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Brief an einen Freund

Carolyn Christov-Barkargiev / 2010

Mein lieber Freund,

nun bin ich schon zwei Jahre von zu Hause fort und hätte Dir so viel zu erzählen. Aber der Austausch von Informationen ist heute nicht mehr der vordergründige Zweck jeder Kommunikation. Darf ich Dich fragen, wo Du dies liest und ob es Dir gut geht?
Als ich im Internet einmal nach Anregungen für meine tägliche Übung, Dir zu schreiben, suchte, stieß ich auf eine Geschichte vom Ursprung der Menschheit, die ich mit Dir teilen möchte. Bevor ich Dir diese Geschichte jedoch erzähle, möchte ich, vielleicht um Zeit zu gewinnen, einige weitere Dinge zur Sprache bringen.
Ich erinnere mich, wie Du mir vor einiger Zeit von einem Orangenbaum schriebst, der, mitten auf einem Feld am Rande einer modernen Stadt stehend, das ganze Jahr hindurch Früchte trug, und obwohl die Orangen von Jahr zu Jahr kleiner wurden, fällte niemand diesen Baum, so dass kein Unternehmer an dieser Stelle bauen konnte, was das Grundstück ebenso magisch auflud wie wertlos machte. Die Geschichte, die ich auf der Website las, während ich nach Inspiration für eine eigene suchte oder vielleicht auch nur meiner Verpflichtung auswich, eine von Grund auf neue Geschichte zu erfinden, handelte vom Beginn der Welt: Damals gab es eine riesige graue Wolke, aus der es unter Donnern und Blitzen regnete. Die Wolke berührte die Spitzen der hohen Bäume. Am Tag nach dem Sturm hatten sich Adler – oder waren es vielleicht Falken? – auf den Wipfeln dieser Bäume niedergelassen. Einer der Vögel breitete seine Schwingen aus, flog zu Boden und verwandelte sich dort in einen Menschen. Weitere folgten, und so entstand die Menschheit. Mit der Zeit vergaßen die Menschen ihr früheres Vogel-leben, diejenigen jedoch, die sich noch daran erinnern, wissen, dass Flügel über zwei Seiten verfügen – besäßen sie nur eine Seite, so könnte man nicht mit ihnen fliegen. Die eine Seite beherbergt Geist (Verstand), Körper (Bewegung) und Seele (Gefühl). Wenn diese drei Aspekte ein Gleichgewicht bilden, ist auch eine Person als Individuum ausgewogen. Die andere Seite des Flügels ist Träger dreier weiterer Elemente: Gesellschaft (Praxis: Politik und Judikative), Prozess (der Lebenslauf einer Person) und Zeremonie (der gemeinschaftliche Tanz). Wenn diese drei Aspekte ausgeglichen sind, befindet sich die jeweilige Person im Gleichgewicht mit anderen. Wenn beide Seiten ihrer Schwingen sich ebenfalls in einer Balance befinden, fliegen die Adler. Eigenartigerweise jedoch scheint sie all das nicht zu kümmern. Sie fliegen einfach.
Ich sollte Dir an dieser Stelle etwas über die documenta, genauer gesagt über die dOCUMENTA (13) berichten: was Dich bei der Ankunft in Kassel in anderthalb Jahren erwarten wird, wo man übernachten und essen kann, wo die Kunstwerke zu finden sein werden und von wem sie stammen. Zuvor jedoch bitte ich um Nachsicht für einen weiteren Aufschub und die mangelnde Kommunikation zu diesem Thema, dem ich allerdings höchste Beachtung schenke, und zwar derart, dass es zunächst erforderlich ist, nochmals abzuschweifen.
Deine Intuition trügt Dich nicht. Die dOCUMENTA (13) ist meiner Ansicht nach mehr als eine Ausstellung und gleichzeitig keine Ausstellung im üblichen Sinne – sie ist eine Geistesverfassung. Ihre DNA unterscheidet sich von der anderer internationaler Ausstellungen zeitgenössischer Kunst insbesondere dadurch, dass sie nicht aus den Handelsmessen oder Weltausstellungen des kolonialen 19. Jahrhunderts hervorging, welche die Wunder der Welt in die alten europäischen Zentren trugen. Vielmehr ging die documenta nach dem Zweiten Weltkrieg aus einem lokalen Trauma hervor, in dem sich gleichermaßen Zusammenbruch und Neubeginn mani-festiert. Sie entstand an der Schnittstelle, an der die wesentliche Bedeutung der Kunst im Sinne einer allgemein gültigen internationalen Sprache und eines Universums gemeinsamer Ideale und Hoffnungen erkannt wurde (was impliziert, dass die Kunst tatsächlich eine wesentliche Funktion innerhalb gesellschaftlicher Prozesse bei der Wiederherstellung einer bürgerlichen Gesellschaft und innerhalb von Heilungs- und Regenerationspraktiken übernimmt) und an der die Kunst noch während der sogenannten Spätmoderne als nutzloseste unter allen möglichen Handlungen (im Rahmen des überlieferten Begriffs von der Autonomie der Kunst) galt. Am Schnittpunkt dieser beiden Bereiche, an dem die gesellschaftliche Funktion der Kunst und ihre Autonomie aufeinandertreffen, sind – im Guten wie im Schlechten – „les enjeux de l‘après-guerre“ und die westliche Politik Mitte des 20. Jahrhunderts anzusiedeln, die auch in der documenta ihren Ausdruck fanden.
Kassel war einst ein entscheidendes politisches Zentrum (als Sitz des Landgrafen und Kurfürsten von Hessen) wie auch wirtschaftlicher Knotenpunkt (mit Bismarck wurden hier im 19. Jahrhundert Lokomotiven, Waggons und Rüstungsgüter gefertigt, was zur Bombardierung Kassels in den 1940er Jahren führte). Kurz, Kassel war eine Stadt, deren traumatische Vergangenheit während ihres Wiederaufbaus von den 1950er bis in die 1970er Jahre größtenteils ausgelöscht wurde. Die Weltwirtschaftskrise Ende der l920er Jahre führte 1933 zur Machtergreifung der Nationalsozialisten. Vor dieser Krise konnte man keinesfalls selbstverständlich annehmen, dass die deutsche Moderne zusammenbrechen und in Totalitarismus und Krieg münden würde. Die documenta entstand zu einer Zeit, als sich die formale und ästhetische Freiheit der Nachkriegsabstraktion parallel zur Wiederherstellung einer liberalen Wirtschaftsordnung entwickelte. Heute dagegen bietet die documenta eine Plattform, auf der die drastischen, häufig negativen Folgen einer allzu liberalen Ökonomie mit den Mitteln der Kunst beziehungsweise Kultur verhandelt werden.
