuld, den Schulden, mit allem, was nicht aufging, daneben ging? Kann man Ansprüche an andere verzinslich anlegen? Also Ansprüche, die immer mehr werden, auch über den Tod der einzelnen Individuen hinaus? Geht das über den Umweg über den Staat? Muss in diesem Prozess eine neu entwickelte Form des Krieges gesehen werden?
Die Pädagogik hatte noch die Unversehrtheit, Reinheit, Unschuld der Kinder zu bieten. Aber auch die ist gefährdet, nach den Einsichten von Freud in die kindliche Sexualforschung. Es gelingt nicht richtig, deren Unversehrtheit und Unschuld zu bewahren, obwohl sich die Erzieher und Lehrer immer weiter von ihnen entfernen, schon die Neugeborenen zu kompetenten Menschen erklären, dann nur noch Moderatoren von Unterrichtsprozessen werden, damit die Kinder nicht durch Ein- und Übergriffe verdorben werden. Sich einzumischen, Stellung zu beziehen, Ausrichtungen vorzuschlagen, vielleicht auch mit Nachdruck, das scheint zu sehr die Gefahr, schuldig zu werden, zu erhöhen. Dann doch lieber diese abstrakten Schulden.
Was tun mit der Schuld?
Da gibt es einen Künstler, Adel Abdessemed, der mit einer Ausstellung behauptet: „Je suis innocent“ (Centre Pompidou, 3.11.2012 – 7.1.2013). Man kann übersetzen: „Ich bin unschuldig“ oder „Ich weiß von nichts“ oder auch noch wörtlicher „Ich bin unschädlich“. Die Arbeit, die man beim Betreten direkt sieht, le cheval de turin (2012), ist ein nach hinten ausschlagendes Maultier, das mutmaßlich seinen Reiter abgeworfen hat. Das Ereignis hatte ihn irritiert. Der Reiter, so könnte man sich vorstellen, ist schon abtransportiert. Der Beobachter hat keine Schuld daran, könnte man vermuten. Dennoch: Es ist ein Schaden entstanden. Den lässt Abdessemed ahnen. Nehmen wir an der weiße, unschuldige Maulesel sei schuld, dann kann von ihm nicht erwartet werden, dass er das wieder in Ordnung bringt. Von wem könnte das erwartet werden?
Und dann noch diese Arbeit: hope (2011). Zu sehen ist eines dieser Flüchtlingsboote, die zwischen Nordafrika und dem europäischen Festland die Tendenz haben umzukippen und die Insassen ertrinken zu lassen. Auch daran ist Abdessemed direkt nicht schuld, die meisten der Betrachter auch nicht. Im Hintergrund die Leidensfigur des ausgehenden Mittelalters, Jesus vom Isenheimer Altar, gemalt von Matthias Grünewald, hier übersetzt in Serie, geformt aus versilbertem Stacheldraht.
Aus der Ausstellung kann man herauslesen, dass Schuld und Schulden zum Darstellungsproblem werden, zum Ausruf des Künstlers stellvertretend für andere führt: Ich bin unschuldig. Ich habe es nicht getan. Dennoch wird das Faktum dargestellt, benannt, in einen Diskurs gebracht, ein soziales Band, so dass die Schuld vielleicht nicht verdruckst verschwiegen werden muss und keine Artikulation findet.
Ohne Artikulation entstünde eine gewaltige, unartikulierbare Bindung. Schuld plus sozusagen in Form von Schuldgefühlen, klebrig, ruhigstellend, bis zur ekligsten Depression oder auch Burnout. Selbsttätige Ruhigstellung oder Brandopfer, weil man sonst schreien müsste, sich an den Grenzen der Darstellbarkeit durch Schrift, Künste, andere Eingriffe, auch der aggressiven Art, abarbeiten müsste. Die Künste könnten zu Aufenthaltsräumen und Artikulationszeiten werden für das, was nicht aufgeht, wo niemandem als einzelnem Individuum eine Schuld zugesprochen werden kann, es dennoch Verfehlen gibt. Und diese Raumzeit würde sich dadurch auszeichnen, dass es da keine Verurteilungen gibt, dennoch aber viele Entscheidungen, z. B. die Entscheidung, Ungerechtes, Unpassendes wahrzunehmen und darzustellen, obwohl man ohnmächtig zu sein scheint.
Kunst als Experimentierfeld für den Umgang mit Schuld und Leid.
[Dieser Text findet sich im Reader Nr. 1 auf S. 419.]