Die Verwandlung einer Ausstellung in eine sinnstiftende Erfahrung für die Besucher ist kompliziert. Niemals existiert an einem gegebenen Ort zu einer gege-benen Zeit nur ein homogenes Publikum. Es gibt vielfältige Publikumsgruppen: die kultivierteren und mit der sogenannten „hohen Kunst“ vertrauten Besucher, diejenigen, die als Flaneure zufällig den Weg in die Ausstellung finden, diejenigen, die die Kunst als den letzten Freiraum für Aktivismus erachten, die lokale Kunstwelt, die internationale, globale oder transnationale Kunst-„Sippe“, die zahlreichen Kunstwelten, die nur auf indirektem Wege von der Ausstellung erfahren, diejenigen, denen Kunst verdächtig ist, Menschen aus verschiedenen Gemeinschaften und mit verschiedenem kulturellen Hintergrund, Menschen mit völlig unterschiedlichen Qualitätsbegriffen. Daher lässt sich eine Ausstellung als Netzwerk mehrerer Ausstellungen verstehen, die unaufhörlich abwechselnd in den Vorder- oder Hintergrund treten, manche sichtbar, manche unsichtbar und manche erst viele Jahre nach einem solchen Ereignis sichtbar.
Das Aufkommen der Kunstausstellung hat ihren Ursprung in der Idee der „Öffentlichkeit“, wobei die ersten öffentlichen Museen gegen Ende des 18. Jahrhunderts entstanden (British Museum, Fridericianum, Louvre), mit früheren Wurzeln in der Zeit der Renaissance wie den Kapitolinischen Museen in Rom und den Uffizien in Florenz. Die Kreuzung dieses öffentlichen, pädagogisch-staatsbildenden Konzepts der öffentlichen Ausstellung mit den Handelsmessen und Weltausstellungen der Kolonialzeit brachte die Salons hervor – alljährlich im Frühjahr in Paris stattfindende, öffentlich zugängliche Ausstellungen von zweitausend und mehr Gemälden. Erst im 20. Jahrhundert allerdings wurde das Ausstellungsformat sowohl zum Ort für die Präsentation von eigens zu diesem Anlass produzierten Kunstwerken als auch zum Material dieser Werke selbst, wie Futurismus, Dada und Surrealismus, Beispiele aus dem frühen 20. Jahrhundert, belegen. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in den späten 60er Jahren, gerade einmal etwas über ein Jahrzehnt nach der ersten documenta von 1955, wurde die Ausstellung (ihr Konzept, ihre Orte, ihr Aufbau) zum Gegenstand ihrer selbst. Für Künstler, Kritiker und den neu entstehenden Berufsstand des Kurators dient die Ausstellung in stärkerem Maße als für die breite Öffentlichkeit einer Untersuchung von Wahrnehmungen, Ideen, Verstehen und Wissen. In ihrer Verbindung aus Theater, Ausstellungs- und Phänomenologiegeschichte, Wahrnehmungstheorie, Psychologie und dem Denken der späten 1960er Jahre war die zeitgenössische Gruppenausstellung vom Zusammenwirken von Kuratoren und Künstlern geprägt, die „die Präsentation präsentierten“ und sich mit der Erfahrung der Kunstbetrachtung und dem darin enthaltenen sozialen beziehungsweise radikalen Potenzial als Gegenstand ihrer Arbeit beschäftigten.
Die Frage, die sich heute stellt, ist ebenso schwierig wie komplex, und ich kann schon deshalb wenig hierzu beizutragen, da ich gerade so sehr mit anderen Dingen beschäftigt bin, wie Du Dir denken kannst. Ich schlage vor, wir kommen später darauf zurück. Ich kann an dieser Stelle nur so viel sagen, dass sich einerseits eine Art Manierismus der Ausstellung herausgebildet hat, was mitunter zu einer Neutralisierung bestimmter Inhalte und zu einer Entbehrlichkeit oder Austauschbarkeit bestimmter Arbeiten führt. Andererseits ist die in einer Ausstellung verkörperte Eigenschaft des Sich-Versammelns, das Zelebrieren einer „wirklichen“ Begegnung, zu einem performativen Ritual geworden, das sich der atomisierten, molekularen Ordnung menschlicher Transaktionen im digitalen Zeitalter zu einem solchen Grad widersetzt, dass dieser überholte Gegenstand des 20. Jahrhunderts, die Ausstellung, bei seiner Verwandlung in einen nichtkommerziellen Ort intensiver Gemeinschaft zu neuem Leben erweckt wird.
Es gibt unzählige mögliche Formen des Abschweifens, der Zeitverschwendung oder des Diebstahls an der Produktivzeit der neuen Arbeitsplätze – neue Orte, die sich durch eine Art erzwungener Freiheit auszeichnen –, an denen Arbeitnehmer nachmittags Tischtennis spielen oder mit Audio-/Video-Schnittprogrammen herumexperimentieren müssen, weil es sich bei unserer Welt vorgeblich um eine generell kreative handelt. Es ist keine Zeit mehr für jene alte Fließbandarbeit, für das Auflesen von Steinen oder das Sammeln von Saatgut. Wir sind heute viel zu sehr damit beschäftigt, neue Ideen auf dem Gebiet immaterieller Arbeit hervorzubringen, um uns mit derartigen Dingen zu befassen.
Dein Instinkt trügt Dich nicht, mein Freund: Ich habe das ironisch gemeint. Ich bin dafür, die Grenzen der Disziplinen und Wissensbereiche aufzuheben, insbesondere da das Sammeln und Speichern von Daten, das digitale Archivieren und Vergleichen von Daten, ja selbst Abbildungsverfahren heute zu einem Wandel innerhalb der Wissenschaften, der Kunst und des Bewusstseins führen. Ich bin der Ansicht, dass Verfahrensfragen ebenso aussagekräftig, wenn nicht aussagekräftiger sind als der sogenannte Inhalt oder das Thema eines künstlerischen Projekts – wie man Wirkung erzielt und wie man sich zu anderen verhält, wie man als Künstler vorgeht oder wie man als Teil des Publikums agiert. Auch wenn der zur Erzielung eines Ergebnisses genutzte Prozess möglicherweise ein „kreativer“ ist, erscheint es mir wichtig, diesen Prozess nicht selbst in ein Produkt zu verwandeln. Folglich bin ich keine große Verfechterin der sich abzeichnenden dominanten unkritischen Ideologie der Kreativität.
Wir sollten uns heute daher beide sehr genau mit dem Problem befassen, wie Künstler, Kulturproduzenten und Intellektuelle innerhalb der sich auf der Grundlage des Austauschs von Wissensprodukten entwickelnden Ökonomie und Hegemonie verfahren können. Dies allerdings würde uns zu einer langen Abschweifung und zahlreichen Schriften und Theorien anderer führen, und vielleicht möchtest Du kurz mit der Lektüre innehalten, bevor wir fortfahren.
Ich warte auf Dich.
(Wenn Du allerdings über diese Fragen reden möchtest, sollten wir vielleicht gemeinsam über unsere heu-tige Welt nachdenken, in der sich die Menschen an plötzliche Veränderungen, an das Ungewöhnliche und Unerwartete gewöhnt haben; eine Realität, die sich ständig erneuert und bei der die Unterscheidung zwischen einem stabilen „Innen“ und einem ungewissen, tellurischen „Außen“ verschwimmt, eine Welt des „Sich-nicht-zu-Hause-Fühlens“, der Heimatlosigkeit. Einige Denker schlagen Exodus und Rückzug als Widerstandsmodi gegenüber diesem Zustand vor. Die dOCUMENTA (13) schlägt Paradoxe vor, Wege des Sprechens ohne Sprache, des Handelns ohne Handlung und eine archäologische Perspektive, nach der jedes fortschreitende kulturelle Projekt auf einem rückwärtsgewandten Blick, auf einer ökologischen Beziehung zur Vergangenheit beruhen kann und sich selbst in einem Spiel mit dem Mangel und einer Präsentation desselben unablässig entflieht.)
Danke, dass Du wieder da bist.
Ich bin in den vergangenen zwei Jahren viel gereist und habe zahlreiche Künstler, Autoren, Wissenschaftler, Anthropologen, Archäologen, Umweltschützer, Philosophen und Aktivisten getroffen. Ich habe verschiedenste Orte besucht, kleine und große, nahe und ferne, allein oder mit Freunden. Vieles beruht auf Vertrauen und gemeinsamen Spaziergängen, manches auf Gesprächen. Ich war mit Chus in Brasilien, wo wir mit Künstlern japanisch essen gingen. Außerdem besuchten wir die Enkelin einer berühmten Malerin aus den 1920er Jahren – deren Name mir gerade entfallen ist – und -unterhielten uns in Rio mit Eduardo über Multinaturalismus. Wir schwelgten in Erinnerungen an unsere vorangegangene Reise nach Helsinki und an unsere intensiven Diskussionen mit Mika, Erkki, Perttu, Lars, Joasia und Alex über die Geburt des Computerzeitalters, angefangen mit den 1950er Jahren bis in die 1980er Jahre. Nur wenige Monate zuvor waren Andrea und ich zusammen mit Mario, Mick, Francis, Mariam, Kadim und Tom zu Forschungszwecken nach Kabul, Herat und Bamiyan gereist, und ich erinnere mich an die zahlreichen erhellenden Gespräche dort mit Jolyon und Ajmal und Aman und Ashraf und Rahraw sowie an die Großzügigkeit der afghanischen kulturellen Community. Wir sprachen darüber, dass sich die Geschichte wiederholt und doch nicht wiederholt, über Globalisierung, Internationalismus und die mögliche Rolle von Kunst und Kultur im Rahmen des Wiederaufbaus bürgerlicher Gesellschaften in Konflikt- oder Nachkonfliktsituationen und darüber, inwiefern Identität als Paradox und innerhalb von Widersprüchen wachsen kann. Das erinnert mich wiederum an meine zusammen mit Hetti, Cesare und Rosa unternommene Reise in die australische Zentralwüste, in deren Verlauf wir uns in Alice Springs mit Warwick trafen, seinen Geschichten zuhörten, seine Filme ansahen und die zahlreichen offenen Fragen erörterten, die diese Reise nach wie vor aufwirft, Fragen nach einem materiellen beziehungsweise immateriellen Erbe und die Frage, inwieweit man die heutige Praxis von indigenen Menschen aus abgelegenen Gebieten wie Doreen mit dem an Orten wie Kassel bis heute gültigen Kunstbegriff in ein Verhältnis setzen kann.
Natürlich gab es da auch die Momente des Nachdenkens mit Pierre, außerdem weitere Reisen nach Mexiko mit Sofia und nach Asien mit Sunjung, Momente, in denen ich mit Livia in György Lukács’ Haus in Budapest verstaubte Unterlagen durchforstete oder mich mit Koyo und Javier über mauretanische Schiffsfriedhöfe unterhielt. In Chicago traf ich mit Jane, Mike und Madeleine auf Theaster, und weißt Du, dass ich dort mein letztes Notizbuch verlor? Ich bin immer noch betrübt über dieses Missgeschick, denn darin befanden sich meine Aufzeichnungen zu einer Skype-Unterhaltung mit William und Peter über das Thema Zeit und Uhren und darüber, wo das Metaphysische im Physischen zu finden ist. Und dann gab es noch diese großartigen Gespräche, die ich mit Marta in Skandinavien über Sex und über ihren Hund führte – wie er aufgrund der Grenzkontrollen in Norwegen in Como festgehalten wurde, was mich wiederum an unseren kleinen Hund erinnert –, außerdem über Donnas wunderbare Vorträge zu den sich der Koevolution mehrerer Arten und einer entanthropozentrierten kulturellen Praxis verdankenden Möglichkeiten des Denkens (erinnerst Du Dich daran, dass sie schrieb: „Mir gefällt, dass sich das menschliche Genom nur in etwa zehn Prozent aller -Zellen finden lässt, die jenen irdischen Ort bevölkern, den ich als meinen Körper bezeichne“?), worüber ich auch mit Kitty in Banff diskutierte, wo es Bären gibt und ich mich wie an einem Rückzugsort fühlte.
Tatsächlich glaube ich eher an indirekte Handlungen als an eine direkte Intentionalität, wobei der Umgang mit bestimmten Tierarten oder anderen Lebensformen auf diesem Planeten uns viel über unseren Umgang mit den Menschen – uns selbst – verrät (ich muss immer daran denken, dass das Hundemassaker in Istanbul von 1911 – ein Modernisierungsprozess – dem Massaker an den Armeniern nur um wenige Jahre vorausging). Mich interessieren surrealistische Strategien einer künstlerischen Praxis und das Infragestellen der passiv hingenommenen Grenzen menschlichen Handelns; mich interessiert die Arbeit von Künstlern, da sie sowohl für einen bestimmten Bereich (Kunst) spezifisch als auch für jeden (anderen) Bereich nichtspezifisch ist; mich interessiert die Liebe, da im digitalen Zeitalter nur noch wenige gewillt sind, den Preis dafür zu zahlen, dass man sich
im Zustand der Liebe befindet, wie es Etel einmal so klug ausdrückte, als ich sie mit Walid in Beirut traf.
Aber ich schweife schon wieder ab, und ich möchte Dir empfehlen, die Lektüre an dieser Stelle zu unterbrechen, falls Du Dir ein wenig die Füße vertreten oder eine Zeitlang etwas lesen möchtest, was eher nach Deinem Geschmack ist. Wir wissen ja beide, dass wir bald wohl oder übel wieder zusammenfinden werden. Ich möchte Dir gern etwas mehr über die dOCUMENTA (13) erzählen und wie sie zu ihrem provisorischen Titel kam, einem Satz, den ich vor einiger Zeit niederschrieb. Auch wenn ich diesen Satz in schlechtem Deutsch formulierte, bin ich mir sicher, dass Du mir aufgrund der Art und Weise, wie sich das Englische in den vergangenen zehn oder zwanzig Jahren durch das Internet gewandelt und in eine Fülle unterschiedlicher Variationen vervielfacht und verformt hat, mein gebrochenes Deutsch nachsehen wirst.
Der Satz lautet:
Der Tanz war sehr frenetisch, rege, rasselnd, klingend, rollend, verdreht und dauerte eine lange Zeit.
Auf meinen Reisen in und um Kassel herum stieß ich auf ein kleines Kloster aus dem 12. Jahrhundert, das im 19. Jahrhundert als Gefängnis genutzt wurde und auch heute noch ein Ort der Einsamkeit oder doch zumindest des Ausschlusses ist. Von der Mitte der l950er Jahre an bis 1973 diente das Kloster als Erziehungsanstalt für Mädchen und wurde um einen Tanzsaal für die hier verwahrten Frauen erweitert. Das erinnert mich an meinen mit Raimundas und Ruth unternommenen Besuch bei Dixie Evans, die in den l950er Jahren als Marilyn Monroe auftrat, eine wahre Königin der Burlesque, und durch deren Geschichten ich erneut begriff, wie sich Paradigmen wandeln und Dinge von einem Extrem ins andere umschlagen können und inwieweit es sich beim Revival der Burlesque eigenartigerweise um eine heutige Form feministischer Praxis handeln könnte, da hier eine Neuinszenierung des flüchtigen Schleier- und Entschleierungstanzes, des Enthüllens und Verbergens im Zeitalter allzu simpler Ein/Aus- oder Verhüllt/Enthüllt-Dichotomien stattfindet. Der Tanzsaal der Besserungsanstalt bei Kassel erfüllte eine andere Funktion als der Varietésaal in den l950er Jahren, eine Unterhaltungsform, die mit dem Aufkommen des Fernsehens beinahe vollständig verschwand, weil die Menschen aufhörten, abends auszugehen.
Also begann ich, die Bamboule zu recherchieren, einen Sklaventanz, der, interessanterweise in der Folge des erfolgreichen Sklavenaufstandes in Haiti im Jahr 1791, in New Orleans getanzt wurde und der angeblich aus Sorge, er könnte weitere Rebellionen in Nord- und Südamerika befördern, verboten wurde. Dies passierte lange vor Ausbruch des Amerikanischen Bürgerkriegs.
Jener von Beschreibungen der Bamboule im Internet angeregte deutsche Satz stellte einen Versuch meinerseits dar, eine ebenso narrative wie fantasievolle Formulierung zu entwickeln, welche die Vorstellung einer -Abfolge choreografierter Gesten und Bewegungen hervorruft und eine Reihe von Abläufen schildert, die im Gegensatz zu jeder Theorie und jedem Konzept stehen. Diese Formulierung sollte sich faktisch dem Memorieren und der Reduktion auf jene Gemeinplätze widersetzen, welche die Sprache heute prägen. Der Tanz erdet das Subjekt buchstäblich im Hier und Jetzt und erinnert mich an die Verkörperung des Seins, die sich durch Training erreichen lässt. Gleichzeitig fördert der Tanz ein Hinausgehen der Imagination über das Hier und Jetzt und verweist auf einen „anderen“ Ort – irgendwo anders.
Ich verfolge daher nicht ein einzelnes Konzept, sondern beschäftige mich damit, vielfältige Materialien, Methoden und Erkenntnisse zu dirigieren und zu choreografieren. Die dOCUMENTA (13) besteht aus einer Reihe bereits stattfindender künstlerischer Akte und Gesten und aus einer Ausstellung, die vom 9. Juni 2012 an hundert Tage lang geöffnet sein wird.
Die Vorbereitungen zur dOCUMENTA (13) werfen -Fragen der individuellen und kollektiven Emanzipation durch Kunst auf, bei denen eine Reihe von „verschränkten Ontologien“ (wie Chus sie nennt) durchgespielt werden, die paradoxe Voraussetzungen für das moderne Leben und das künstlerische Schaffen liefern. Dazu zählen Teilhabe und Rückzug als simultane Modi heutiger Existenz; Verkörperung (embodiment) und Entkörperlichung (disembodiment) und ihre gegenseitige Abhängigkeit; Verwurzelung und Heimatlosigkeit als doppelte Verfasstheit des Subjekts; Nähe und Distanz und ihre Relativität; Zusammenbruch und Erneuerung, die gleichzeitig oder nacheinander auftreten können; die Flut unkontrollierter Daten und die gleichzeitige Fixierung auf Kontrolle und Organisation; Übersetzung und Unübersetzbarkeit und wie man diese verhandelt; Inklusion und Exklusion und wie diese miteinander zusammenhängen; Zugang und Unzugänglichkeit und ihre Koexistenz; das Anachronistische des eurozentrischen Kunstbegriffs und das paradoxe Aufkommen von Praktiken, die heute weltweit auf diesen Kunstbegriff verweisen; das menschliche Leben und andere Lebensformen angesichts einer gemeinsamen Geschichte wechselseitiger Abhängigkeiten; hoch entwickelte Wissenschaften/Technologien und ihre Verwandtschaft mit alten Traditionen; materielles und immaterielles kulturelles Erbe und seine Verbundenheit mit der zeitgenössischen Kultur; die Spezifität des Künstlerseins und die Nicht-Spezifität künstlerischer Praxis.
Allgemein gesprochen existieren zahlreiche Dinge, die für die heutige Welt unerlässlich sind. Ein klares Gefühl für das Notwendige und die Vermittlung dieses Gefühls an die an einer Ausstellung beteiligten Künstler sind nicht unbedingt dem Ziel eines Projekts dienlich, in dessen Fokus ebendiese Notwendigkeiten zeitgenössischer Kultur stehen, die von Künstler, Kurator und „Publikum“ kollektiv durchgespielt werden.
Zur Bewahrung einer kritischen Haltung gegenüber der „Gegenwart“ müssen wir diese begreifen, indem wir sie in eine Beziehung zu Ideen der jüngeren Vergangenheit setzen. Wie vergeht Zeit, und was ist Zeit im Hinblick auf ihre Wahrnehmung? Die Frage lautet nicht, inwiefern wir die Vergangenheit historisieren, sondern wie Gegenwart in der jüngeren Vergangenheit begriffen wurde und inwiefern dieser Begriff wesentlich im 20. Jahrhundert konstruiert wurde. Ein Rückblick auf die verschiedenen bisher stattgefundenen documenta-Ausstellungen legt eine Verschiebung von einer dia-chronen Bewegung der Kunst hin zu einer synchronen Bewegung der kuratorischen Praxis nahe, von der historischen Selbstpositionierung der experimentellen Avantgarde innerhalb einer vorwärtsgerichteten Bewegung (von einer Generation zur nächsten, von einer Kunstbewegung oder einem Kunstbegriff zur/zum nächsten) hin zu einer Praxis, welche den Zeitaspekt -zugunsten einer geografischen und räumlichen Erweiterung dieses Feldes vernachlässigt (indem Künstler aus verschiedenen Teilen der Welt zusammengebracht werden und zwischen den Geografien agiert wird). Diese Entwicklung verläuft parallel zur steigenden Zahl von Projekten, welche sich mit Konflikten und Ursachen in der ganzen Welt beschäftigen.
Zeit ist gleichermaßen das Problem wie der Rohstoff der documenta. Alle fünf Jahre stattfindend, zeichnet sich die documenta insbesondere durch ihr spezifisches Verhältnis zur Zeit beziehungsweise Zeitdauer aus, die im Gegensatz zur heutigen Geschwindigkeit und kurzen Aufmerksamkeitsspanne steht. Sie folgt einem langsameren Takt als die meisten der weltweit stattfindenden Biennalen und anderen Kunstgroßereignisse. Die documenta-Zeit verläuft nicht in Richtung Effizienz (der Produktionszeit) oder in Richtung der Pseudo-Aktivitäten einer Produktivgesellschaft. Die documenta ist vielleicht an jener Stelle zu verorten, an der die Sprach-Lücken, das Schweigen der Psychoanalyse und die unter Hypnose unausgesprochenen Wörter einen Sinn ergeben. Dieses Schweigen erzeugt Gefühle, mit denen sich der Wirrwarr der Pseudo-Aktivitäten durchbrechen lässt. Sie stellt den konstruierten Strukturen der Aktualität das in ihr verwurzelte Element der Zeitlichkeit gegenüber.
Nach dieser Logik wäre es unter Umständen an der Zeit für eine Überschneidung zweier Standpunkte. Dies ist auf nichtlineare, ungehorsame Weise durch eine rückwärtige oder seitliche zeitliche Erweiterung bei gleichzeitiger Einbeziehung der Verschiebung des Zeitlichen in Richtung Raum möglich. Unsere heutige Zeit besitzt, ähnlich wie die Renaissance mit ihrer Aufgeschlossenheit gegenüber neuen Begegnungen, im selben Maße wie jenes Zeitalter ein Bewusstsein für den Verlust und das Vergangene. Diese Ambivalenz liefert den Schlüssel für das Verständnis sowohl von Reen-actment wie von Reaktualisierung.
Doch es ist schon spät, und ich habe Dir noch nicht von meinem Spaziergang mit Raimundas, Jessica, Ryan, Gerard, Roman und Gabriel im Auepark erzählt, von unserem Gespräch über Giuseppes Bronze-Baum mit Flussstein, über die griechisch-baktrischen polychromen Steinprinzessinnen und darüber, was es bedeutet, wenn Menschen in der Lage sind, die Fragmente dieser winzigen Skulpturen über einen Zeitraum von Tausenden von Jahren von einer Generation zur nächsten zu bewahren. Oder davon, dass es in Mumbai mit Tejal und Nalini zum selben Gespräch kam, abgesehen davon, dass wir außerdem über das Verschwinden der Bienen redeten und darüber, welche Auswirkungen es auf die Nahrung und die Welt hätte, sollte es wirklich jemals dazu kommen.
Wir befinden uns im selben Maße in und zwischen verschiedenen Geografien, wie wir uns in und zwischen den Geschichten befinden, da sowohl Geografie als auch Geschichte niemals eigenständig sind oder waren, sondern sich gegenseitig hervorbringen und einander unablässig umformen. Dies erlaubt eine historische Neukonstruktion von Ereignisketten mittels des Erzählens von Geschichten, wodurch sich Zeit als eine Form des Bewusstseins begreifen lässt. Es überdauern immer Reste einer anderen Zeit, und so ist es möglich, ein lineares, etabliertes Bild der Kunstgeschichte gegen eine nichtlineare, ungehorsame, argumentative und womöglich -widersprüchliche Geschichte der Konsequenzen künstlerischer Handlungen antreten zu lassen. Da es jedoch keine Geschichte aus lediglich einer Perspektive geben kann, kann diese neue Geschichtszeit nur auf den zahlreichen Geschichten von Gesten, Handlungen, Beziehungen und Gesprächen zwischen einzelnen Individuen an verschiedenen miteinander verbundenen oder unverbundenen Orten irgendwo auf der Welt beruhen.
Das bringt mich wiederum darauf, dass ich Dir von den Notizbüchern erzählen muss, die wir veröffentlichen werden. Ja, einhundert kleine Stapel gebundener Blätter unterschiedlichen Formats, die von Bettina sorgsam betreut und zusammengebracht werden. Als Auftakt zur 2012 stattfindenden Ausstellung werden sie ab dem kommenden Jahr, 2011, erscheinen. Das Festhalten von Notizen setzt Zeugenschaft, Aufzeichnen, Aufschreiben und diagrammatisches Denken voraus; es ist spekulativ, drückt einen vorläufigen Augenblick, einen Übergang aus und dient als Gedächtnisstütze oder -spur. Die Publikationsreihe 100 Notizen – 100 Gedanken mit Beiträgen von Autoren aus unterschiedlichen Disziplinen wie Kunst, Naturwissenschaft, Philosophie und Psychologie, Anthropologie, Ökonomie und Politikwissenschaft, Literatur- und Sprachwissenschaft sowie Dichtung konstituiert einen Ort innerhalb der dOCUMENTA (13), an dem untersucht wird, wie Denken entsteht und wie dieses die Grundlage für Neuentwürfe der Welt bildet. Durch seinen ausgesprochenen Sammlungscharakter artikuliert dieses Projekt unablässig die entscheidende Funktion des denkenden Sprechens. Anders als feststehende Aussagen sind Gedanken stets Variationen: Eine Notiz ist eine Spur, ein Wort, eine Zeichnung, die unversehens zum Teil des Denkens wird und sich in eine Idee verwandelt. Wie Chus sagt, wird der Gedanke in diesem Projekt in einem prologartigen Zustand, in einem vor-öffentlichen, intimen, noch-nicht-kritischen Raum präsentiert. Es sei ein wenig wie eine Veröffentlichung des Unveröffentlichbaren, sagt sie, bei der die Stimme und der Leser unser Alibi und unsere Verbündeten sind. Während ich jene letzten Zeilen schreibe, kommt mir der Gedanke, ob ich Dir einige der Autoren nennen sollte – etwa Susan und Emily, Anton, Christoph, Jalal, Mick, Vandana, Ian oder Paul mit Rene und Ayreen.
Aber worüber reden wir hier überhaupt? Wofür könnte das Wort Kunst stellvertretend stehen? Im konventionellen Sinne verwendet, bezeichnet es eine empirische, praktische Form der Erkenntnisbildung durch die Herstellung und Wahrnehmung ästhetischer Objekte, die gleichzeitig Metaphern, Modelle und unmittelbarer Ausdruck der Verfeinerung der Wahrnehmung zu einer Form des Wissens und der Erkenntnis an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit innerhalb einer bestimmten Gesellschaft sind. Daneben beruht die Vorgehensweise der Kunst auf einer Gleichsetzung der Sprache ihrer Untersuchung mit dem Gegenstand ihrer Untersuchung – Glas mit Glas, Sprache mit Sprache, Farbe mit Farbe, Geste mit Gesten, Repräsentation mit Figuration, Politik mit Praxis (oder eher Praxis mit Politik), gesellschaftliche Beziehungen mit Situationen -gesellschaftlicher Interaktion und so weiter. Der hier beschriebene Kunstbegriff ist in Europa allerdings noch verhältnismäßig jung. Im Sinne eines autonomen kulturellen Feldes existiert er hier erst seit dem Aufkommen des Bürgertums zu Beginn des Zeitalters der fossilen Brennstoffe im 18. Jahrhundert, während man im antiken Griechenland hierfür lediglich das Wort techne kannte, das eher mit „Handwerk“ denn mit Kunst, wie ich sie beschreibe, zu übersetzen ist.
Obwohl die Kunst als autonom und unproduktiv definiert wird, wurde sie mit dem Aufkommen der modernen Kunstkritik seit Ende des 19. Jahrhunderts als in gewisser Weise interpretierbar, übersetzbar, analysierbar und sinnträchtig „gedeutet“ und entsprechend instrumentalisiert. Die künstlerischen Avantgarden zu Beginn des 20. Jahrhunderts begriffen Kunst als Experimentierfeld, auf dem sich verschiedene Ideen ohne Anspruch auf konkreten Nutzen erproben ließen, beziehungsweise als einen Bereich, der durch soziales Engagement oder durch eine neue Form des Funktionalismus (Bauhaus) und dessen unmittelbares politisches Potenzial seine Autonomie zugunsten einer Verschmelzung mit dem wirklichem Leben (eine in der Obsession für das „Reale“ begründete Annäherung von Kunst und Leben) lockern und aufgeben sollte.
Andererseits steht die Wissenschaft traditionellerweise für eine Erkenntnisproduktion auf der Grundlage systematischer Methoden. In Naturwissenschaften und Humanwissenschaften unterteilt, verfolgt sie eine konsequente Praxis, die eine Verifizierung und Wiederholung von Experimenten erlaubt, und basiert auf Beobachtung, Hypothese, Vorhersage, Experiment und Schlussfolgerung. In der künstlerischen Praxis ist die Reihenfolge oft eine andere, und es wird allgemein akzeptiert, dass hier kein Experiment zu irgendeinem zwingenden Schluss führt. Mitunter, zumindest gilt dies für den Alchimisten, einen sogenannten vorwissenschaftlichen Forscher, geht die Verwandlung des Ichs mit einer Verwandlung der Welt einher, so dass die Gedanken untrennbar mit den Sinnen verbunden sind, wie Mariana zu sagen pflegt.
Ich bin mir ehrlich gesagt nicht sicher, ob das Feld der Kunst auch im 21. Jahrhundert überdauern wird. Möglicherweise wird es einige Neudefinitionen auf dem Gebiet der Natur- und Humanwissenschaften und ihrer Zwischenbereiche geben, die unter Umständen zu unterschiedlichen Methoden der Organisation von Kultur und Ausstellungen führen. Dies ist gleichermaßen ein Zweifel wie eine Frage, und an dieser Stelle möchte ich von Dir lernen und Deine Meinung hören. Aber habe ich Dir schon von dem Gespräch erzählt, das ich spätnachts in Budapest über Skype mit Ayreen und Rene führte? Über Autorschaft und Anonymität und über ihre Freunde von AND AND AND? Sie erzählten mir, dass es sich hierbei um eine Künstlerinitiative handelt, die aktuell bis ins Jahr 2012 mit einzelnen Personen oder Gruppen weltweit die heute mögliche Funktion der Kunst und die durch sie zu erreichenden Öffentlichkeiten oder Communitys untersucht. Rene und Ayreen teilten mir mit, dass die zahlreichen unter dem Titel AND AND AND zusammengefassten Interventionen, Situationen und Ereignisse inzwischen ein Bestandteil der dOCUMENTA (13) sind und eine Landkarte aus neu entstehenden Positionen, Anliegen und möglichen Punkten der Solidarität bilden.
Heute Abend – aber es ist bereits spät und wir müssen bald Schluss machen – hätte ich mir gerne ein paar Fotos mit Dir angesehen. Zusammengenommen eröffnen sie sowohl unterschiedliche Wahrnehmungsweisen als auch Komplikationen. Weil es so viel zu sagen gab, haben wir uns jedoch die ganze Zeit nur mit Wörtern befasst, aber wir können uns die Bilder vorstellen.
Ich merke, dass dieser Brief schier endlos erscheint und Du wohl einige Zeit brauchen wirst, ihn ganz durchzulesen. Du kannst die Lektüre jederzeit unterbrechen, wenn Du genug hast. Wir stehen vor einer Zeit äußerster Instabilität. Uns wird vermittelt, dass wir uns in einem Zustand der permanenten Krise, in einem Notstand und damit Ausnahmezustand befänden. Seit Anfang der 1990er Jahre hat das Internet unseren Zugang zu Informationen erweitert und so den Meinungsaustausch sowie die digitale Vervollkommnung von Formen kollektiven und geteilten Wissens durch miteinander verbundene Netzwerke und Archive befördert, doch die Bits, Blogs und Zusammenfassungen haben gleichzeitig eine zunehmend indirekte Wissenserfahrung und einen teilweisen Zusammenbruch intellektueller Vorhaben sowie eine Krise bezogen auf Ethik und Verhaltensweisen, Generosität und Integrität zur Folge.
Zwei nur scheinbar in keinem Zusammenhang hierzu stehende Fragen bestimmten in den vergangenen Jahren wesentlich die Diskussion um die zeitgenössische Kunst. Die erste Frage betrifft eine kollaborative künstlerische Praxis beziehungsweise kollektive Handlung, die zweite das Archiv beziehungsweise die Praxis des Archivierens.
In den vergangenen zehn bis fünfzehn Jahren haben digitale Hilfsmittel „molekulare“ Netzwerke hervorgebracht, innerhalb derer die Menschen immer stärker miteinander verbunden und gleichzeitig immer stärker voneinander getrennt sind. Der Zugriff auf Informationen hat sich so beschleunigt, dass noch mehr Informationen verfügbar werden müssen – daher auch jener Zwang, unser gesamtes früheres und aktuelles Leben möglichst lückenlos zu erfassen und abzubilden. Im digitalen Zeitalter werden wir in nie dagewesener Weise von der Vergangenheit heimgesucht, eine praktisch unerschöpfliche Fundgrube für Geschichtsspuren, aus denen möglicherweise Erinnerung (und somit Subjektivität) hervorgeht. Dies hat zu einer neuen Definition des Archivs geführt, das als markierter Speicherort, als vermittelte Sammlung digitalisierter Materialien begriffen wird, die sich aus zweiter Hand und von jedem Ort aus nutzen lassen. Diese digitalen Archive wie Wikipedia und YouTube sind im Hinblick auf einen wachsenden Zugriff kodiert, für den neue Arten der Selbstregulierung und des Wissensaustauschs entwickelt werden. Diese wiederum werden immer mehr zum Ausdruck einer nicht-auktorialen und durch Datenaustausch bestimmten kollektiven Subjektivität (wie es in gewisser Weise auch dieser Brief ist). Zum Aufbau dieser buchstäblich alles umfassenden Archive müssen immer mehr Menschen dazu gebracht werden, kollektiv im Rahmen einer Ökonomie zusammenzuarbeiten, die auf der Grundlage der Erzeugnisse aus dieser immateriellen Arbeit funktioniert.
Um unsere Zeit zu begreifen, muss man über einen archäologischen Ansatz, über das Ausgraben des Geschehenen, mit der Vergangenheit kommunizieren. Was wie eine Arbeit über die Vergangenheit, wie die Lektüre und Zusammenstellung von Archiven zu bestimmten Vorstellen des 20. Jahrhunderts erscheint, kann zu einem hintergründigen Projekt über unsere eigene Zeit und unsere Zukunft werden. So wie bei Picasso, als er wenige Monate nach der Bombardierung Guernicas sein berühmtes Gemälde schuf. Und während man auf der im Sommer 1937 stattfindenden Pariser Weltausstellung, in deren Rahmen das Bild erstmals gezeigt wurde, in all ihrer Zurschaustellung gegensätzlicher nationalistischer Selbstdarstellungen und politischer Ideologien innerhalb der verschiedenen Länderpavillons nichts von den drohenden Schrecken des Zweiten Weltkriegs zu ahnen schien, scheint man in unserer Post-9/l1-Epoche ebenfalls zu einem vollständigen Wahrnehmen, Verstehen und Handeln unfähig zu sein. Trotz aller erdenklichen uns vorliegenden Fakten sind wir offenbar unwissend. Einzelne Ereignisse, die ihren zeitlichen Widerhall in ähnlichen Vorkommnissen finden, lassen sich jedoch durch einen Geschichtenerzähler miteinander verbinden – und so in Beziehung zueinander setzen. Wie in einem Traum verlaufen diese Ereignisse synchron zueinander und treten damit in eine Art kairologische Zeit ein, in der sich Bedeutung verdichtet, der Augenblick auf das Bewusstsein übergreift und sich in ihm ver-festigt. Die autoritäre Sprache ist unidirektional, sie zwingt sich auf. Wir streben nach einer Entwicklung gleichberechtigterer Formen des Austauschs und der Kommunikation, aber selbst diese sind in unserer Zeit der sozialen Netzwerke belastet. Auch das Geschichtenerzählen verläuft unidirektional, bekennt sich allerdings offen dazu, nur eine Deutung oder Verhandlung der Geschichte, eine Möglichkeit von vielen zu sein. Das Erzählen verneint seine faktische Autorität schon aufgrund des Charakters seiner erklärten Fiktionalität. Das Erlernen des Erzählens von Geschichten – in denen menschliche Handlungen wiederholt werden, jedoch stets variierend und übereinandergeschichtet – ist eine Übung, die die Erscheinung vergangener Ereignisse und ihr gleichzeitiges Verschwinden in Projektionen auf die Gegenwart betrifft. Zeit wird zu einer mythischen, nicht-linearen Zeit, wobei die Fähigkeit, eine Geschichte zu erzählen, mit einer ständigen Anpassung an nachfolgende Kontexte, in denen sie auftaucht, verbunden ist.
Daher handelt es sich bei einer Ausstellung weniger um ein vielschichtiges, wiederaufgesuchtes Archiv als vielmehr um einen Ausdruck der Möglichkeit und des Wunsches, ein solches Archiv aufzubauen; es handelt sich hierbei weniger um einen Ort, an dem Gemeinschaftsarbeiten und kollektive Projekte dank gemeinsamer Begegnungen ins Leben gerufen werden, als um einen Ort für Diskussionen darüber, inwiefern und aus welchem Grund – beziehungsweise ob überhaupt – so etwas wie Gemeinschafts- oder kollektive Arbeit heute möglich ist. Als Kontrapunkt zur augenscheinlichen Heterogenität des Versammlungsortes, den wir gemeinsam anlegen werden, konstituiert die Plattform für die im Rahmen der dOCUMENTA (13) eventuell stattfindenden Kundgebungen einen experimentellen Ort kollektiven und anonymen Gemurmels – ein Fest und ein Ort der Inszenierung von Subjektivität, die sich durch Singularität und Pluralität gleichermaßen auszeichnet. Dieser Ort widersetzt sich jeder Entkörperlichung und nutzt die Fragmentierung des Ichs unter Berücksichtigung des Potenzials provisorischer Gruppenbildungen als Mittel gegen ebenjene Fragmentierung selbst.
In einer weiteren Verschiebung und Feier der transformativen Kräfte der Kunst zeichnet sich die dOCUMENTA (13) durch den Glauben an das Potenzial des Reenactment aus, verbunden mit der Hoffnung, dass sich aufgrund der Berücksichtigung zusätzlicher Bedeutungsschichten so etwas wie eine Abschließung verhindern lässt. Da wir uns über den provisorischen, anonymen und häufig unternehmensartigen Charakter von Online-Archiven im Klaren sind, die wie Internet-Suchmaschinen auf Wortsuchen basieren, intervenieren wir auch auf solchen Plattformen und wirken damit potenziell auf sie ein. Wir setzen dem Digitalen das Körperliche entgegen und greifen gleichzeitig in die virtuelle Welt immaterieller Wissensorganisation ein. In der derzeitigen, noch embryonalen historischen Phase des Internets ist es tatsächlich noch möglich, jene imaginären Konstellationen, denen wir unterworfen sind, umzulenken beziehungsweise zu verändern: Das diese Räume umgebende Feld von Informationen ist zu einem wesentlich komplexeren Bewusstseinsraum für die Widersprüche im Hinblick auf Wahrheit, Geschichte(n), die Menschheit und das Leben im Allgemeinen geworden.
Mein Freund, wir müssen schon bald Abschied nehmen. Wie Du siehst, fragst Du mich nach einem Programm, und ich bin kaum in der Lage, Dir einen Affekt oder eine Intention anzubieten: Als ich 2007 über das allgemein zunehmende Interesse an zeitgenössischer und an bildender Kunst im Allgemeinen nachdachte, schrieb ich Dir einen Brief, an den Du Dich vielleicht noch erinnerst und aus dem ich hier zitieren möchte:
Die Frage lautet heute, wie es möglich ist, nicht zeitgenössisch zu sein, kein Festival zu organisieren, nicht zu kommunizieren, kein Wissen zu erzeugen und dabei trotzdem Intelligenz und Liebe zu artikulieren. Für einen heutigen Kurator bedeutet die Ausführung eines Projekts, von Künstlern und anderen Personen zu lernen, wie man diese innerhalb der Ausstellung als Köder ausgelegten Missverständnisse umschifft, wie man mit ihrer Hilfe Orte der Rebellion schafft und inwiefern im Rahmen eines gemeinschaftlichen Zelebrierens Widerspruch, Rückzug oder Aufschub möglich sind.
Ich glaube, ich bin immer noch derselben Auffassung. Ich schreibe nun schon seit Tagen und bin seitdem bereits einmal nach Zentralasien und wieder zurück gereist, und doch habe ich noch so vieles zu sagen, so viele Geschichten zu erzählen, so viele Gedanken niederzuschreiben, die ich alle nur Dir schreiben kann: Ich weiß, dass Du mein Alibi, dass Du mein Grund zu leben, dass Du ich selbst bist. Und dass „ich selbst“ nur Dein blasses Abbild bin, nicht greifbar, unergründlich, einzigartig und chorisch, wunderschön – ein schönes Ding, schrieb ein Dichter einmal über eine Person mit einem blauen Auge, die er gesehen hatte. Ein Quell der Menschlichkeit, der sich in den Text ergießt und ebenso schnell versickert.

Ich freue mich auf unseren künftigen Gedankenaustausch und verspreche Dir, bald wieder zu schreiben.

Carolyn

Wiederabdruck
Dieser Text erschien in: Carolyn Christov-Bakargiev: Brief an einen Freund,
in der Reihe „dOCUMENTA (13): 100 Notes – 100 Thoughts/100 Notizen – 100 Gedanken, #003“, Englisch, Deutsch, Hrsg.: documenta und Museum Friede-ri-cianum Veranstaltungs-GmbH, Kassel, Hatje Cantz Verlag: Ostfildern 2011.

[Dieser Text findet sich im Reader Nr. 1 auf S. 127.]

[Es sind keine weiteren Materialien zu diesem Beitrag hinterlegt.]

Carolyn Christov-Barkargiev

(*1957) ist Kuratorin und Autorin. Sie war künstlerische Leiterin der dOCUMENTA (13) 2012 in Kassel. Zu Beginn ihrer Laufbahn organisierte sie zunächst als freie Kuratorin mehrere internationale Ausstellungen, ehe sie von 1999 bis 2001 als Senior-Kuratorin am P.S. 1 Contemporary Art Center, einer Außenstelle des MoMA in New York, tätig war. Daraufhin folgte von 2002 bis 2008 ein Engagement als Chefkuratorin am Castello di Rivoli in Turin, das sie 2009 zwischenzeitlich als Direktorin leitete. Außerdem fungierte sie 2005 als Co-Kuratorin der ersten Triennale von Turin und im Jahr 2008 als künstlerische Leiterin der 16. Biennale von Sydney.

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